Vertikales Wohnen in Amsterdam
In ganzer Linie präzise, so könnte man diese beiden Wohnhäuser in Amsterdam beschreiben. Doch sind es nicht nur die stimmigen Proportionen und klare Kanten, die den Architekturen ihr Selbstbewusstsein verleihen, sondern auch die schlichte Materialehrlichkeit. "Beton bleibt bei uns Beton", unterstreicht der Architekt Jeroen Spee, einer der beiden Gründer von Studio Prototype. "Und zwar pur." Als er und sein Partner Jeroen Steenvoorden 2006 an der TU Delft ihren Abschluss machten, wehte immer noch etwas Superdutch durchs Land. Doch die jungen Architekten entdeckten damals schnell, dass bei zahlreichen Großprojekten die gefeierte Architektur oft keinem zweiten Blick standhielt. "Ich war so enttäuscht von der Ausführungsqualität, dass ich mir deshalb vorgenommen habe, es später genau anders zu machen", sagt Spee: "Wir wollen lieber überschaubare Projekte bauen, aber dafür welche von extrem hoher Qualität."
Anders als die Helden des Superdutch beginnen sie jedes Projekt mit seiner Materialität, um daraus eine starke Identität zu entwickeln, und arbeiten erst in einer späteren Phase konkret am Grundriss. Glas, Beton, Aluminium und Zink: "Form Follows Material" lautet die Philosophie des Amsterdamer Architekturbüros. Aktuell haben sie ihren ersten Bauauftrag außerhalb der Niederlande erhalten – im niedersächsischen Wolfsburg. Die beiden Wohnungsbauten in Amsterdam sind private Aufträge, mit deren Entwurf das Büro jeweils 2015 betraut wurde. Erst ein Jahr zuvor debütierte Studio Prototype mit der Villa Schoorl, die für die niederländischen Newcomer zum Durchbruch wurde.
Das Mehrfamilienwohnhaus Vertical Lofts mit seinen neun Einheiten im neuen Stadtteil Amstelkwartier zeigt zwei Gesichter: Nach vorne eine stringente, warmgraue Sichtbetonfassade mit texturierten Pfeilern, die sich jeweils über zwei Geschosse ziehen.Sie bestehen aus vorgefertigten Betonelementen, die mit einer Spezialschalung aus sägerauen Holzbrettern extra für das Projekt hergestellt wurden. Das Zusammenspiel aus groben Betontexturen und glatt bearbeiteten Oberflächen soll die Materialität noch einmal mehr betonen. Der Clou befindet sich aber auf der Rückseite, wo die Architekten das Problem der Erschließung lösen. Während Lift und Installationsschacht innerhalb der schmalen Grundrisse jeweils mittig angelegt sind, schieben sich die Treppenhäuser zur hinteren Fassade. So entsteht einerseits mehr Wohnfläche, wobei innerhalb der einzelnen Loft-Einheiten Wandmodule eine flexible Raumaufteilung ermöglichen. Andererseits bekommen die Bewohner bewohnbare Treppenräume mit Ausblick. Davor sind die Balkone platziert.
Ebenso wie bei den Vertical Lofts spielt auch beim Quay House im Stadtteil IJburg die Vertikale eine elementare Rolle. Das Licht sollte hier einen eigenen Raum bekommen. Für ihr dreigeschossiges Reihenhaus wünschte sich die Bauherrenfamilie ein Treppenhaus, das keine Standardlösung sein sollte. Als massives Volumen durchdringen die Treppenelemente nun das zentrale Atrium vom Erd- hoch bis ins Dachgeschoss. Je nach Tages- und Jahreszeit verlaufen die Licht- und Schattenspiele auf den glatten Sichtbetonwänden. Für die Bauherren, die den Neubau 2018 bezogen haben, stecke das Haus immer noch voller Überraschungen, erzählen die Architekten. Jeder Tag im Quay House sei für sie ein neuer Tag. Ein gutes Gebäude ist eben mehr als die Summe seiner Teile.
Auch die 2019 fertiggestellten Vertical Lofts sind fast alle bezogen. In einem Apartment werden noch letzte Handgriffe im Innenausbau ausgeführt. Entstehen konnte das Wohnungsbauprojekt, das gerade als Residential Building of the Year bei den Architectenweb Awards 2019 nominiert wurde, weil drei Eigentümer ihre Grundstücke zusammengelegt haben: ein kluger Zug. "Das Haus sieht auf den ersten Blick vielleicht aus wie ein großes Projekt eines Investors", meint Jeroen Spee. "Aber es ist im Grunde eine Baugruppe: ein Real Estate-Kollektiv."