Nachhaltigkeit
Bauen mit Zukunft
Rot leuchtet der Geschäftsbericht 2019/2020 der Zumtobel Group: Eine Signalfarbe, die Aufmerksamkeit schaffen soll für die Dringlichkeit der Botschaft ihres Gestalters. Prof. Werner Sobek hat die 29. Edition des Geschäftsberichts zusammen mit büro uebele entworfen, und setzt den Fokus auf die Themen Nachhaltigkeit und Zukunftsverantwortung. 17 Thesen hat der Vorreiter für Nachhaltigkeit in der Bauindustrie formuliert, die einen kritisch-konstruktiven Ausblick in die Zukunft geben sollen:
1. Die Menschheit wächst im Durchschnitt um 2,6 Menschen pro Sekunde.
Dies ist die wohl wichtigste Zahl. Wollten wir den durch dieses Wachstum entstehenden Bedarf an Hochbauten und Infrastruktur auf dem Niveau von Österreich, der Schweiz oder Deutschland befriedigen, dann müssten wir der Erde hierfür pro Jahr circa 40 Milliarden Tonnen Baustoffe entnehmen. Das entspricht dem Volumen einer 30 Zentimeter dicken Wand entlang des rund 40.000 Kilometer langen Äquators. Diese jährlich zu errichtende Wand hätte eine Höhe von etwa 1.300 Meter. Es geht also fortan darum, für mehr Menschen mit weniger Material zu bauen.
2. Die große Tragödie der Menschheit besteht darin, dass CO2 durchsichtig und geruchlos ist.
Das Begreifen des von den Menschen nicht wahrnehmbaren, klimaschädlichen Gases beginnt wohl erst dann, wenn wir vor dessen Auswirkungen stehen. Dann aber ist es zu spät. Wir müssen lernen, das Nicht-Sichtbare, das Nicht-Riechbare zu verstehen, es zu bändigen und zu vermeiden, um seine Auswirkungen so klein wie möglich zu halten.
3. Die Menschheit hat kein Energieproblem. Sie hat ein Emissionsproblem.
Allein die Sonne strahlt über 10.000-mal mehr Energie auf die Erde ein, als die Menschheit für alle ihre Funktionalitäten benötigt. Wir haben also kein Energieproblem. Wir haben ein Emissionsproblem, im Wesentlichen hervorgerufen durch die bei der Verbrennung von fossilen Trägern, Biogas und Holz entstehenden klimaschädlichen Gase. Wir müssen energiepolitische Maßnahmen durch emissionspolitische Maßnahmen ablösen. Die Forderung lautet: Das Freisetzen klimaschädlicher Gase bei Herstellung, Betrieb und Abbau unserer gebauten Umwelt wird verboten.
4. Es ist irreführend, von "erneuerbarer" Energie zu sprechen.
Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden. Sie kann nur von einer Form in andere Formen umgewandelt werden. Wir müssen uns um eine präzise Sprache, ein präzises Beschreiben der Fakten und der zwischen den Fakten bestehenden Zusammenhänge bemühen. Dies ist Grundlage sowohl jedweder Erkenntnismöglichkeit und damit jeder Wissenschaft als auch jedweder Demokratie.
5. Es ist falsch, den Fokus nur auf die Energieeffizienz in der Nutzungsphase zu richten.
Hinter der Forderung nach Energieeffizienz in der Nutzungsphase von Gebäuden steht eigentlich der Wunsch nach einer Absenkung der damit verbundenen Emissionen. Das eigentliche Ziel ist jedoch ein emissionsfreier Betrieb. Dies sollte man dann auch so benennen. Aber: Der Betrieb der Gebäude ist nur ein Teil des Problems. Bei den heute errichteten Gebäuden entstehen circa 50 Prozent der von diesen Gebäuden innerhalb der nächsten 60 Jahre getätigten Emissionen bereits vor dem Einzug. Bei Bauten für die Infrastruktur sind es nahezu 100 Prozent. Diese "grauen Emissionen", entstanden bei der Materialgewinnung, der Komponentenherstellung und der Errichtung von Bauwerken, schädigen die Atmosphäre sofort und in vollem Umfang. Nach den ersten 30 Jahren ist bei Gebäuden der durch sie bewirkte Schaden bereits mehr als 8-mal größer als der durch die Emissionen im Betrieb verursachte Schaden. Wir müssen die Zielrichtungen unseres Handelns bei der Bebauung der Welt ändern. Die Priorität muss auf einer drastischen Reduktion der grauen Emissionen liegen.
6. Das Bauschaffen produziert zu viel gasförmigen Abfall.
Errichtung und Betrieb unserer Gebäude erzeugen circa 35–40 Prozent aller klimaschädlichen Emissionen. Dies entspricht einer Menge von rund 12 Milliarden Tonnen CO2. Pro Jahr. Oder 380 Tonnen CO2 pro Sekunde. Allein bei der Produktion von Zement wird jährlich mehr CO2 emittiert als vom gesamten Weltluftverkehr. Wir müssen alles tun, um die mit der Errichtung, dem Betrieb und dem Rückbau unserer gebauten Umwelt entstehenden Emissionen zu senken – indem wir sie vermeiden oder kompensieren.
7. Wir müssen mit weniger Stahlbeton bauen.
Die Herstellung eines Kubikmeters Stahlbeton geht mit der Emission von etwa 330 Kilogramm CO2 einher. Ein einzelner großer und gesunder Baum benötigt circa zehn Jahre, um diese Menge CO2 zu binden. Wir sollten also zukünftig Stahlbeton deutlich sparsamer und nur noch dort verwenden, wo seine wunderbaren Eigenschaften wirklich benötigt werden.
8. Die Menschheit verfügt über zu wenig Bauholz.
Der Traum, unsere gebaute Welt fortan nahezu ausschließlich aus Holz zu erschaffen, scheitert bereits an der verfügbaren Menge an Bauholz. Würde man alle Wälder der Erde nach modernsten forstwirtschaftlichen Prinzipien bewirtschaften, dann könnte man hieraus ungefähr 12 bis 15 Milliarden Tonnen Bauholz gewinnen. Der tatsächliche Baustoffbedarf liegt aber um ein Mehrfaches höher. Außerdem ist Holz ein Chemiegrundstoff und Grundlage für die Herstellung von Möbeln, Verpackungen oder Papier. Zudem müssen die Ärmsten der Armen nach wie vor mit Holz heizen und kochen. Deutlich mehr mit Holz zu bauen birgt also das Risiko eines weltweiten Verteilungsstreits. Es gilt, in großem Umfang schnell wachsende und für das Bauen nutzbare Hölzer anzupflanzen. Auch wenn diese Wälder erst in Jahrzehnten geerntet werden können – sie sind eine wichtige Investition in die Zukunft. Und sie binden schon jetzt CO2. Aufforstung ist das Gebot der Stunde.
9. Wir brauchen mehr Bäume.
Die infolge natürlicher Prozesse entstehenden CO2-Emissionen betragen derzeit ungefähr 550 Milliarden Tonnen (Gt) pro Jahr. Diese Menge wird von der Natur in etwa der gleichen Größenordnung durch Photosynthese wieder gebunden. Für die durch anthropogene Prozesse entstehenden Emissionen, die derzeit bei circa 32 Gt pro Jahr liegen, fehlt ein natürliches Bindungspotenzial. Um 32 Gt CO2 pro Jahr zu binden, benötigt man etwa 30 Millionen Quadratkilometer Wald. Das entspricht der Fläche eines Quadrats mit 5.400 km Seitenlänge. Diesen Wald gibt es noch nicht. Er muss erst noch wachsen. Mangels Alternativen müssen wir sofort und umfangreich mit dem Pflanzen beginnen – und gleichzeitig die Emission von CO2 vermeiden, wo immer es geht.
10. Die CO2-Bindungskapazität eines einzelnen Baumes wird völlig überschätzt.
Ein großer und gesunder Baum in Europa bindet in der Phase seines stärksten Wachstums im Durchschnitt bis zu 100 Gramm CO2 pro Tag. Um eine Autobahn wie die A8 bei Stuttgart emissionsfrei zu gestalten, müssten pro Kilometer Autobahn mehr als 200.000 derartiger Bäume stehen. Das ist schon räumlich gesehen nicht möglich. Wir müssen also weniger Auto fahren. Wir müssen mit emissionsarmen Autos fahren. Und wir müssen Bäume pflanzen. Jeden Tag.
11. Das Bauschaffen verbraucht zu viele Ressourcen.
Das Bauwesen steht für etwa 60 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs. Würde man jedem Menschen den gebauten Standard der sogenannten Industrieländer zu sprechen – eine Versorgung mit sauberem Trinkwasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Zugang zu Bildung und ärztlicher Versorgung – dann müsste man jetzt, in diesem Augenblick, die gesamte bestehende gebaute Welt noch zwei weitere Mal errichten. Dies würde den Kollaps des Planeten bedeuten. Aber braucht ein Bürger Deutschlands wirklich mehr Straßenfläche als Wohnfläche? Benötigt wirklich jeder 46 Quadratmeter Wohnfläche? Der weltweite Baustoffbedarf ist schon heute zu hoch. Vielerorts steigender Wohlstand sowie eine wachsende Weltbevölkerung werden Baustoffe wie Sand, Zink oder Kupfer für viele unerschwinglich machen. Wir müssen mit viel weniger Material bauen. Und wir müssen so bauen, dass alle Baustoffe später wiederverwendet werden können. Nichts darf verloren gehen, nichts darf vernichtet werden.
12. Die Menschen müssen anders bauen.
Wir können den Ressourcenverbrauch, den Energieverbrauch und die Emissionen im Bauwesen nur dann radikal reduzieren, wenn wir unsere Art zu bauen vollkommen verändern. Ressourcenarmes Bauen bedeutet konsequenten Leichtbau, bedeutet recyclinggerechtes Bauen, bedeutet Bauen mit Rezyklaten. Es bedeutet aber auch, pro Kopf weniger zu bauen. Unsere Gebäude emissionsfrei zu betreiben bedeutet eine völlige Abkehr von bisherigen Konzepten. Und die Emissionen? Warum verleugnen so viele, dass es die grauen Emissionen des Bauwesens sind, die für rund 20 Prozent der Erderwärmung stehen? Sollten wir also nicht endlich eine Bautechnik entwickeln, die sich in den Rahmen des durch die Natur Gegebenen einordnet – anstatt ihn zu sprengen? Eine Bautechnik, die für viele Generationen gültige Lösungen schafft?
13. Bauen ist der Produktionsversuch menschlicher Heimat.
Wir wissen nicht, woher wir kommen, wir wissen nicht, wohin wir gehen. Hier, im Jetzt und Heute, suchen wir Sinn und Geborgenheit. Heimat. Wir suchen eine Heimat, die auch und wesentlich durch die gebaute Umwelt bedingt wird. Gebaute Umwelt, in einem umfassenden architektonischen Verständnis – als visuell wahrnehmbare Welt und als die nicht-visuelle Architektur der Düfte, der Geräusche, der taktilen Empfindungen. Alles zusammen schafft die Voraussetzung für das Entstehen von Heimat. Sollten wir nicht viel mehr Heimat bauen? Für alle. Städte, die gut klingen. Häuser, die gut riechen. Infrastruktur, die man gerne berührt.
14. Die gebaute Welt verlangt eine andere Art von Licht.
In den vor uns stehenden Zeiten schwerer Verwerfungen und großer Erschütterungen gewinnt das Bauen mit Licht eine völlig neue Bedeutung. Das Licht des wärmenden und behütenden Lagerfeuers, das uns seit Anbeginn der Menschheit über die Nacht gerettet hat, diese Lichtstimmung, die tief in uns verankert ist. Ist Licht nicht viel mehr als eine die Arbeitsleistung des Menschen optimierende Beleuchtung? Ist Licht nicht auch Andeutung von Morgen und Abend, von Sicherheit oder drohender Unbill, ist es nicht Chance, weit zu sehen anstatt im Dunkeln zu tappen? Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango. Wir müssen unseren Umgang mit Licht völlig neu denken. Wir müssen beginnen, wieder mit Licht zu bauen.
15. Wohlstand für alle auf dem bisherigen Niveau der Industrieländer ist nicht möglich.
Die Versorgung aller heute Lebenden mit einem baulichen Standard, der ein gesundes und menschenwürdiges Leben ermöglicht, ist nicht möglich. Die Versorgung aller zukünftig neu in unsere Welt hineingeborenen Menschen mit einem solchen baulichen Standard ist ebenso wenig möglich. Dasselbe gilt, auf absehbare Zeit, für den medizinischen und den Ernährungsstandard. Diese Erkenntnis sollte all unser Denken und Handeln bestimmen. Dabei müssen wir stets ehrlich sein: Entweder wir bekennen uns dazu, dass wir bewusst viele dem Siechtum, dem Elend und dem Tod überlassen, oder wir alle ändern unser Leben und unsere Ziele, die wir uns in diesem allzu kurzen irdischen Dasein gesetzt haben – oder gesetzt bekommen haben? Rainer Maria Rilke schrieb: "Du musst dein Leben ändern." Wir alle müssen unser Leben, unsere Ziele in diesem allzu kurzen irdischen Dasein ändern. Wir müssen schreiben, sagen und singen: "Wir alle werden unser Leben ändern."
16. Die große Transformation muss gelingen.
Wir haben maximal bis zum Jahr 2050 Zeit, um die vollständige Reduktion der Emission klimaschädlicher Gase, das Abflachen des Bevölkerungswachstums und die Vollendung einer vollständigen Kreislaufwirtschaft sowie Ernährung, Bildung und medizinische Versorgung für alle sicherzustellen. Das ist die Zeitspanne einer Generation. Wenn wir diese gesamtgesellschaftlich zu erledigende Aufgabe nicht bewältigen, werden die Folgen nicht mehr beherrschbar sein. Die Herausforderungen der kommenden Jahre werden gewaltig sein. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die daraus resultieren, werden grundlegend sein. Aber: Es bleibt kein anderer Weg. Wir müssen all dies für die Kinder von heute und für die späteren Generationen tun. "Einen Olivenbaum pflanzt man für die Enkel", lautet ein altes griechisches Sprichwort. Steckt hierin nicht viel mehr Weisheit, viel mehr Zukunftsverantwortung als in unserem gesamten derzeitigen Wirtschaftssystem? Müssen wir nicht alles tun, um auch den kommenden Generationen ein menschenwürdiges Leben auf Erden zu ermöglichen?
17. Natura mensura est.
Non deus neque hominus neque pecunia mensura sunt. Nicht ein Gott und nicht der Mensch und auch kein Mammon sind für uns das zukünftige Maß der Dinge. Die Erhaltung einer intakten Natur ist oberste Aufgabe, denn ohne eine intakte Natur gibt es keine Grundlage für menschliches Leben. Unser Leben und Handeln muss an einer neuen Angemessenheit und an einer neuen Form der Zuneigung ausgerichtet werden. Zur unbedingten Wertschätzung des Anderen als eines Menschen gleicher Würde treten Wertschätzung und Fürsorge für die Natur hinzu, im Ganzen wie im Einzelnen. Ein Weiter-so-wie-bisher gibt es nicht mehr.
"Die Thesen sind Mahnung, Aufklärung und Perspektive. Sie sollen Bewusstsein schaffen und eine zielgerichtete Diskussion über unsere gemeinsame Zukunft entfachen. Die Monate des Jahres 2020 haben gezeigt, dass wir unsere Zukunft viel bewusster und aktiver als bisher gestalten müssen. Ein konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Leben, Handeln und Wirtschaften sollte, ja muss gesamtgesellschaftliche Leitlinie sein", so Prof. Werner Sobek. Grafisch betont werden diese im durch den Druck in weißer Schrift auf Rot und ein ausklappbares Format. Leicht abstrahierte, dynamische Licht- und Schattenfotografien markieren zudem Auftakt und Abschluss sowie kennzeichnen die Kapitelumbrüche. Ausstattung und Verarbeitung zahlen indes auf das Thema Nachhaltigkeit ein: Die Bindung ist minimal, das Papier ist ungestrichenes Naturpapier aus zertifiziert nachhaltiger Forstwirtschaft und besonders leicht bei hoher haptischer Qualität. Und sollte der Geschäftsbericht einmal ausgedient haben, ist er zu 100 Prozent rückstandsfrei in einem Recyclingkreislauf integrierbar. (am)