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Intuitiv wohlfühlen

Wie bringt Wilkhahn dem Sitzen das Laufen bei? Und welche Vorteile hat das Bewegungssitzen für die Gesundheit des Menschen, wie die effiziente Ausstattung eines Büros oder Homeoffice? Carsten Gehner, Leitung Produktvorentwicklung, im Interview.
14.10.2024

Anna Moldenhauer: Welche Besonderheiten bringt die Entwicklung eines Drehstuhls mit Bewegungsförderung generell mit sich?

Carsten Gehner: Im Zentrum steht die Balance zwischen Agilität und Sicherheitsempfinden sowie die NutzerInnen am Arbeitsplatz in Bewegung zu versetzen. Stillsitzen ist quasi das neue Rauchen. Der Haltungswechsel muss über natürliche Bewegungsimpulse intuitiv geschehen, ohne dass man darüber nachdenkt oder daran erinnert werden muss. Auf einem Sitzball beispielsweise entsteht keine intuitive Bewegung, denn das Sitzen darauf erfordert eine hohe Konzentration. Aus unserer Zusammenarbeit mit Ingo Froböse, Spezialist für Prävention und Rehabilitation, Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln und Leiter des Zentrums für Gesundheit, konnten wir viele Erkenntnisse gewinnen, die nun in unsere Produktentwicklung einfließen. Das Ziel ist eine Gestaltung anzubieten, die auf den Körper abgestimmt ist und präventiv gegen Verkrampfungen und Verspannungen wirkt. Unsere Trimensions-Stühle bieten eine "Körper-Ähnlichkeit" in der kinematischen Konstellation, die dazu führt, dass die Bewegungen körpergerecht die NutzerInnen begleiten.

Wie funktioniert die dreidimensionale Mechanik "Trimension" von Wilkhahn?

Carsten Gehner: Die Mechanik bildet den Aufbau des Körpers nach mit zwei Kniegelenken vorne und zwei Hüftgelenken hinten. Man könnte sagen wir haben "dem Sitzen das Laufen" beigebracht. Das Ziel damals: Die Synchronmechanik, die es bis dato erlaubt hatte, den Stuhl vor- und zurückzulehnen und ein wichtiger Meilenstein war, sollte in eine Dreidimensionalität gebracht werden. Im Grunde lässt sich an den Freiheitsgraden der Gelenke ablesen, wie eine gut funktionierende Stuhlmechanik aussehen muss. Der Drehstuhl "ON" war der erste auf dem Markt, dessen Mechanik es ermöglicht, dass sich die rechte und linke Seite unabhängig voneinander bewegen – für eine völlig neue Dimension des dynamischen Sitzens. Das Besondere ist, dass kein zusätzlicher Einstellaufwand für die NutzerInnen nötig wird. Die NutzerInnen sind von der Synchronmechanik gewohnt die Rückstellkraft einzustellen und genau das ist mit "ON" und "IN" weiterhin möglich, betrifft aber bei diesen Trimensions-Stühlen alle Bewegungen, die man auf dem Stuhl machen kann – das Zurücklehnen nach hinten sowie auch seitliche Bewegungen. Sie werden gleichmäßig abgefedert, so dass man immer in Balance ist. Jede leichte Gewichtsverlagerung führt so zu einer gestützten Bewegung, mit der die dynamische Muskelarbeit gefördert wird.

"ON" und "IN" haben Sie bereits erwähnt, darüber hinaus umfasst das Drehstuhlprogramm von Wilkhahn auch den Allrounder "AT" und "ME", der wie ein Baukasten aufgebaut ist. Können Sie die Unterschiede ein wenig genauer aufschlüsseln?

Carsten Gehner: Der "ON" ist der Repräsentative, der durch die vielfältigen Modell- und Kombinationsvarianten keine funktionalen und gestalterischen Wünsche offenlässt, zum Beispiel durch verschiedene Polstervarianten und Rückenhöhen. Im internationalen Kontext wird diese "Skalierbarkeit" gerne genutzt, um Hierarchien darzustellen: "ON" als typischer "Sessel für ChefInnen“. Das Modell "IN" ist der "Sportliche" und mit Blick auf den Wechsel zwischen Agilität und Balance für mich der absolute Maßstab in Sachen Bewegungssitzen. Die Synergie aus Direktgetriebe, verwindungsfähigem Hightech-Sitzrückenelement und Rückenbespannung aus Formstrick erzeugt eine bemerkenswerte Dynamik und einen hohen Sitzkomfort. Der "AT" – unser "Smarter"– bietet einen ebenso hohen Komfort, aber das Kinematik-Prinzip ist hier etwas anders: Der Drehpunkt ist weiter oben positioniert, im mittleren Rückenbereich und oberhalb des Körperschwerpunkts in der Hüfte. Die besondere Sitzneigung hebt den Rücken leicht an und steht so quasi mit der Person auf. AT eignet sich perfekt für das Desk Sharing, da er mit unterschiedlichen NutzerInnen im Gleichgewicht ist. Es gibt keinen manuellen Einstellbedarf für das individuelle Gewicht, das funktioniert automatisch. "ME" folgt als "Anpassbarer" dem Baukastenprinzip, das für jedes Projekt funktioniert, egal wie vielfältig die Anforderungen sind. Wir haben das Produkt so konzipiert, das alle Ausstattungsoptionen und Funktionen kombiniert werden können. So ist ein hoher Individualisierungsgrad möglich, daher auch der Name "ME". Die "Progressive Motion"-Kinematik sorgt für die Mobilisation der Wirbelsäule über Seitwärtsneigung des Rückens bei feststehendem Sitz.

Carsten Gehner

Wo liegen die Herausforderung in der Entwicklung?

Carsten Gehner: Man muss in erster Linie weit vorausdenken, denn bei der Entwicklung eines Drehstuhls gibt es viele Einflussfaktoren – sei es normativ, gestalterisch oder mit Blick auf den Komfort. Auch wenn das Produkt ein Alltagsgegenstand ist, ist er in seinem Aufbau sehr komplex. Die Wechselwirkungen der Einstellungen muss man kennen und daher ist das Testen ein wichtiger Aspekt. So begreifen wir auch die Vorentwicklung, inklusive Musterbau, Sitzprobenerstellung und der Befragung von NutzerInnen. Dafür stehen dann die Kolleginnen und Kollegen meist gern zur Verfügung. In dieser Phase ist es besonders wichtig, sich die Zeit für die Produkttests zu nehmen, um in der Entwicklung ein perfektes Ergebnis zu erzielen.

Sind Sie für die Forschung auch in Kontakt mit MedizinerInnen?

Carsten Gehner: Herr Prof. Froböse hat uns insbesondere in der Anfangsphase stark begleitet, gemeinsam mit dem Zentrum für Gesundheit an der Sporthochschule Köln. Das hat gut gepasst, da er aus der Prävention kommt und als Berater der WHO und der Bundesregierung eine große Expertise mitbringt. Beispielsweise wurden die Freiheitsgrade der Bewegung untersucht. Dazu gehörten auch Feldversuche, die wissenschaftlich begleitet wurden hinsichtlich der Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, Präventionseffekte im Rücken, der Sauerstoffsättigung in der unteren Rückenmuskulatur. Die Studien können über unsere Webseite eingesehen werden.

Verwenden Sie noch das Wort Ergonomie in der Kommunikation?

Carsten Gehner: Die Ergonomie heißt eigentlich, dass ein Produkt für den Menschen gestaltet ist und sich dann an ihm ausrichtet. Und das ist natürlich weiterhin die Maxime, ganz klar. Wo wir uns abgrenzen, ist der Begriff der Haltungsergonomie, die eine idealisierte Sitzhaltung fokussiert, die unterstützt werden muss. Die Bewegung ist viel wichtiger und die nächste Sitzhaltung ist immer die Beste.

Wie ermitteln Sie, wann die Beweglichkeit des Stuhls perfekt ist?

Carsten Gehner: Der Komfort muss immer gegeben sein. Die Bewegungen müssen durch Schwerpunktverlagerung erfolgen. Die Balance ist Maßstab und Gradmesser, und zwar in allen Richtungen. Ebenso sollten die Füße einen sicheren Stand haben, die sitzende Person muss die Kontrolle behalten. Wir nutzen die Möglichkeiten der Rotation im Rückenbereich beispielsweise und berücksichtigen, dass die Person stets ein Sicherheitsgefühl behält. Das Wohlfühlen auf dem Stuhl ist eigentlich die Voraussetzung dafür, dass ich ihn intuitiv nutze.

Sie finden Inspiration auch in Branchen wie der Sportartikelindustrie der Automotivindustrie – wonach halten Sie dabei Ausschau?

Carsten Gehner: Ein Beispiel: Für die dreidimensionale Beweglichkeit im Rücken – wie bei "Progressive Motion" beim ME – haben wir uns von der Agilität und dem minimalistischen Design der Skateboardachsen inspirieren lassen. Die Idee eines Kraftspeichers, der sich progressiv verhärtet, je größer die Auslenkung ist, haben wir in unsere Rückenlehne übersetzt. Unabhängig von der Größe und Schwere der Person wird diese sicher gehalten.

"IN"
"AT"
"ON"

Woran arbeiten Sie gerade?

Carsten Gehner: Die Nachhaltigkeit ist neben dem dynamischen Sitzen für Wilkhahn ein großes Arbeitsfeld, denn Wilkhahn produziert nicht nur Drehstühle, sondern auch Ausstattungen im Bereich Konferenz- und Workshop. Wir bieten insgesamt Produktlösungen, die helfen, dass wir gesünder und motivierter arbeiten, dass die Kommunikation im Team gestärkt wird und man sich auf den Flächen im Unternehmen gerne aufhält. Sprich Nachhaltigkeit, Klarheit und Förderung der Kommunikation für die Menschen, die im Büro wie im Homeoffice arbeiten.

Können Sie erläutern, was Sie unter Nachhaltigkeit verstehen?

Carsten Gehner: Das betrifft mehrere Bereiche – von der gestalterischen Nachhaltigkeit, die eine Zeitlosigkeit des Designs bedingt, über eine lange Lebensdauer bis zum Recycleanteil und der Recycelfähigkeit. Ebenso ist es unsere Aufgabe, den bisherigen Status immer wieder zu hinterfragen, um die Produkte zu optimieren, wie hinsichtlich des Carbon Footprint.

Sie gestalten seit 20 Jahren die Produktentwicklung von Wilkhahn maßgeblich mit – in der Zwischenzeit hat sich die Arbeitswelt und Technologie stark gewandelt. Worauf kommt es heute bei der Entwicklung von Drehstühlen besonders an?

Carsten Gehner: Dass sich die NutzerInnen wohlfühlen. Ein großer Teil des Sitzens findet nun im Homeoffice statt. Dennoch übernehmen die ArbeitgeberInnen nur selten die Ausstattung des Arbeitsplatzes dort. Man muss sich nur einmal überlegen, wie viele Stunden täglich bei einer sitzenden Tätigkeit auf dem Bürostuhl verbracht werden. Bei dem Kauf einer Matratze denken viele lange darüber nach, welche die beste für die eigene Rückengesundheit ist, bei einem Drehstuhl kaum. Wir möchten das Bewusstsein stärken für die positive Wirkung eines guten Drehstuhls auf die Rückengesundheit. Zudem sollte hinsichtlich der Technologie eine Universalität gegeben sein und Drehstühle so einfach wie möglich gestaltet werden, damit sie Menschen in ihrer täglichen Arbeit optimal unterstützen. Egal, ob im Büro oder zu Hause.

Wilkhahn @ Orgatec
Halle 9, Stand A30 / C35
22. bis 25. Oktober 2024

Öffnungszeiten
Dienstag – Freitag: 9 bis 18 Uhr

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