Chinesen sind gewohnt, lange zu warten. Sie stehen geduldig in der Warteschlange, bis sie Schritt für Schritt unter sengender Sonne oder in strömendem Regen ans Ziel gelangen. Ein Bild, das von der Expo 2010 in Shanghai in Erinnerung bleiben wird, sind die Warteschlangen und die nötigen Mittel zu ihrer Kanalisierung: Absperrbänder und Zäune.
Die Expo in Shanghai ist die größte, die es je geben hat. Das verlangt dem Besucher einiges ab. In Zahlen ausgedrückt misst der umzäunte Bereich 3,28, das Expo-Gelände insgesamt 5,28 Quadratkilometer, was etwa der Fläche Venedigs entspricht. Breite Straßen führen von den neu gebauten Metrostationen zu den Eingängen, wobei die Bereiche, die sie umgeben, schon unüberschaubar sind. Wo man mit seiner Eintrittskarte den weiß-blau gestrichenen Zaun passieren soll, wird mit Händen und Füßen erklärt, wo man Eintrittskarten kaufen kann. „Sehen Sie, dort hinten, hinter dem Parkplatz das Bürohaus, wo China Telecom drauf steht?! Vor diesem Gebäude stehen viele weiße Schirme und dort finden Sie die Ticketverkaufshäuschen." Man hat also schon vor dem Betreten des Expo-Geländes einige Meter zurückgelegt. Hinter dem weiß-blauen Zaun läuft man dann abermals, nun zur weit entfernt liegenden Sicherheitskontrolle, die von fünfzig angelegten auf fünf tatsächlich geöffnete Stationen reduziert wurde. Bald schon wünscht man sich Roller, Sedgeways, Skater, Fahrräder oder jedes nur erdenkliche Vehikel, um die Entfernungen zu verkürzen.
Das weitläufige Gelände, das tagsüber für Millionen von Besuchern ausgelegt ist, wirkt gegen Abend seltsam verlassen. Überhaupt ist der Rummel bereits nach den ersten, euphorischen Tagen, verklungen. Während die Expo in den ersten Maitagen, die in China offizielle Feiertage sind, extrem gut besucht war, wird einige Tage später schon überlegt, ob Eintrittskarten verschenkt werden sollten, um mehr Besucher anzulocken. Dabei haben sich die Wartezeiten vor den besonders begehrten Pavillons von anfänglich vier bis fünf Stunden lediglich auf zwei bis drei Stunden verkürzt.
Der ganze Stolz eines jeden chinesischen Expo-Besuchers ist der chinesische Pavillon. Dieser riesige rote Bau mit dem Spitznamen „Krone des Orients" beherrscht mit einer Höhe von 63 Metern weithin sichtbar das Gelände und überragt - per Bauverordnung sichergestellt - die anderen Länderpavillons um das dreifache. Als Wahrzeichen der Expo 2010 konzipiert, waren die offiziellen Baukosten zu Beginn des Projekts auf 220 Millionen Euro veranschlagt. Ziel des Architekten He Jingtang war es, etwas zu entwerfen, dass sehr chinesisch aussieht: „Manche sagen der Pavillon ähnelt einer alten chinesischen Kappe. Andere sagen er ist eine Art antiker chinesischer Kochkessel. Und wieder andere sagen sogar der Pavillon sieht aus wie eine Getreidescheune. Was auch immer sie denken, welche Metapher es sein könnte, sie alle denken, er ist sehr chinesisch. Genau das wollte ich." Auch dieser Bau - neben vielen anderen chinesischen Kulturgütern - ist in seinen Elementen mit Bedeutung aufgeladen: Das Rot des Pavillons war früher der verbotenen Stadt vorbehalten, die 56 Dachklammern spiegeln die Anzahl der Nationalitäten im heutigen China wieder, die Dachfläche ist einem traditionellen Sudoku-Muster nachempfunden.
Ganz anders der deutsche Pavillon, der wie eine Melange aus einen Gebäude von Zaha Hadid und Daniel Libeskind daherkommt und dessen Entwurf das Thema „Balancity - Stadt im Gleichgewicht" zum Ausdruck bringen soll. Auch die Ausstellung stellt - mehr oder weniger deutlich - die Widersprüche dar, die eine Stadt von heute prägen: Erneuern oder Bewahren, Innovation oder Tradition, Stadt oder Natur, Gemeinschaft oder Individuum, Arbeit oder Freizeit. All das ist den chinesischen Besuchern relativ gleichgültig, denn sie lieben die Deutschen und ihr Land und stellen sich auch hier geduldig in die Reihe der Wartenden. Im Inneren des Pavillons wird man dann mit allerhand Informationen überfrachtet. Möglicherweise wird hier vom Besucher zu viel verlangt, der sich - bei über 200 Pavillons - Zeit nehmen soll für jede Menge Infopaneele und Textpassagen, die ihn unter anderem über das Grüngürtelkonzept Kölns oder die Bedeutung des Pfahlbaumuseums in Unteruhldingen aufklären sollen. Andere Länderpräsentationen gehen hier plakativer und womöglich einprägsamer an die Aufgabe heran.
Spanien zum Beispiel, das einen großen Pavillon mit breiten Wegen und drei großen Innenräumen hat bauen lassen. Gleich im ersten Raum wird der Besucher von allen Seiten beschallt. In einem Gewölbe laufen, musikalisch kraftvoll untermalt, Filmsequenzen über Stierkämpfe, Pferdehorden und Flamencotänze. Manchmal, wenn die Bilder besonders dramatisch daherkommen, bebt sogar der Boden. Im Anschluss folgen weniger emotionsgeladene Räume, und am Ende entlässt ein sitzendes Riesenbaby den Besucher voller Fragen.
Zwischen all den symbolisch aufgeladenen Bauten und Pavillons, zwischen geometrischen Knoten und goldenen Wellen sticht eindeutig der britische Pavillon hervor. Die „Pusteblume" samt modellierten Plateau erreicht wohl sicher eines der angestrebten Ziele: unter die fünf beliebtesten Pavillons zu gelangen. Der Pavillon des Architekten, Designers und Künstlers Thomas Heatherwick besteht aus über 60.000 Glasfaserstäben, an deren Enden im Inneren des Pavillons Samenkörner eingekapselt sind. Die Samenkörner stammen aus den königlichen botanischen Garten in Kew im Südwesten Londons und sind Teil des „Millennium Seed Bank Project", des weltgrößten Samenkonservierungsprojekts. Damit ist die Architektur eine direkte Darstellung des Inhalts, ein Verweis auf das Potenzial der Samen, die Zukunft in sich zu tragen.
Die Pavillons Finnlands, der Niederlanden und Dänemarks leiten den Besucher sanft in die jeweiligen Gebäude und durch die dort gezeigte Ausstellung, ohne dabei die Wege ungenutzt zu lassen. Sie ähneln einer Schlaufe, die sich ins Gebäude und in die Höhe windet, um den Besucher dann wieder aus dem Gebäude heraus in den öffentlichen Raum zurückzuführen. Eine derart abwechslungsreiche Wegeführung hätte man der gesamten Expo gewünscht. Allzu oft fühlt man sich wie auf einem asphaltierten Parkplatz statt in einem anspruchsvollen „Phantasialand". Temporäre Gebäude als Solitäre, die zusammenhangslos im Schachbrettmuster in einer urbanen Wüste auftauchen, dazwischen ein kleiner typisch chinesischer Garten, dort eine Uferpromenade. Was fehlt, ist das alles verbindende Band. Die Gestaltung des Zwischenraums war offenbar nicht einkalkuliert, weshalb die Stadt Shanghai oft mehr mit ihren Reizen lockt als die globale Leistungsschau. Auch hier ist die Expo freilich überall sichtbar. Selbst im Luxushotel hängt das blaue Maskottchen als Plüschtier im Foyer. Chinesen lieben ihren „Hiabao", der ihnen recht unchinesisch mit großen weiten Augen entgegenstrahlt. Sie freuen sich über die Expo, sind stolz und möchten gute Gastgeber sein. So unterstützen Millionen freiwilliger Helfer das Großprojekt, indem sie Hilfe anbieten, Auskunft geben und darauf achten, dass bestimmte Benimmregeln eingehalten werden: Im Schlafanzug bekleidet durch die Stadt zu laufen, ist verboten, was manche aber nicht daran hindert, es doch zu tun.