Ein chinesisches Essen ist immer wieder ein kulinarisches Fest. Für einen Designer aber ist es mehr, nicht zuletzt ein Fest der Zeichen. Alles scheint im Vergleich mit Europa oder Amerika anders „kodiert" zu sein, die Räume, der Tisch, das Gedeck, die Abfolge der Speisen, die Rituale, das Verhalten, auch die Geräusche. Zuerst zu den Objekten: Auf den Tischen befinden sich immer Gedecke, bestehend aus einem Teller in Frühstückstellergröße, einer kleinen Schüssel mit Löffel aus Porzellan oder Duroplast, einer Tasse für Tee und einem Satz Stäbchen.
Eigentlich muss man sich dem Thema von der Küche aus nähern. Die chinesische Küche –, wie überall sind es die Zutaten, welche die Zubereitung bestimmen und den Geschmack ausmachen – basiert auf einer extrem langen Vorbereitung der Speisen – einlegen, marinieren, köcheln, in Flüssigkeiten, Soßen, Suppen mit verschiedensten Gewürzen und Zutaten. Allein die Hühnerfüße werden fünf Stunden lang gekocht und sind damit noch längst nicht fertig zubereitet.
In einem Restaurant bestellt man nicht einzelne Gerichte, man ordert eine kulinarische Landschaft, die für alle am Tisch etwas bietet und keinen benachteiligt oder bevorzugt. Wird an einem der großen runden Tische mit drehbarem Aufsatz gegessen, entsteht fast zwangsläufig das, was Lucius Burckhardt einst „Conviviality" nannte: eine kommunikative und freie Form von Geselligkeit. So sind die chinesischen Tische auch stets überlagert von sehr munteren, teils auch sehr lauten Gesprächen, und viel Lachen.
Die Restaurants verfügen meist über einen großen Saal mit Tischen für bis zu vier Personen. Für größere Gruppen gibt es Separees, in denen man unter sich ist, in besseren Häusern gehört auch ein Waschraum dazu. Bei offiziellen Anlässen eröffnet der Tischherr das Essen, meist angenehm informell. Ist man selbst Gast, kann man darauf warten, bald mit ihm anzustoßen. Dazu steht man auf, das Glas wird mit beiden Händen gehalten, die linke Hand hat dabei eher symbolische Funktion. Wie überhaupt diese Geste als Symbol der Unbewaffnetheit, die bei uns lediglich noch im Händeschütteln erhalten ist, bei allen Überreichungen vorkommt; ob es Visitenkarten sind, die ausgetauscht werden; ob es das Restgeld ist, das die Bedienung aushändigt, stets werden beide Hände benutzt, genauer: gezeigt. Zigaretten, eine sehr häufige Geste der Gastfreundschaft, werden angeboten, indem sie aus der Schachtel genommen und dem Gast einzeln und mit beiden Händen überreicht werden.
Doch zurück zum Tisch. Man bestellt, entweder nach Karte oder auf Sicht; manche Restaurants haben ihre Speisen in Küchennähe ausgestellt. Die Tischbedienung lässt einen Durchschlag der Bestellung auf dem Tisch. Zuerst und immer wird Tee eingeschenkt, ob die Stäbchen schon aufliegen oder erst ausgepackt werden, hängt vom Standard des Restaurants ab. Gibt es Stoffservietten werden diese diagonal, das heißt mit einer Spitze unter den Platzteller gelegt und von diesem gehalten. Man hat so die längste Ausdehnung der Serviette zur Verfügung, und die Serviette fällt nicht auf den Boden, wenn man aufsteht, was bei offiziellen Anlässen häufig vorkommt, weil man die Runde protokollgerecht reihum und jeweils persönlich durchprostet.
Was auf den Tisch kommt, wird zunächst auf einer Anrichte platziert, dort übernimmt die Tischbedienung und stellt die Gerichte auf den Tisch; auf dem Durchschlag der Bestellung wird die entsprechende Speise durchgestrichen. Flüssiges und Kleinteiliges wird aus großen Schüsseln für alle in die persönlichen Schalen gefüllt. Die Speiseabfolge ist relativ willkürlich, was fertig ist, kommt. Es gibt keine Vor-, Haupt- und Nachspeise in unserem Sinne, wohl aber kalte und warme, kleine und große, und natürlich süße Gerichte; man isst a gusto. Reis kommt, wenn überhaupt, zum Schluss, nicht selten als sättigende Nachbestellung. Dass Schüsseln und Teller leer gegessen werden, ist eher unüblich.
Gelegentlich wird eine kleine Pause eingelegt, in der auch geraucht wird; Rauchverbote in Restaurants gibt es auch in China seit etwa einem Jahr, sie gelten meist für bestimmte Räume, ansonsten ist China, durchaus entgegen der politischen Aufforderung, noch ein Land der Raucher.
Die Gerichte sind für das Essen mit Stäbchen vorbereitet, die Hand kommt aber hie und da ebenfalls zum Einsatz. Das Essen mit Stäbchen zwingt dazu, die Schüssel nah an den Mund zu führen und die Speisen mit den Stäbchen, je nach Konsistenz, in den Mund zu schaufeln. Dabei entsteht eine bei uns verpönte Körperhaltung. Auf den kleinen Platztellern werden Knochen, Schalen und alles nicht Essbare abgelegt; diese werden in besseren Lokalen zwischendurch ausgetauscht.
Manche Gerichte verursachen bei ausländischen Besuchern Befremden bis Abscheu: Hühnerfüße, Schlangen, Quallen, Entenzungen oder ähnliches. Und zugegeben, es gibt Zutaten und Formen der Zubereitung, die für uns eine Herausforderung sind. Doch meistens ist es eine Kopf- und Augensache, es sind die Bilder, die wir in unserem Kopf gespeichert haben. Denn rational ist es nicht zu erklären, weshalb man im eigenen Land Schweinsfüße, Hirnsuppen, Nieren und Ochsenzungen goutiert, sich in einem fremden Land aber davor ekelt. Wählt man hier mit dem Koch eine lebende Schlange aus, bespricht Menge und Zubereitung, ist der Unterschied zum „aufgeklärten" Europäer, der sein Huhn direkt beim Ökobauern holt, gering. Wir haben uns an die Abstraktheit unserer Lebensmittel und unseres Essens gewöhnt, die uns vor der Konfrontation mit dem, was wir wirklich essen, schützt.
Chinesische Restaurants sind vornehmlich Orte zum Essen mit Familie und Freunden. Ist das Essen beendet, bleibt man in der Regel nicht länger sitzen, sondern wechselt zum Beispiel in eine Bar. Vor dem Bezahlen wird jeder Posten auf der Rechnung kontrolliert. In China wird kein Trinkgeld gegeben oder erwartet, weder in Restaurants und Cafés noch im Taxi. Auch Restgeld, vielleicht in guter Absicht liegen gelassen, wird, selbst in geringsten Mengen, hinterher getragen.
Hier ist in vielen alltäglichen Situationen spürbar, was der Prozess der Zivilisierung in Europa an Regeln und Normen herausgebildet hat, wie historisch sie sind, und wie die Selbstverständlichkeit umkippt in die Gewissheit: Wir könnten auch anders. Das Leben in China ist, so gesehen, ein ständiger Umbau kultureller Zeichencodes. Bei der Wahrnehmung und Entschlüsselung der Zeichen sieht man immer mit einem Auge die eigene kulturelle Disposition im Rückspiegel. Solche „Umbauten" im Kontext „Essen" zu beobachten und zu erfahren ist vergnüglichste Empirie, kulinarisch ebenso wie semiotisch.
Egon Chemaitis war bis 2011 Professor der Universität Künste Berlin und führt ein Designbüro unter seinem Namen in Berlin.