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Zero G oder Der Rausch der Schwerelosigkeit
von Thomas Wagner | 14.11.2008

Da steht sie, in goldene Spezialfolie eingewickelt wie eine Reliquie des Raumfahrtzeitalters: die erste Coca-Cola-Flasche, die in den Weltraum - genauer: zur Raumstation MIR - geflogen ist. Ein magisches Objekt des Industriezeitalters und des Wunsches nach einer neuen, extraterrestrischen und planetarischen Perspektive. Angeordnet auf Planetenbahnen finden sich neben der weit gereisten Brauseflasche weitere Objekte einer "Archäologie der Zukunft", deren simple Beschreibungen allein sich schon wie Teile einer fiktiven Liturgie lesen: explodierte Trümmer einer Ariane 5-Rakete, zerborstene Satellitenteile, ein "MIR-Tresor mit einem Kunstblatt auf Weltraumpapier, gestempelt und signiert von dem deutschen Astronauten Ulf Merbold und russischen Kosmonauten", oder "Space-Juwels", geflogen an Bord des Space Shuttle Columbia, "eingebettet in goldbedampfte Satellitenfolie Kapton und Hochtechnologiekleber Stycast: ein Goldnugget aus der Mine der Königin von England", ein "Marmorstück aus dem Badezimmer der Aphrodite" und Kristalle, "gezüchtet in der Schwerelosigkeit".

Aufbruch ins Reich der Schwerelosigkeit

"Zero G", das bedeutet: Null Erdenschwere und totale Schwerelosigkeit. Oder, anders ausgedrückt: Zero G beschreibt den Weg, die Last der Verhältnisse hinter sich lassen und abheben zu können. Hier und jetzt. Der Traum von Freiheit und Entgrenzung, wie ihn in den sechziger und siebziger Jahren viele geträumt haben, hier verschmilzt er mit den Phantasien des technischen Fortschritts und der Kunst. Und Charles Wilp (1932 bis 2005) - Künstler, Designer, Werbemacher und Komponist - machte sich zu seinem Protagonisten. Wilp war ein quecksilbriges Multitalent und "Wunderkind der Werbung", wie ihn der documenta-Macher Harald Szeemann, der ihn zur d 5 holte, genannt hat, das vor Ideen nur so sprühte. Bekannt wurde er in den fünfziger und sechziger Jahren als einer der bestbezahlten Werbefotografen der Welt, dessen Aufnahmen die Titelseiten der großen Magazine zierten. Aber Wilp fotografierte auch seinen Freund Joseph Beuys in Badehose und ohne Hut am kenianischen Strand, wo dieser vergängliche, nur von der Fotografie aufbewahrte Sandzeichnungen anfertigte.

Eine kleine, überaus anregende Retrospektive in der Galerie der Hochschulde der Bildenden Künste Braunschweig, kuratiert von Annette Tietenberg in Zusammenarbeit mit Ingrid Schmidt-Winkeler, der Witwe und Nachlassverwalterin Charles Wilps, und Marie-Luise Heuser, stellt nun den "Artronauten" neben den Werber und Fotografen. Anhand von Skulpturen, Plakaten, Fotografien, Zeichnungen und Werbespots aus vier Jahrzehnten macht die Ausstellung sichtbar, welches immense kreative Potenzial die Erforschung des Weltraums der Kunst und dem Design eröffnet.

Puschkin macht härter

Doch trifft man auch sie wieder, die sprichwörtlich gewordenen Kampagnen. Zu einer Zeit, als es in der Bundesrepublik nur biedere Reklame gibt, schreibt Wilp Werbegeschichte, indem er das Produkt zum Teil eines Mythos und sich selbst zum nicht länger anonymen Autor einer Botschaft macht. Anfang der fünfziger Jahre sucht er den starken Mann und den Bären und findet den Slogan: "Wodka macht hart. Puschkin macht härter." Für VW lässt er 1962 einen Käfer ins Nichts fahren und setzt darunter: "Er läuft ... und läuft ... und läuft." Oder er zeichnet das Heck eines Käfers auf ein Hühnerei und setzt hinzu: "Es gibt Formen, die kann man nicht verbessern."

Vollends zur Legende aber macht ihn 1968 seine Kampagne für ein Getränk, das bis dato nur als klebrige Limonade gilt: Afri-Cola. Mittels lasziver Nonnen, jeder Menge Sexappeal und Flower-Power-Girls verwandelt er die ordinäre Brause in ein berauschendes Kultgetränk, das zum Synonym des Zeitgeists wird: "Sexy-mini-flower-pop-op-cola, alles ist in Afri-Cola".

An Kritikern, auch aus den Reihen der eigenen Branche, hat es dem Visionär, der damals stets in einen knallgelben "Reaktoranzug" herumläuft, nie gefehlt. Er habe immer nur für sich selbst geworben, lautet bis heute der immergleiche Vorwurf. Der Umsatz von Afri-Cola indes stieg mit seiner Hilfe immerhin um 34 Prozent. Nun kann man all das an den Wänden oder in der originalen Sitzgruppe Wilps aus weißem Kunstleder ganz relaxed noch einmal bestaunen.

Schwerelose Sinnlichkeit

Ende der achtziger Jahre tauscht Wilp den kanariengelben Overall des Werbers gegen die hellblaue Montur des Artronauten - auch er ist in der Ausstellung zu besichtigen. „Artronauten", so Wilp, „sind Menschen, die an Bord eines Raumschiffs sind, um den Astronauten und Kosmonauten zu helfen, Dinge zu tun, für die sie keine Zeit haben. Also am Fenster zu sitzen und nachzudenken und neue Impressionen zu schildern, sei es in der philosophischen oder gestalterischen Art. Das ist Space Art." Kurz: der Artronaut holt den von der instrumentellen Vernunft reglementierten Astronauten zurück in die Kultur, ja verwandelt ihn sogar in den Schöpfer einer neuen Kultur der Zukunft.

So bezieht sich Wilp nicht nur in Collagen und Skulpturen auf die Stars und Helden der Raumfahrt, er animiert die Männer des Weltraums dazu, sich als schöpferische Menschen und ihre Reise zu den Sternen als Möglichkeit zur Erweiterung des Horizonts zu begreifen. 380 Mal erlebt er selbst bei Parabelflügen das Gefühl, sich schwerelos über alles Irdische zu erheben. Denn die pure Sinnlichkeit erlebt man in der Schwerelosigkeit, dort, wo Kunst, Wissenschaft und Werbung sich miteinander verbinden.

Pin-ups bei der NASA

Nicht von ungefähr waren es seine Kunstwerke, die erstmals auf eine Weltraummission mitgenommen wurden. Und noch heute hat sein Schaffen Einfluss auf Forschungsprojekte der ESA: So geht das Logo der Rosetta-Mission auf seinen Entwurf zurück. Und was nur wenige wissen: die Bildquelle des Afri-Cola-Werbeplakats fand Wilp auf dem NASA-Gelände in Huntsville. Als er dort durch ein Fenster schaute, an dem sich das Kondenswasser einer Rakete in der Form von Eisblumen niedergeschlagen hatte, sah er zufällig im Spind eines Mitarbeiters Fotos von Pin-up-girls hängen. So entstand die Idee, die unterkühlte Erotik des Weltraumzeitalters in Form von vereisten Glasscheiben in Szene zu setzen, hinter denen sich als laszive Nonnen verkleidete Models dem Betrachter darbieten.

Wilp gelangte schließlich zu der Auffassung, der Weltraum und die Erfahrung der Schwerelosigkeit seien unsere Zukunft und die Space Art die einzig angemessene künstlerische Antwort auf diese Entwicklung: „Die Schwerelosigkeit ist die größte aller Künste."

Das Auratische

Und natürlich würzt Wilp die Werbung mit einer Prise Duchamp, wenn er laszive Bräute ihr Liebesparfüm hinter Glas verströmen lässt, das die Junggesellen und ihr Begehren für immer davon trennt, den versprochenen Rausch auch tatsächlich erleben zu dürfen. Doch darauf kommt es beim Begehren bekanntlich nicht an. Dieses speist sich aus sich selbst, und wer auf Erfüllung der Wunschproduktion pocht, der hat nicht verstanden, worin der Genuss besteht. Ob Rausch, Ekstase oder Schwerelosigkeit, Wilps Vorstellung von Kreativität lässt alle irdischen Lasten hinter sich. Erst wenn der Geist frei ist, wird er die Zukunft gewinnen. Mag dieser auch mit Hilfe der Technik an die Himmelspforte klopfen, es geht darum, hindurchzuschlüpfen. Wie sein Freund Yves Klein, der ihn einmal einen "Prinzen des Raumes" genannt hat, so hat auch Charles Wilp das Wirkliche mit dem Unsichtbaren und das Kreative mit dem Schwerelosen gekoppelt - um zu einer auratischen, luftig-leichten Welterfahrung zu gelangen.

„ZERO G. Der Artronaut Charles Wilp"
bis zum 12. Dezember 2008
Galerieräumen der HBK Braunschweig
Johannes-Selenka-Platz 1, Braunschweig
Mo - So, 13 - 18, Do 13 - 20 Uhr.

Begleitet wird die Ausstellung von einer Filmreihe und der Tagung „Planetarische Perspektiven", die vom 19. bis 21. November 2008 in der Aula der HBK stattfindet.

www.hbk-bs.de
www.kultur-raumfahrt.de