Sicher, der Anblick von Nadelbäumen in Winterlandschaften erfreut das Herz. Während die meisten anderen Pflanzen unter Schnee und Eis begraben sind, hier und da nur ein paar kümmerliche Triebe vor sich hinwelken, erstrahlen Tannen und Fichten in immergrüner Pracht. Sie verheißen den Neubeginn im Frühling, in vorchristlichen Kulten dienten sie als Zeichen von Leben und Fruchtbarkeit. Damit sind sie prädestiniert dafür, zu Weihnachten, immerhin dem Fest zur Geburt Jesu, als glücksbringende und verheißungsvolle Dekoration zu dienen – geschmückt mit Sternen, Kerzen, Glaskugeln, Lametta, Figürchen und Leckereien werden stachlige Ungetüme zu allseits bestaunten Christbäumen.
Seit dem 16. Jahrhundert ist belegt, dass Weihnachtsbäume in Wohnungen, in Kirchen und an sonstigen öffentlichen Orten aufgestellt werden, ausgehend vom Elsass, dem Oberrheingebiet und dem Breisgau. In einer Bibliothek des elsässischen Städtchens Sélestat gibt es einen Rechnungsbeleg darüber, dass ein Bürger 1521 einen Christbaum von einem Förster „bewachen" ließ. In diese Zeit kann man übrigens auch die Ursprünge des Liedes „Oh Tannenbaum" zurück verfolgen. Melchior Franck verfasste das Volkslied „Ach Tannenbaum" und auch in den „Geflügelten Worten" von Georg Büchmann lassen sich heute noch vertraute Zeilen entdecken.
Aber ach, selbst nach knapp fünfhundert Jahren verbriefter Tradition bleibt auch der geheiligte Christbaum nicht von der Moderne und ihren technischen Errungenschaften verschont. Da hatten etwa Charles und Ray Eames Anfang der vierziger Jahre gerade die „Kazam"-Maschine ersonnen, die ersten Beine für Plywood Stühle geformt und schon wurden sie als Motiv für eine Grußkarte zum Weihnachtsbaum umfunktioniert. Die Konstruktion dieser Baumskulptur ist denkbar einfach: Man durchbohrt eine Reihe von Beinpaaren an der Traversenmitte mit einer Stange, dreht das Werk um und befestigt es unten auf eine Platte. Auf die Spitze der Stange gehört ein Stern und auf die Standflächen Kerzen.
Fakt ist: das bürgerliche Weihnachtsfest, das sich seit dem 18. Jahrhundert immer mehr etablierte, momentan auch in Ländern wie China, gerät zunehmend unter Druck. Das strenge Protokoll des Ablaufs lädt förmlich dazu ein, gebrochen zu werden. In einer „Aufführungskritik" beschreibt der Kunstwissenschaftler Daniel Hornuff die erstarrte Regieführung im Mitmachtheater des Heiligenabends. Essen, Bescherung, Kirchgang – wir kennen das ja alle – sind traditionell Bestandteil des Programms, inszeniert in einem durch Kerzenlicht erleuchteten Raum des Kitsches, musikalisch untermalt von den großen Tenören und Chören dieser Welt. Doch auch vereinzelte Protestbewegungen – die verzweifelte Flucht rebellischer Jugendlicher in Discos und konsumkritische Bemerkungen aufgeklärter Erwachsener – gehören inzwischen fast schon zum festen Programm. Improvisationen ausgeschlossen!
Und so kommt es, wie es kommen musste. Seit dem Jahr 2004 nach Christus geschehen in der Adventszeit alljährlich neue Revolutionen: „Freut Euch über ihn, hasst ihn, zerstört ihn und belebt ihn wieder", lautet der Aufruf des Projekts „Oh Tannenbaum" an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Es geht den Beteiligten um eine soziokulturelle Beleuchtung des Festes Weihnachten, aber auch um „ein neues Styling für ein in die Jahre gekommenes Logo – den Weihnachtsbaum". Aus Draht und weißen brennenden Kerzen hat Volker Albus einen Baum gebaut. Es gibt weitere Kreationen aus Zündhölzern, Pommes frites, Besen, Camouflage, Produktlogos und vielerlei mehr. Inzwischen ist der Protest gesellschaftsfähig geworden und wird von jjoo design erfolgreich propagiert: Die Ausstellungsreihe „Oh Tannenbaum!" gilt als feste Institution. Es gibt zwei Publikationen mit Grußkarten und einige der studentischen Projekte zeigt das Goethe-Institut gerade in 25 Instituten rund um den Erdball. Frohes Fest!
Oh Tannenbaum!
Von 16. bis 21. Dezember 2011
Hochschule für Gestaltung Karlsruhe
www.ohtannenbaum.org