Vielleicht versteht man das Spektakel, das Mailand während des Salone del Mobile erfüllt, wenn man etwas früher anreist. Wenn man aus dem Taxi ins Sägemehl gestolpert ist und auf dem Weg zur ersten Preview den Eindruck nicht los wird, dass zwischen Stazione Centrale und Fiera Rho nach einem einvernehmlichen, unausgesprochenen Plan Kulissen errichtet werden. Bis zur letzten Minute wird gesägt, geschraubt, gehämmert und gestrichen. Just in time werden aus heruntergekommenen Läden elegante Showrooms, aus zugigen Garagen extravagante Pop-up-Stores. In mittelalterlichen Palazzi öffnen sich Türen zu ansonsten verborgenen Etagen und Höfen, und an den etablierten Orten – den Showrooms der großen Marken beispielsweise – spielen verhängte Scheiben noch mit der Neugier der Passanten. Kurz denkt man an Potemkinsche Dörfer und ist doch schon verfangen in einer Welt aus Illusionen, echter Schönheit und aufregendem Neuen. Es bleibt kein Atem holen, kein Gedanke, ob denn diese Inszenierungen allein Verlockungen des Konsums oder doch ein Vorgriff auf gestalterische Hoffnungsträger und paradiesische Produkte sind.
Die Suche nach dem Paradies
Den Glauben an das Paradies haben zumindest die Studierenden des Royal College of Art in London nicht aufgegeben, sondern die Frage danach zur Positionsbestimmung benutzt. „It is better to have your head in the clouds, and you know where you are ... than to breathe the clearer atmosphere below them, and think that you are in paradise", formulierte der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau in der Mitte des 19. Jahrhunderts und lieferte damit die Projektionsfläche für allerlei Experimente an der Grenze zwischen Design und Kunst. In Ventura Lambrate kommt im Vorhof zum „Paradise" zunächst noch vermeintlich Böses zum Zug, denn die Studierenden haben einen Weg gefunden, wie man in Mailand schnell und eigenhändig Geld machen kann.
Als persönliche Statements eines Glaubens an eine bessere Zukunft sind die dreiteiligen Glasgefäße von Pia Wüstenberg, die Keramiken von Camille Flammarion und die Glasobjekte von Kane Cali gelungen. Gleich nebenan geht die Suche nach „Another Terra – Home away from home" weiter. Das Projekt aus dem Turiner „IN Residence"-Programm macht sich mit sechszehn Designern auf die Suche nach Produkten, die sich als Begleiter für eine Reise zu einer „Super-Erde", einem erdähnlichen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems eignen. Die gezeigten Ergebnisse sind zum Glück solide konzeptionell, bisweilen sogar sehr praktisch gedacht wie ein Handtaschen ähnliches, transportables Gewächshaus von Studio Besau-Marguerre aus Hamburg.
„The Machine", eine Designinitiative aus dem belgischen Limburg, bleibt mit ihren Gedankenspielen auf der Erde und fragt nach der Gestaltung einer „neuen industriellen Revolution". Wie verändern (neue) Maschinen unser Leben und beeinflussen zukünftige Gesellschaften? Die Antworten sind zunächst überraschend, aber konsequent gedacht. So wie die „Spider Farm" des Franzosen Thomas Maincent, der in einem industriell konfigurierten Versuchsaufbau Spinnen für die natürliche Produktion von Seide einsetzen möchte. Oder „Haptic Intelligentsia" von Joong Han Lee, eine Art manueller 3-D-Drucker, der die händische Herstellung virtuell generierter Formen durch taktiles Feedback lenkt. Formafantasma forscht mit „Botanica" gar nach Möglichkeiten erdöl-basierte Polymere durch natürliche Alternativen zu ersetzen und dadurch eine „post-industrielle Ästhetik" zu entwickeln.
Zufluchtsorte in Rho
Wer nun glaubt, das Paradies sei angesichts der vielfältig ausgebreiteten Gedanken und Experimente ein leicht bestimmbarer Ort geworden, ist wohl in mehrfacher Hinsicht getäuscht. Im abgelegenen Ventura Lambrate stecken – ähnlich wie vor Jahren in der Zona Tortona – bereits die großen Marken ihre Claims ab, allen voran Ikea, das dort eine temporäre Möbelhalle der eigenen Design-Kollektion PS widmeten. Und weil Messen doch auch Sehnsuchtsorte sind, wo Umsätze und Margen erträumt werden, darf man sich nicht wundern, wenn inmitten der riesigen Hallen in Rho grüne Zufluchtsorte leuchten. Mit Bildern von weißen Stränden, blauen Lagunen und wolkenlosem Himmel füttert Dedon seit Jahren unser Traumweltreservoir und schafft es immer wieder von Neuem, die Spirale des wohlig entspannten Sehnens ein bisschen weiterzudrehen. In schattigen Kojen dem Meer lauschen oder auf bunt geflochtenen Bodenschemeln im Sand schaukeln, so werden Sehnsüchte perfekt bedient.
Dabei müssen es gar nicht immer die großen Wünsche sein, die erfüllt werden; bisweilen reicht es, den kleinen Bedürfnissen Raum zu geben. So wie es Yael Mer & Shay Alkalay von Raw Edges mit der „Deskbox" für Arco getan haben. Der flache Quader an der Wand gibt sich funktional kantig und legt erst bei angemessener Beschäftigung offen, dass der persönliche Schreibkram und selbst kleine Geheimnisse darin gut aufgehoben sind.
Wo die Musik spielt
Auch das Verlangen nach Stühlen scheint ungebrochen, die Liste der Neubesetzungen ist wiederholt lang und in der Auswahl sehenswert: Arper platziert „Juno" von James Irvine und „Saya" von Lievore Altherr Molina; bei Plank setzen „Doty" (Ludovica und Roberto Palomba) und „Blocco" (Naoto Fukasawa) Akzente; „Palio" von Konstantin Grcic tummelt sich an der Schwelle zum tischhohen Sesselchen. Mit dem Stuhl „190" reklamieren Lievore Altherr Molina für Thonet einen „Archetype von heute" – und Jean Nouvel verschafft „Mia" aus der gleichnamigen Kollektion bei Emu einen gradlinigen Auftritt. Die Musik spielt unterdessen bei Interlübke. Wenn die „Musikbox" in Mailand auch mit einem analogen Plattenspieler zu sehen ist, das Herz der Anlage schlägt für die digitalen Musikwelten. Elegant ist das Hi-Fi-Möbel (Werner Aisslinger) allemal und die Zusammenarbeit mit dem Hersteller Linn verspricht einen sauberen Klang.
Um in den Messehallen Entdeckungen auf die Spur zu kommen, muss man die systematische Suche aufgeben und sich ein wenig treiben lassen. Bei Brunner stößt man so auf ein Sitzmöbel „Plot", das sich auf den ersten Blick der Zuordnung zu einer bekannten Kategorie verweigert. Bei diesem Entwurf von Osko+Deichmann liegt die Qualität sicher nicht nur in der Beschäftigung mit dem eigenen Sitzverhalten. Können wir deshalb nicht auch froh sein, wenn Produkte auftauchen, bei denen das simple Schubladendenken – Sofa, Sessel, Chaiselongue – versagt? Walter Knoll verfolgt weiter mit ruhiger Hand den schon früh eingeschlagenen Weg der Konzentration auf wenige, präzise Produkte, was kein Geheimnis ist, aber mit dem „Atelier Chair" wieder eine Entdeckung aus dem poetischen Gedankengut der Designer von „Eoos" ermöglicht.
Gegenwelten an unbekannten Orten
Doch zurück ins eben noch paradiesische Off-Programm, das aber auch die Gegenwelten kennt. „Jekyll and Hyde" hat das neue Label „La Chance" seine erste Kollektion genannt. Die jungen Franzosen Jean-Baptiste Souletie und Louise Breguet glauben an die Rückkehr eines „ungehemmten Luxus" und die Abkehr von „kaltem und konzeptionellen Design". Blitzt hier eine neue Gestaltungsdoktrin auf oder werden lediglich persönliche Vorlieben vorgetragen? Die beiden Unternehmensgründer reklamieren für sich kosmopolitische Erfahrungen und setzen deshalb bei der Auswahl der Designer auf internationalen Background. Luca Nichetto, Jonah Takagi, Charles Kalpakian, Bashko Trybek arbeiten mit ihren Büros an wechselnden Standorten und in unterschiedlichen Ländern, womit multinationale Bezüge schon von Beginn an gesetzt sind. Ein Ansatz, der nicht ganz neu, aber offenbar wirtschaftlich weiterhin vielversprechend ist. Designer aus aller Welt gestalten Produkte für alle Welt. Die in aller Welt, aber vielleicht doch lieber in Europa produziert werden? Die Möbel von „La Chance" haben es jedenfalls in das selbstpropagierte „Epizentrum der frischesten Ideen" geschafft. Das Projekt „Most" wurde von Tom Dixon angezettelt, der mit dem „Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia Leonardo da Vinci" einen wunderbaren neuen Veranstaltungsort in Mailand erschlossen hat. Dampfloks, Schiffe, Flugzeuge und ein U-Boot bilden beeindruckende Kulissen, in den Säulengängen der verschachtelten Innenhöfe finden junge Designer, kleine Labels und allerlei sonstige Versuche ihren Platz, um auf der Welle der Aufmerksamkeit ein paar Tage lang mit zu reiten.
Auf den ersten Blick scheint es denn auch faszinierend, wenn mit einer hochmodernen, computergesteuerten Stanze nach einem unsichtbaren Bauplan die Rohform einfacher Blechstühle herstellt werden. Warum aber steht die Stanze im Museum vor einer Reihe Dampflokomotiven? Welche Analogie soll hier beschworen werden? Soll die vollautomatische Fertigung den aktuellen Endpunkt in der Entwicklung eines industriellen Herstellungsprozesses markieren, der mit der Erfindung der Dampfmaschine begonnen hatte? Oder geht es doch nur um ein „dramatisches Setting", wie es in der Projektbeschreibung heißt? Ob das Technikmuseum jenseits der ersten Überraschung längerfristig zu einem Attraktionspunkt im Mailänder Spektakel werden kann, hängt wohl stark vom zukünftigen Ausstellungskonzept ab. Der Beweis aber, dass es in der Stadt heute immer noch interessante, vielen Messebesuchern unbekannte Orte zu entdecken gibt, ist jedenfalls erbracht.
Faszination zerplatzter Träume
Als ernstzunehmende Spielstätte für unverbrauchte und etablierte Design-Akteure ist der Spazio Rossanna Orlandi im Südosten der Stadt seit Jahren eingeführt. Im Vorderhaus, im Hinterhaus, im Keller, im Durchgang und unter dem Dach werden die Versatzstücke der weltweiten Designmaschinerie ausgebreitet, während im Hof die „Design-Community" eine Portion Pasta genießt. In Ventura Lambrate ist vom Atelier Van Lieshout großes Kriegsgerät in Form einer blau lackierten Kanone im Dienste medialer Aufmerksamkeit aufgefahren, hier sind die Panzer putzig klein und aus Keramik und damit als Geste der Provokation untauglich. Bei Booo zerplatzen die Träume von der perfekten Beleuchtung Stück für Stück im Sinne des Wortes wie Seifenblasen, denn die Designerinnen von Front haben für das niederländische Label eine LED-Leuchte mit einer flüchtigen Hülle aus Seifenblasen entwickelt, die permanent neu entsteht.
Rock, Pop und Wasserdampf
Design ist Hülle, ist Produkt, ist Event, ist Marketing. Die Reihenfolge ist nicht vorgegeben, bringt uns aber zurück in die Showrooms im Herzen der Stadt, denn dort agieren die erfolgreichen Ensembles, geben die großen Marken den Ton an. Hier lernt die Möbel- von der Modeindustrie, und so ist es nur schlüssig, dass Kvadrat mit seiner Inszenierung zu „Hallingdal 65" bei Jil Sander Platz gefunden hat.
Große Shows lieferten auch Flos zum 50-jährigen Firmenjubiläum im Palazzo della Permanente und Moroso mit der Inszenierung „The way of the water dragon" des chinesischen Architekten Zhang Ke zum 60-jährigen Bestehen. Und bei Edra wurden Sessel aus 25 Jahren aufs Podest gestellt. Wer über viele Jahre konsequent und aufrichtig gute, manchmal sogar phantastische Produkte auf den Markt gebracht hat, der kann eben bei solchen Jubiläen mit ruhigem Gewissen zurückschauen.
Bei Kartell, wo das Spiel mit der Popkultur eigentlich seit der Gründung beherrscht wird, sollte in diesem Jahr ein Seitensprung die Aufmerksamkeit fesseln. Rock statt Pop, ein Schallplattenmotiv als Einladung, Philippe Starcks „Mademoiselle" interpretiert von Lenny Kravitz. Ja, so bringt man Leute vor den Showroom. Für das Marketing ein klarer Erfolg, alle anderen genossen die bekannte Substanz auf dem Messestand unter dem Titel „Work in Project".
Und wenn man zwischen den Showrooms im Norden, Osten, Süden und Westen den Eindruck hatte, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen, konnte es durchaus sein, dass man in der Pelota-Halle gelandet war. Gelegen im feineren Bezirk Brera hat die ehemalige Sporthalle ihre Funktion zwar längst abgelegt, ihren Charme als Spielort aber bewahrt. Im temporären Birkenhain stehen Produkte auf vier Lichtungen. „Raw and delicate" nennen die fünfzig österreichischen Protagonisten ihre gemeinschaftliche Inszenierung, eine geschmackvolle Melange aus den Bereichen Möbel, Tableware, Licht und Outdoor. Für ein Schmunzeln, aber auch einen Denkanstoß zum Wechselspiel zwischen Industrieproduktion und Do-it-yourself sorgen Beiträge wie „Love me Bender", eine skurrile Maschinerie zum eigenhändigen Biegen von Holz durch Dampf aus dem Wasserkessel auf der Herdplatte.
So ist Mailand während des Salone de Mobile: große Bühne und Amateurtheater, Zeitmaschine, Rummelplatz, Sprungbrett und Versuchslabor. In diesem Wechselbad der Eindrücke begreift man, dass Design längst alltäglich geworden, in höchster Qualität aber immer noch schwer zu finden, dann aber überwältigend aufregend ist.