Weißenhof an der Spree
Das Exerzierfeld für den Wohnungsbau der Moderne hat Mies van der Rohe 1927 in Stuttgart geplant. 33 Häuser mit 60 Wohnungen durften die von ihm ausgewählten „charakteristischen Vertreter der modernen Bewegung“ realisieren. So entstand auf dem Weißenhofgelände die Werkbundsiedlung. In Berlin, auf einer Industriebrache von derselben Größe, bauen jetzt 33 Architekten mehr als 1000 Wohnungen. Das ist mehr als eine Siedlung, mitten in Berlin-Charlottenburg entsteht die WerkbundStadt. Von den Initiatoren, Claudia Kromrei und Paul Kahlfeldt, angelegt als Experimentierfeld.
Diese offene Versuchsanordnung verträgt sich nicht mit einem Wettbewerb. Stattdessen lud Kahlfeldt nach Mies van der Rohes „Kollegialprinzip“ Architekten aus allen Werkbünden und Bundesländern ein, dazu aus der Schweiz und den Niederlanden. Allesamt Kollegen, „mit denen man streiten kann, mit denen man sich auch vertragen kann, weil man an einer gemeinsamen Sache dran ist. Bei Wettbewerben einigt man sich auf Mittelmaß und Mittelmaß ist das Schlimmste, was es gibt.“ Es ging nicht um die schnelle Entscheidung einer kleinen Jury für einen ersten Preis, der anschließend von allen Seiten „nachgebessert“ wird. Wichtig ist vor allem der umfassende, transparente und nachvollziehbare Prozess von Absprachen mit Grundstückseigentümern, Planungsbehörden und politischen Gremien sowie die Diskussionen mit den Anwohnern.
Nur zwei Vorgaben hatten die Architekten, die jeweils für drei ausgewählte Parzellen Entwürfe einreichen konnten. Die WerkbundStadt verlangt, „konstitutive Elemente des Städtischen wie Platz, Straße, Parzelle“ hervorzuheben sowie „mit der Fassade neben dem Hausgesicht zugleich die Innenwand des Stadtraums“ zu entwerfen. Zu berücksichtigen war außerdem der jeweilige Zuschnitt der insgesamt 39 Parzellen, vorgesehen für einige Townhouses und zwei freistehende Hochhäuser, zumeist jedoch ausgelegt als Segment einer Straßenzeile oder Teil eines geöffneten Blocks mit frei zugänglichem Innenhof. Ohne das enge Korsett von Wettbewerbs-Ausschreibungen und stadtplanerischen Richtlinien zeigten sich einige Architekten im Workshop orientierungslos: „Wir können nicht planen, ohne zu wissen, wie die Nachbargebäude aussehen.“ Kahlfeldt hält dagegen: „Es reicht doch, ein schönes Haus zu bauen. Wenn dann fünf schöne Häuser nebeneinander stehen ist die Welt in Ordnung.“
Über Schönheit, ob nun sinnlich ansprechend oder formal überzeugend, lässt sich reden. Aber „dieses diskursive Verfahren geriet bei der Findung der Architekturform an seine Grenzen, (weil) über ästhetische Fragen nicht demokratisch abgestimmt werden kann“, wie der Architekturkritiker Gerwin Zohlen im Katalog „WerkBundStadt Berlin – Am Spreebord“ resümiert. Also musste am Ende die Projektleitung unter den insgesamt 114 Entwürfen eine Auswahl treffen.
Damit war über die Nachbarschaft entschieden, etwa von Christoph Mäckler und dem Büro Schneider und Schumacher: Das elegant zurückhaltendes Backsteingebäude mit spitz akzentuiertem Satteldach neben einer durch die Staffelung von Hoch- und Querformaten eher aufgerissenen denn gegliederten Fassade. Darüber schiebt sich die kastenförmige Last einer Atelierwohnung mit Panoramafenster fast schon bedrohlich hervor. Und signalisiert: exklusive Wohnlage. Durchaus im wohlverstandenen Interesse des Ganzen, denn nur mit dieser Mischung kann die WerkBundStadt ohne öffentliche Förderung von sich aus 30 Prozent preiswerte Wohnungen anbieten – in jedem einzelnen Gebäude. Also nicht nach Investoren-Muster schlichte Wohnungen am Nordrand und teuren Komfort in der Südspitze.
Als unauffälliges Bindeglied figuriert neben Mäcklers Entwurf ein Wohngebäude von nps tchoban voss mit Fensterbändern und zurückgesetzter Penthouse-Etage. Und an der nächsten Ecke lassen Schulz und Schulz mit Dampfermotiv nebst art deco-Anklängen den Verdacht aufkommen, dahinter stecke der Eingang zur shopping mall. Wohltuend gedämpft werden solche Ausreißer durch ein klar strukturiertes und stimmig proportioniertes Hochhaus mit 16 Etagen (Studio di Architettura, Vittorio M. Lampugnani) oder den an ein hanseatisches Kontorhaus erinnernden Entwurf von Hans Kollhoff.
Diese Vielfalt – Hinweis auch auf das angestrebte Nebeneinander von Wohnen, Leben und Arbeiten in einer Stadt der kurzen Wege – trifft auf die Forderung nach einer gewissen Einheit: jedes autonome Wohnhaus soll sich auch als typologisches Erkennungszeichen des Stadtteils bewähren. Deshalb werden die Häuser der WerkBundStadt zu 60 Prozent aus Backstein gebaut. Denn, so Kahlfeldt, „Berlin ist eine Ziegelstadt, mal ist der Ziegel verputzt, mal ist er sichtig. Wir wollen diese Tradition weiterführen.“
Vor allem aber benötigt jedes Experiment, jeder Versuch einige Konstanten. Backstein als Material zum Beispiel. Oder den weitgehenden Verzicht auf Autoverkehr, ermöglicht durch ein Pilotprojekt von BMW, das neben car sharing über 2000 Leih-Fahrräder zur Verfügung stellt. Schließlich aber auch den Rückgriff auf das altbewährte, leider aus der Mode gekommene Modell des Mietshauses. Nicht große Baugesellschaften oder Investmentfirmen, die eine zunehmende Unwirtlichkeit unserer Städte verantworten, sondern bevorzugt private Selbstnutzer oder mittelständische Bauherren sollen jeweils einen einzelnen Parzellen-Entwurf realisieren – in enger Zusammenarbeit mit dem Architekten.
Da dürfte und sollte dann in den Vordergrund rücken, was bislang im Katalog als Kleingedrucktes hintansteht: die Grundrisse. Bereits auf den ersten Blick fallen die Vorschläge für die Erschließung zweier Wohnhäuser auf: eine gegen die Rückfassade angesetzte Halbpyramide von Brandlhuber+ und die zentrale Rotunde als öffentlicher Begegnungsraum bei Lederer Ragnardóttir Oel. Beides ebenso bemerkens- wie bedenkenswert – und deshalb Stoff für die Diskussion von Planungsprozess und Bau-Praxis am ganz konkreten Beispiel. Es geht ja nicht um das amtlich verordnete Musterhaus, sondern um eine Methode, die vielen Wohnmodelle der Zukunft zumindest in Ansätzen sichtbar zu machen – nicht am Reißbrett oder auf der grünen Wiese, sondern mitten in der Stadt, der WerkBundStadt.