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Wunderbar falsches Horn
von Martina Metzner
09.07.2014

Was wären Hipster ohne Acetat? Hätte der französische Chemiker Paul Schützenberger nicht 1865 Baumwollfasern mit Essigsäureanhydrid versetzt und auf 140 Grad Celsius erhitzt, würde ihnen zumindest die echtes Horn imitierende Brille fehlen, die sie ja als solche charakterisieren soll. Ein paar Jahre nach Schützenbergers Entdeckung und einige chemischen Versuche später – amerikanische und europäische Wissenschaftler stritten sich Anfang des vergangen Jahrhunderts um das Patent –, wurde daraus einer der ersten thermoplastischen Bio-Kunststoffe, der in großen Mengen fabriziert wurde: Celluloseacetat. Das neuartige Material hielt Einzug in die Mode (als Kunstfaser mit seidigem Glanz), in den Film (als Trägermaterial Zelluloid), in den legalen Rauschmittelhandel (als Bestandteil von Zigarettenfiltern) und ins Design, wie der Kunststoff vorwiegend für die Herstellung von Brillengestellen verwendet wurde. Was Brillen angeht, hat sich daran bis heute wenig geändert.

Es waren auch gängige Hornimitatbrillen, die den Anreiz für den jungen französischen Designer Jean Baptiste Fastrez sowie für das Schweizer Designerduo Joséphine Choquet und Virgile Thévoz bildeten, sich mit dem Material auseinanderzusetzen. Fastrez schuf daraus seine „Mask“-Wandspiegel, die von einem stark gemusterten Stück Acetat eingefasst sind und etwas an Voodoo-Masken erinnern. „Mich haben die beiden Pole ,unatürlich, natürlich‘ gereizt“, erzählt Fastrez. „Ein künstliches Material wie Acetat imitiert ein natürliches Material, nämlich Holz beziehungsweise Horn.“ 2012 entdeckte die Pariser Galerie Kreo „Mask“ und Fastrez entwarf weitere Acetatarbeiten. Etwa den niedrigen Kaffeetisch „Stromboli“ mit Glasplatte und einem zylindrischem Fuß aus Actat, aus dem er „Etna“, eine höhere Variante, entwickelte. Für den Sidetable „Totem“ hat Fastrez das Acetat sodann mit eloxiertem Aluminium verbunden. „Totem“, erklärt Fastrez, stelle hinsichtlich der Größe eines Möbels das Maximum dessen dar, was mit Acetat realisierbar sei.

„Acetat ist ein faszinierendes Material, es ist zugleich kitschig und zeitgenössisch“, sagt Joséphine Choquet, die mit ihrem Geschäftspartner Virgile Thévoz – beide sind von der ECAL Lausanne – Acetat für eine Brillenkollektion, aber auch für Leuchten eingesetzt hat. Choquet entdeckte das Material während ihrer Diplomarbeit, in der sie die Arbeit früherer Brillenmacher untersuchte, die zunächst unterschiedliche Acetatmuster unter Licht begutachteten, bevor sie diese miteinander kombinierten. Es folgte eine erste Brillenkollektion mit dem verheißungsvollen Titel „Copacabana“, die 2013 auf den Design Days in Genf und 2014 auch beim Salone Satellite in Mailand 2014 vorgestellt wurde. Dagegen seien die Leuchten „Acapulco“ – Leuchtstoffröhren, die von schlanken und schlichten Fassungen aus Acetat getragen werden – deutlich radikaler, sagt Choquet. Die schroffe geometrische Sprache stehe im Kontrast zum Acetat. Für beide Kollektionen sucht Choquet noch einen Hersteller.

Dass ausgerechnet Acetat in den Blick junger Designer gerückt ist, ihm womöglich eine Karriere in einem dem Brillengeschäft benachbarten Produktbereich bevorsteht, lässt ein wenig schmunzeln, liegt aber auch auf der Hand: Das Materials verströmt einen Hauch von „Retro“, erinnert eben an die guten alten Zeiten, in denen Horn für Brillen und Etuis teilweise noch aus den Kolonien importiert wurde. Darüber hinaus besitzt es einzigartige optische Qualitäten: Es erscheint leicht transparent und wenn man möchte, lassen sich auch wilde Muster erzielen. Und überdies lässt es sich durch Erhitzen – wir kennen das vom Optiker – leicht verformen. Sein Einsatz hat aber auch Grenzen: Industriell gefertigte Platten werden derzeit in einer Größe von maximal 60 mal 140 Zentimeter hergestellt – für gewöhnlich in einer Dicke von unter einem Zentimeter, seltener in Stärken bis maximal fünf Zentimeter. Darüberhinaus wird es schwierig mit der Stabilität. Auch Kombinationen mit anderen Materialien wie Metall gelingen nicht ohne Probleme, da Acetat bei Temperaturschwankungen stark arbeitet.

Auch bei „Mazzuchelli 1849“, einem der weltweit größten Hersteller von Celluloseacetaten mit insgesamt 1000 Mitarbeitern in Italien und China, der mit Brillenherstellern wie Luxottica und Safilo zusammenarbeitet, lässt sich die neue Lust auf Acetat feststellen. Natürlich, erklärt Brustio Corrado, Manager für Marketing und Business Development, liege das Hauptgeschäft mit etwa 70 Prozent nach wie vor im Bereich von Brillen. Immerhin aber gingen bereits rund zehn Prozent der Produktion auf das Konto von Produkten des Interior Designs. Der Rest verteilt sich auf Bereiche wie Musikinstrumente, etwa Schlagzeuge und E-Gitarren. Mazzuchelli 1849 hat 300 verschiedene Acetate in seinem Portfolio, gegliedert nach Mustersegmenten wie „Art Print“, „Horn/Wood“, „Havanas“, „Multilayer“ oder „Fantasy“. Besonders die Nachfrage nach klassischen Acetat-Mustern wie Schildpatt und Horn, so Corrado, sei in den vergangenen vier Jahren deutlich gestiegen.

Ob wir also bald Stühle, Tische oder Leuchten aus gemustertem Kunststoff in unsere Zimmer holen werden? Wohl Kaum. Acetat wird ein Material bleiben, das im Produkt-Design dann besonders interessant wird, wenn es um eher kleine, aber edle Objekte geht. Nicht von ungefähr fertigt Montblanc seine Füllfederhalter aus Acetat. Zumal Acetat ein teurer Kunststoff ist: Eine etwa 0,5 Zentimeter dicke Platte mit den Maßen 60 auf 140 Zentimeter kostet bei Mazzuchelli 1849 zwischen 150 und 300 Euro. Dafür weiß das Material mit seinen Hell-Dunkel-Kontrasten schon auf den ersten Blick zu verzaubern. Wie Choquet richtig sagt: Es changiert zwischen Kitsch und Klassik, Party und Piano.

www.jeanbaptistefastrez.com
www.josephinechoquet.ch
www.virgilethevoz.ch
www.mazzucchelli1849.it

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