Seien wir ehrlich: Trotz einiger Showcars mit futuristisch wirkendem Interieur bewegt sich die Gestaltung der Innenräume von Automobilen im Rahmen des Üblichen. Ob Hartplastik, Edelholz oder Carbon-Optik, das automobile Innenleben ist weitgehend bestimmt von der Funktionalität des Cockpits, von einer Ästhetik der Technik und der Geschwindigkeit, von Instrumenten, Ablagen, allerlei Gadgets - der obligatorische Monitor bekommt im Armaturenbrett seine eigene Mütze - sowie mehr oder weniger bequemen Sitzen mit mehr oder weniger Seitenhalt. Und über all dem der immergleiche Himmel oder das große Glasdach.
Es war, so wie die Dinge liegen, also höchste Zeit, nach Alternativen Ausschau zu halten. Also haben sich BMW, die dänische Textilmanufaktur Kvadrat und der Leuchtenhersteller Flos mit den Designern Patricia Urquiola und Giulio Ridolfo zusammengetan, um etwas ganz anderes zu probieren. Entstanden war die Idee, als Adrian van Hooydonk, der Chefdesigner von BMW, der seit langem ein Bewunderer der Kvadrat-Kollektionen ist, den Kvadrat-Chef Anders Byriel auf einer Messe traf und spontan ein gemeinsames Projekt vorschlug. Das Ergebnis wurde nun in Mailand zum Salone del Mobile 2010 unter Titel „The Dwelling Lab" vorgestellt.
Das Äußere des Autos, eines BMW 5er Gran Turismo, war - für manche ein Glück - fast nicht mehr zu sehen. Mittels großer, auf die von ihren Türen befreite Karosserie aufgesetzter Trichter, wurde die äußere Erscheinung des Gefährts weitgehend ausgeblendet und der Blick ganz auf den Innenraum gelenkt. Wobei in den Trichtern, als sei das Innere nach Außen gestülpt worden, farblich harmonisiert, zu sehen war, was man beim Reisen im Auto so alles dabei hat. Urquiola und Ridolfo haben das Grundkonzept eines luxuriösen Interieurs aber nicht nur in eine Design-Skulptur verwandelt, sondern - unter Beibehaltung der vorhandenen Grundstruktur - dem Innenraum einen völlig neuen Charakter verliehen. Kvadrat, bislang kein Zulieferer der Autoindustrie, hat zu diesem Zweck einen Stoff entwickelt, der den besonderen Ansprüchen des Automobilbaus gerecht werden und gleichzeitig die unverkennbare Handschrift von Kvadrat tragen soll. Der Gran Turismo, so Hooydonk, „wurde von innen nach außen entwickelt. ´The Dwelling Lab´ gibt zum ersten Mal die Möglichkeit, den Innenraum des Fahrzeugs noch vor dem Exterieur zu sehen. Die Skulptur betont die wachsende Bedeutung des Interieurdesigns, das sich immer stärker nach den Menschen mit ihren Bedürfnissen und Wünschen ausrichtet. Es ist der zeitgemäße Ausdruck von Wohlgefühl - mit Stil behütet und verwöhnt zu werden."
Mit seinen Rundungen, Taschen und Täschchen, mag Patricia Urquiolas sand- oder puderfarbener Verwöhnraum etwas überladen wirken. Doch gelingt es ihr, den Innenraum auf neue Art wahrzunehmen und eine ganz eigene Atmosphäre zu schaffen. Und so führt dieses Labor einer mobilen Behausung denn auch auf überraschende Weise vor, wie Stoffe auf innovative Weise in das Interieurdesign von Automobilen einbezogen werden können und dadurch ein Innenraum entsteht, der mehr mit dem Ambiente der eigenen Vierwände als mit der funktionalen Neutralität eines Autos zu tun hat.
Fließende Formen, zahllose Accessoires, aufgestickte, einem Quilt ähnelnde Muster, weiche, knochenförmig um die Kopfstützen gelegte Schlafkissen, ein eigener Kindersitz und Halterungen für Babyflasche und Spielzeug, jede Menge Fächer und Taschen, eine ebenfalls auf eine „weiche" Gesamtbeleuchtung abgestimmtes Lichtkonzept sowie eine Miniaturausgabe von Urquiolas 2009 für Flos entwickelte Leuchte „Chasen" als Leselampe, all das schafft in der Summe ein Ambiente, in dem die Funktionalität gleichsam aufgeweicht oder mittels „softer" Formen und einer an Naturmaterialien erinnernden Farbigkeit - die Giulio Ridolfo beigesteuert hat - in den Hintergrund geschoben wird. Eben: Unkonventionelles zum Verhältnis von Innen und Außen. Und ein spannender Blick darauf, dass der Innenraum eines Autos auch ganz anders sein könnte.