„Ich liebe die Welt der Imagination, ich liebe sie aber umso mehr, wenn sie von einem Sinn fürs Praktische durchdrungen ist.“ Ronan Bouroullec
„Ich betrachte die Welt um uns herum eher wie einen Dschungel als wie einen konstruierten Raum. Ich mag Vielfalt und Überraschungen, mir gefällt die Vorstellung, diesen Dschungel mit ungewöhnlichen Tieren zu bevölkern, eine Überraschung zu kreieren, einen Charakter zu suchen, der sich unterscheidet und obendrein elegant ist.“ Erwan Bouroulec
Ronan Bouroullec, geboren 1971 in Quimper, ist ein Beweis dafür, dass Kunst und Fußball wahrlich keine Gegensätze sein müssen. Als kleiner Junge jagte er den Ball ebenso gern in die Maschen des Tornetzes wie er im Kunstkurs seiner Schule leidenschaftlich mit dem Bleistift feine Linien zeichnete.
Von den sportlichen Ambitionen seines fünf Jahre jüngeren Bruders Erwan ist nichts bekannt. Doch auch er hat schon immer gern gezeichnet. Erwan ist also keineswegs weniger kunstaffin als Ronan. Vielleicht war es für den später Geborenen leichter, zielstrebig zu sein, jedenfalls war er gut in Mathematik und Physik, saß gern vor dem Computer, hat aber auch immer irgendwelche Dinge gebastelt. Später faszinierten ihn die Kraft der Leere und die über ihre eigene Dinglichkeit hinausweisende Materialität der Werke der Minimal Art und die repetitiven Klänge der Minimal Music.
Dass man für gewöhnlich sagen hört, Ronan sei der Künstlertyp und das Zeichentalent, Erwan hingegen der Material- und Technikexperte, ignoriert, wie vielfältig und komplex die Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben beider sind. Wie dem auch sei, heute sind die beiden Brüder Ronan und Erwan Bouroullec im Möbeldesign und seinen angrenzenden Bereichen als Gestalter begehrter denn je. Und so ist es schon etwas verwunderlich, dass die Zeitschrift „A&W – Architektur und Wohnen“ ihnen erst jetzt, 2013, den Titel „Designer des Jahres“ verleiht.
Woran aber liegt es, dass die Arbeiten der Bouroullecs so gut ankommen? Eine erste Spur findet man, wenn man sich überlegt, weshalb die aus hartem, bretonischem Holz geschnitzten Designer beispielsweise ihren eleganten, zuweilen extravaganten Landsmann Philippe Starck in wenigen Jahren in der Gunst von Herstellern und Nutzern überrundet haben. Ein Grund liegt wohl darin, dass Starck eher das höfisch geprägte Frankreich repräsentiert, die Bouroullecs hingegen „la France rurale“, das bodenständige Frankreich der Regionen.
Objekte voller Grazie
Ganz so einfach ist die Sache aber nicht, sind all die Produkte, die Ronan und Erwan in den vergangenen Jahren geschaffen haben, doch keineswegs und allein von natürlich anmutenden Formen, also von einer gewissen Natürlichkeit getragen. Zumal nichts, was sie gestalten, roh oder gar unkultiviert wirkt. Im Gegenteil. Die Dinge, die sie entwerfen, haben ihre eigene Strenge, sie sind durchaus geschmeidig, oft von schlichter, beeindruckender und beständiger Eleganz. Wobei es sich freilich um eine Eleganz handelt, die ohne jeden Hauch von Ironie oder Morbidität auftritt, mithin um eine Eleganz, die nicht aus einer Idee oder einer alles umgreifenden Kultur entsteht, sondern aus dem Material, aus dem Zweck und aus einem dem natürlichen Wachsen verwandten Prozess entsteht. Heraus kommen sämtlich originäre Dinge – ein Sofa, ein Stuhl, ein Teppich, ein Raumteiler – von je eigenem Charakter. Vielleicht sollte man präziser sagen: Die Arbeiten der Gebrüder Bouroullec treten unprätentiös und mit großer Selbstverständlichkeit auf, weil sie weniger von ihrer Eleganz als von ihrer Grazie geprägt sind.
Dialektik der Verbindung
Hinzu kommt, dass in allen Arbeiten der Bouroullecs ein besonderer Sinn für Übergänge und Verbindungen zu erkennen ist. Das gilt in gleicher Weise für die modularen Systeme „Algues“ und „Clouds“ wie für die „Rocs“ oder den Stuhl „Steelwood“. Entscheidend ist, dass die Verbindung bewusst mitgestaltet wird und in ihr eine Art von Dialektik erkennbar bleibt, in der die Gegensätze offenkundig werden, ohne dass zwischen ihnen vermittelt würde.
Nichts wird versteckt, jedes Element der Konstruktion bleibt sichtbar und prägt den Gesamteindruck mit. Die meisten Arbeiten der Bouroullecs sind in gleicher Weise von einem mimetischen Impuls getragen, vom Nachklang einer Naturform geprägt wie vom Willen zur Konstruktion. Die „Rocs“ etwa stellen mit ihren die Teile verbindenden Rippen und Graten geradezu aus, wie sehr „physis“ und „techné“, Körper und Ding, Gestalt und Konstruktion einander bedingen. So wirken die – zudem „weichen“ – Steine auf den ersten Blick wie exemplarische Hervorbringungen einer zweiten Natur, die von der ersten abstrahiert, damit sie deren Quintessenz umso prägnanter herausstellen kann.
Sind es bei „Steelwood“ die Materialien Holz und Metall, die wie industrielles Halbzeug sichtbar einander gegenübergestellt und konstruktiv miteinander gekoppelt werden, so kehren in den zusammensteckbaren Modulen Gewachsenes und florale Motive in einer abstrahierten und durchaus technisierten Gestalt wieder. „Algues“ etwa ist Modul und Muster zugleich, standardisiertes Element und wuchernde Struktur. Ähnliches gilt für die „Clouds“, auch wenn der Naturbezug hier deutlicher hinter der technoiden Binnenform zurücktritt.
Die Teile und das Ganze
Ganz gleich, ob es sich um Wolken, Algen oder Steine handelt, sie bestehen aus einzelnen Teilen, die nicht von selbst ein Ganzes bilden. Die Gebilde liegen nicht fertig gemacht vor, sondern erfordern Mithilfe. Erst die Partizipation vollendet, was angelegt ist. Lebt ein Puzzle davon, dass das Ganze, das in seinen Einzelteilen vorliegt, im Voraus festgelegt ist, so verhält es sich bei den Modulen der Bouroullecs gerade umgekehrt. Hier bestimmt das Ganze nicht die Zusammensetzung der Teile. Das Muster, das aus zahllosen Elementen entsteht, verdankt sich zwar einer vorgegebenen Logik oder Methode des Verknüpfens, ist aber in seiner konkreten Gestalt nicht determiniert. Was im Kleinen angelegt ist, bildet im Großen seinen eigenen Rhythmus. Dieser strukturiert einen Raum, teilt ihn und grenzt ihn ab, verbindet ihn in seiner Abteilung aber auch und macht ihn allererst auf lebendige Weise wahrnehmbar. So überwiegt in diesen Systemen die Freiheit erproben zu können, was aus – standardisierten – Teilen entstehen kann.
Die Freiheit, sich überraschen zu lassen
Womöglich liegt hier das Zentrum des gestalterischen Prozesses und eines der Geheimnisse des Erfolges der Bouroullecs: Was immer sie gestalten, entsteht im Geiste einer Freiheit, die es dem Nutzer überlässt, aus dem, was sie anbieten, etwas Unvorhergesehenes und Überraschendes entstehen zu lassen. Festlegungen, gar Kontrolle, sind nicht ihre Sache. Selbst wo sie auf „Systeme“ setzen, erwächst aus diesen ein Spielraum voller Möglichkeiten. Mitten im Dschungel des Ungestalteten legen sie einen Garten an. Das gilt für die Module ebenso wie für „Self Shelf“ oder „Zip Carpet“, ja auch für eines ihrer jüngsten Produkte, die „Workbays“ fürs Büro.
Oft verbindet sich dieser Geist der Freiheit, der offenhält, statt festzulegen, mit Anklängen ans Provisorische und Nomadische. So erinnern die temporären Gehäuse oder Unterstände, die Ronan und Erwan Bouroullec realisiert haben – Textile Pavillon, Mudam, 2006; The Stitch Room Installation, Vitra Design Museum, 2007 –, nicht zufällig an Jurten und nomadische Gehäuse.
Die Digitalisierung des Gewachsenen
An der „Facett Collection“, um nur ein Beispiel zu nennen, lässt sich zugleich die Kraft zur Transformation ablesen, mit der die Bouroullecs Fragmente und Muster aus der Natur aufgreifen und diese mittels einer Präzisierung und Digitalisierung des Gewachsenen und Gewordenen so lange klären und vereinfachen, bis etwas Neues, Eigenständiges entsteht. So ist das Sofa „Ploum“ eben auch ein Einzeller, der im Wohnzimmer herumliegt, damit wir Massenmenschen und soziale Einzeller in unseren Wohnzellen darauf liegen können. Oder, auch hier ist nichts festgelegt, „Ploum“ und auch „Quilt“ sind nichts als große, weiche Steine, auf denen man sitzen kann, freilich Steine, die strukturiert, konstruiert, gemacht sind.
Wenn bei den Bouroullecs aus Blattwerk („Osso Chair“) ebenso ein Stuhl wird wie aus Astgezweig („Vegetal Chair“), so geschieht auch das im bewussten Übergang von der Natur zur Kultur, vom Wachsen zum Herstellen. Und was dabei herauskommt, ist eben nicht naturgetreu, sondern technisch, erscheint nicht romantizistisch verklärt, sondern pragmatisch gelöst. Dass sich diese Passage von der Naturform zur technischen Form nicht dem Zufall verdankt, sondern Programm ist, lässt sich exemplarisch an einem Objekt aus dem Jahr 2006 ablesen: einem Ast samt Rinde, der er in eine hellblau bemalte, exakte metallische Schleife übergeht.
Vielleicht ist es ja das, was die Bouroullecs aus Sicht von Herstellern wie Nutzern gleichermaßen begehrt macht: Dass sie wissen, wie man das Rohe und das Gekochte, Bricollage und technische Perfektion, das Nomadische und das Sesshafte auf subtile Weise aneinander bindet, ohne die weiter bestehenden Gegensätze zu verleugnen. Virtuos beherrschen sie das heitere Spiel mit Natur und Technik, mit den Formen der ersten Natur und deren Wiederkehr in der zweiten, menschengemachten Welt.