Die Kraft des Wassers
Anna Moldenhauer: Die Exponate decken ein breites Spektrum ab, von unserer starken Bindung an die Ressource Wasser bis hin zu ihrer Zerstörungskraft. Wie sind Sie bei der Auswahl der Exponate vorgegangen?
Jane Withers: Wir stehen heute vor einer globalen Wasserkrise, die größtenteils auf unseren falschen Umgang mit Wasser und unseren enormen Überverbrauch zurückzuführen ist. Die Idee hinter "Water Pressure" ist es, Ideen und Lösungen aus den Bereichen Design, Wissenschaft und Aktivismus zusammenzubringen, die neue Perspektiven auf die Herausforderungen des Wassers bieten. Die Exponate sollen den BesucherInnen helfen, das enorme Ausmaß der Herausforderungen zu erkennen, mit denen wir konfrontiert sind, aber auch das Potenzial zu verstehen, eine neue Wasserkultur zu schaffen, eine, die verantwortungsvoller und nachhaltiger mit Wasser umgeht. Aus diesem Grund beginnen wir im Eröffnungsraum der Ausstellung mit dem Thema "Wassergeschichten": Als moderne Gesellschaft haben wir unsere kulturelle Bindung an das Wasser verloren. Es wird sozusagen unsichtbar in unser Leben geleitet, was ein unglaublicher Luxus ist, aber auch dazu geführt hat, dass wir unseren Platz im Ökosystem Wasser nicht mehr verstehen. Der erste Teil der Ausstellung ist eine reichhaltige Collage, die Einblicke in die Geschichten, die Mythologien, die spirituellen Praktiken und das ökologische Wissen über das Wasser aus verschiedenen Epochen und Kulturen bietet. Im Globalen Norden ist unser Fokus auf Wasser überwiegend ein sehr enger industrieller, technologischer und sogar wirtschaftlicher. Hier wollen wir die Phantasie der Menschen in Bezug auf Wasser beflügeln und die BesucherInnen für andere Sichtweisen auf das Medium sensibilisieren.
Dazu gehört auch die Wiedergewinnung der Wertschätzung für traditionelles ökologisches Wissen wie das indonesische Subak-System, ein kooperatives Wassermanagementsystem aus Kanälen und Wehren, das auf das 9. Jahrhundert zurückreicht. Oder die Q'anats im Nahen Osten – unterirdische Aquädukte zum Transport von Wasser aus Aquiferen und Brunnen, ein System, das seit Tausenden von Jahren genutzt wird. Wir betonen auch die zerstörerischen Kräfte des Wassers, zum Beispiel Darstellungen von Überschwemmungen und Tsunamis von der Arche Noah bis zum berühmten Holzschnitt von Katsushika Hokusai "Die große Welle vor Kanagawa". Obwohl wir alle Bilder wie diese kennen, gelingt es uns nicht, die Warnungen in unsere heutige Welt zu übersetzen. Wir werden von extremen Wetterereignissen überrascht und sind unzureichend darauf vorbereitet. Es gibt auch Geschichten, die zu einem neuen Verständnis von Wasser anregen – zum Beispiel wurde 2017 der Whanganui-Fluss in Neuseeland als juristische Person mit entsprechenden Rechten anerkannt, weil er nach dem kulturellen Verständnis der Māori niemandem als Eigentum gehören kann. Es ist höchste Zeit, dass wir dem Wasser wieder den ihm gebührenden Respekt zollen und Wassergerechtigkeit für alle Arten und nicht nur für den Menschen fordern.
Die Daten und Fakten zur globalen Wasserkrise zeigen sehr deutlich, wie dramatisch die Situation ist, und dennoch gehen wir weiterhin weitgehend verschwenderisch mit Wasser um. Warum ist das so?
Jane Withers: Wir haben weder unseren Umgang mit Wasser noch unsere Systeme und Infrastrukturen an die aktuelle Situation angepasst. Viele unserer Praktiken sind im Zeitalter knapper Ressourcen und des Klimawandels nicht mehr sinnvoll. Warum verschwenden wir Regenwasser und lassen es stattdessen in die Kanalisation abfließen? Warum spülen wir Toiletten mit Trinkwasser? Design ist in der Lage, neue Ideen zu liefern. Die vier Kapitel im Zentrum der Ausstellung – Körperliche Gewässer; Unsichtbare Gewässer – Landwirtschaft und Industrie; Durstige Städte und Ökosysteme – Land und Meer – fokussieren die Antworten auf einige dieser kritischen Wasserfragen. Jeder Mensch braucht Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen. Obwohl die Vereinten Nationen 2012 den Zugang zu Wasser als Menschenrecht anerkannt haben, sind wir davon noch weit entfernt: Rund zwei Milliarden Menschen haben immer noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und rund anderthalb Milliarden Menschen verfügen nicht über eine sichere sanitäre Grundversorgung. Wir haben eine Situation, in der die wenigen Glücklichen unter uns, die Zugang zu Trinkwasser haben, dieses auch nutzen, um menschliche Abfälle wegzuspülen. Das ist nicht nur eine Verschwendung von Wasser, sondern auch von potenziellem Dünger. Vor zehn Jahren gab es bereits alternative Ansätze, aber es wurde gezögert, sie tatsächlich zu realisieren. Um zu zeigen, wie sich dieser Bereich entwickelt hat, haben wir im Kapitel Körpergewässer einen recht umfangreichen Abschnitt den Kreislaufsystemen für Abwasser gewidmet, die auf der Ebene eines Hauses, eines Gebäudes und eines Stadtviertels funktionieren.
Hat Sie bei der Recherche für die Ausstellung eine Idee aus der Welt des Designs und der Architektur zum Schutz der Ressource Wasser erstaunt?
Jane Withers: Da gibt es so viele. "The Topography of Tears" von Rose-Lynn Fisher ist ein wunderbares Werk: Die Künstlerin fotografierte unter Vergrößerung Tränen, die aus verschiedenen Emotionen heraus vergossen wurden, wie zum Beispiel Wut oder Mitleid, aber auch Tränen, die beim Zwiebelschneiden entstanden. Es ist eine poetische Art und Weise, unser Körperwasser zu visualisieren und bietet uns eine neue Perspektive auf dieses seltsame physisch-emotionale Phänomen. Inspirierend finde ich zudem ein Projekt für einen Abwassergarten in den mesopotamischen Sümpfen im Irak, wo die Einleitung ungeklärter Abwässer zu Krankheiten geführt und das empfindliche Ökosystem der Sümpfe verschmutzt hat. Das Projekt Eden In Iraq setzt auf naturbasierte Systeme und Pflanzen, um das Abwasser zu reinigen, und die Gestaltung des Gartens bezieht sich auf traditionelle Textildesigns. Letztes Jahr wurde The Dry Collective unter der Leitung der Projektkuratorin Arja Renell auf der Internationalen Architekturausstellung in Venedig im finnischen Pavillon in Form von "Huussi – Imagining the Future History of Sanitation" präsentiert. Es handelte sich um eine fiktive Retrospektive aus dem Jahr 2043, in der Toiletten mit Wasserspülung ein Relikt aus einem Zeitalter der Ressourcenverschwendung sind und stattdessen menschliche Nährstoffe in das System der Lebensmittelproduktion zurückgeführt werden. Ihre Kampagne "Tod der Toilettenspülung" ist als Provokation gedacht, die uns dazu auffordert, unsere derzeitigen Systeme zu überdenken.
Jane Withers: Ganz genau.
Arbeiten DesignerInnen und WissenschaftlerInnen nicht interdisziplinär genug, um Lösungen für die globalen Herausforderungen rund um das Thema Wasser zu finden?
Jane Withers: Natürlich gibt es bereits einige, aber für viele ist es nicht einfach, Zugang zu wissenschaftlichen PartnerInnen, genauen Daten und dem Verständnis komplexer Wasserfragen zu bekommen. Deshalb versuchen wir, Plattformen für die Zusammenarbeit zu schaffen, wie das einjährige Programm "Water Futures" in New York City, das ich 2018 kuratiert habe. In diesem Rahmen brachten wir verschiedene Disziplinen und Organisationen zusammen, um das Thema Wasserknappheit und -verschmutzung zu diskutieren und die multidimensionale Beziehung zwischen Trinkwasser, dem Leben in der Stadt und seinen zukünftigen Möglichkeiten zu erkunden. Die Interaktion zwischen WasserexpertInnen, die die Zusammenhänge erklären können, und DesignerInnen, die die Werkzeuge zur Lösung der Probleme entwickeln können, brachte neue Ideen hervor. Als Designhistorikerin und Kuratorin betrachte ich das Thema durch eine besondere Linse, ebenso wie die WasserwissenschaftlerInnen. Deshalb entscheiden wir uns immer für eine langfristige Zusammenarbeit, um unsere unterschiedlichen Kompetenzen und Sichtweisen optimal zu nutzen.
Wasser ist einerseits Leben, andererseits kann es auch den Tod bedeuten. Wie kann Design dazu beitragen, uns besser vor Naturkatastrophen zu schützen und das Gleichgewicht wiederherzustellen, das der Mensch weitgehend selbst zerstört hat?
Jane Withers: Es gibt Projekte, die versuchen, mit der Kraft des Wassers zu arbeiten und nicht gegen sie, die versuchen dem Wasser Raum zu geben anstatt es zu kontrollieren. Ein Beispiel ist der historische Enghavepark, der kürzlich vom Architekturbüro Tredje Natur als größtes Klimaprojekt in Kopenhagen neu gestaltet wurde. Er verfügt über ein Wasserreservoir, das nicht nur eine faszinierende, sich mit den Jahreszeiten verändernde Wasserlandschaft schafft, sondern auch zu einem 22.600 Kubikmeter großen Rückhaltebecken wird, das die Stadt bei extremen Regenfällen vor Überschwemmungen schützt. Wenn wir über städtisches Wasser nachdenken, sollten wir immer ArchitektInnen und LandschaftsarchitektInnen als wichtigen Teil des Teams miteinbeziehen. Wir müssen darüber nachdenken, wie Städte im Zusammenhang mit der zunehmenden Häufigkeit extremer Wetterereignisse Wasser aufnehmen. Gleichzeitig können Projekte initiiert werden, die nicht nur vor Dürre und Überschwemmungen schützen, sondern auch Wasser im öffentlichen Raum fantasievoll nutzen.
Anstatt Flussläufe zu begradigen und damit Überschwemmungen wahrscheinlicher zu machen.
Jane Withers: Ja, auch das ist ein Aspekt. Im Kapitel Ökosysteme gibt es eine phänomenale Infografik, die zeigt, dass nur ein Drittel der 246 längsten Flüsse der Welt über ihre gesamte Länge noch frei fließend ist. Ein frei fließender Fluss kann auf natürliche Weise anschwellen oder schrumpfen, was zu Vorteilen wie fruchtbaren Überschwemmungsgebieten und Grundwasserneubildung führt. Im ersten Raum der Ausstellung Wassergeschichten hören wir einen Soundtrack zu einem bahnbrechenden 'rewilding'-Projekt in Knepp, einem Landgut in West Sussex in Großbritannien. Vor etwa zwei Jahren wurde dort ein Biberpaar an einem Bach wieder angesiedelt. Biber sind Ökosystemingenieure, und ihre Dämme haben den kleinen saisonalen Bach, der manchmal trocken fiel, bereits in ein komplexes Feuchtgebiet verwandelt. Der Radiosender "Wilding Radio" wurde ins Leben gerufen, damit die Menschen rund um die Uhr dem Plätschern des Baches und der Wiederbelebung der Natur lauschen können. Dieses reizvolle Werk lädt die BesucherInnen ein, darüber nachzudenken, was es für die Natur bedeutet, sich zu regenerieren und Raum für Wasser zu schaffen.
Die Modelle beinhalten eine Analyse von OOZE Architects, wie MK&G und die Stadt Hamburg ihre Wassernutzung optimieren können. Was war die Idee?
Jane Withers: Das denkmalgeschützte Gebäude des MK&G, das 1875 nach Plänen von Carl Johann Christian Zimmermann als Schule und Museum gebaut wurde, ist ein gutes Beispiel für ein Gebäude, dessen Wassersysteme optimiert werden könnten, um die Klimaresilienz zu verbessern. Das Museum befindet sich direkt am Nordausgang des Bahnhofs, umgeben von stark befahrenen Straßen, quasi auf einer Betoninsel. Früher war es in einen Park eingebettet, aber diese Verbindung zur Natur wurde gekappt. Derzeit fließt das Regenwasser vom massiven Dach direkt in das städtische Abwassersystem. Der Vorschlag von Ooze zeigt, wie das Museum sein derzeitiges Wasser-Ökosystem umgestalten könnte, indem es sowohl Regenwasser als auch Abwasser sammelt, filtert und mit naturbasierten Systemen für die Nicht-Trinkwassernutzung im Gebäude, für die Bewässerung und für die Auffüllung des Grundwasserspeichers aufbereitet. In ihrem 26 Meter langen Wandgemälde "Reimagine Water Flows – from Building to River Basin" am Eingang der Ausstellung zeigen Ooze nicht nur, wie das Museumsgebäude umgestaltet werden könnte, sondern auch, wie es mit den Wasserproblemen der Stadt Hamburg und der Wasserscheide der Elbe zusammenhängt.
Es stellt sich die Frage, ob es generell hilfreich wäre, wenn wir unsere Welt in Form von Wassereinzugsgebieten kartieren könnten, um die Verteilung dieser Ressource und die möglichen Gefahren, die sie darstellt, zu verstehen. Es gibt einen großartigen Aufsatz von Ivan Illich mit dem Titel "H2O and the Waters of Forgetfulness: Reflections on the Historicity of 'Stuff'" aus den 1980er Jahren, in dem er aufzeigt, wie wir mit der Industrialisierung Wasser im Wesentlichen von einer magischen Substanz zu dem gemacht haben, was Illich beschreibt als: "eine vom Menschen hergestellte Reinigungsflüssigkeit". Die fatalen Folgen sind heute offensichtlich, und es ist an der Zeit, diese Muster zu ändern. In dieser Hinsicht ist die Ausstellung auch als eine Kampagne gedacht, die uns dazu auffordert, unser Verhältnis zum Wasser und seinen Platz in unserer Welt zu überdenken. Ein Aufruf zu einem neuen Wasserbewusstsein.
An welchen anderen Projekten arbeiten Sie parallel?
Jane Withers: Wir betreiben eine umfassende Forschung über Badekulturen und das wachsende Interesse an öffentlichen Bädern, was auch eine persönliche Leidenschaft von mir ist. Vor einigen Jahren haben wir ein Buch mit dem Titel "Social Sauna – Bathing & Wellbeing" herausgebracht, in dem wir die Idee eines öffentlichen Badehauses als Raum für Gemeinschaft, einen sozialen Raum im Zusammenhang mit Wasser und Wohlbefinden, untersucht haben. Wir untersuchen auch Wasserthemen wie Trinkbrunnen. Eine Ausstellung zu einem anderen unserer Forschungsprojekte über schwedisches Design wird im Herbst in Stockholm eröffnet.
Wird die Ausstellung "Water Pressure – Designing for the Future" nach ihrer Zeit im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe an einen anderen Ort wechseln?
Jane Withers: Ja, sie wird im Museum für Gestaltung Zürich und dann im MAK in Wien zu sehen sein. Auf dem Weg dorthin wird die Ausstellung angepasst und weiterentwickelt, um lokale Themen für die anderen Städte einzubeziehen. Sie ist als Katalysator für eine Debatte über die Ressource Wasser gedacht. In einem nächsten Schritt wollen wir das umfangreiche Wissen aus den Studien an einem festen Ort zusammenführen und für alle zugänglich machen, um so den Dialog zum Thema anzuregen.
“Water Pressure – Gestaltung für die Zukunft”
Bis 13. Oktober 2024
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Öffnungszeiten:
Di. bis So.: 10 - 18 Uhr
Do.: 10 - 21 Uhr