„The Truth About Comets“ – „Die Wahrheit über Kometen“ hat Dorothea Tanning ein Gemälde von 1945 genannt. Den Sommer 1943 haben sie und Max Ernst, den sie 1946 heiratete, in Sedona, Arizona, verbracht, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg einige Jahre leben. Das rätselhafte Bild zeigt zwei Meerjungfrauen in einer verschneiten Landschaft, neben denen sich eine Art Himmelstreppe erhebt. Dahinter, am wolkenverhangenen Himmel, sind zwei Kometen zu erkennen, die gemeinsam mit den beiden Frauengestalten ein farbiges Leuchten in die düster-graue Landschaft zaubern.
Fremde Freunde im Palast
Tannings Gemälde hängt in der zentralen Ausstellung der diesjährigen Biennale. Massimiliano Gioni, ihr künstlerischer Leiter, hat sie „Il Palazzo Enciclopedico“ genannt und damit die Idee eines imaginären Museums aufgegriffen, dessen Entwurf – ein 700 Meter hoher Wolkenkratzer mit 136 Stockwerken – der italienisch-amerikanische Künstler und Autodidakt Marino Auriti 1955 beim amerikanischen Patentamt eingereicht hatte. In dem monumentalen Gebäude, dessen Architekturmodell in den Arsenalen bestaunt werden kann, sollte alles vergangene, gegenwärtige und künftige Wissen der Menschheit versammelt werden. Dass es nie realisiert wurde, muss nicht eigens erwähnt werden. Doch Auritis enzyklopädischer Palast liefert Gioni mehr als nur den Titel. Er verwandelt die Biennale von einer Ausstellung der Gegenwartskunst in eine museale Bestandaufnahme des Abseitigen, Übersehenen und Ausgegrenzten, in einen Wirbel voll von Outsidern und Mythenjägern.
Abseits des Mainstream
Womit wir wieder bei Dorothea Tannings Kometen angekommen wären. Denn was da alles gezeigt wird, steht ebenso unter dem Zeichen zyklischer Wiederkehr und hat oftmals eine lange Reise durch das Universum der Kunst hinter sich wie ein Komet durch den Weltraum. In einer Vitrine liegt „Das rote Buch“, ein von Hand geschriebenes und gemaltes Vermächtnis des Schweizer Tiefenpsychologen C.G. Jung, in dem er zwischen 1913 und 1928 seine Visionen und Träume festgehalten hat. Der Soziologe, Literaturkritiker und Philosoph Roger Caillois, der sich einst im Umkreis der Surrealisten tummelte, widmet sich anhand von Steinschnitten der Entzifferung der Schrift der Natur. Aleister Crowley und Frieda Harris entwerfen okkulte Tarot-Symbole und Robert Crumb zeichnet gleich ein komplettes „Book of Genesis“.
Gioni ist fasziniert von Künstlern, die sich keinem Mainstream, keiner Mehrheits- oder gar Leitkultur angepasst haben. Statt zum widerholten Male Newcomer auf die Bühne zu heben, hält er sich an Schamanen, Autodidakten und Spinner. Doch so reichhaltig Gioni seinen Palast auch mit realen und mentalen Bildern zu füllen versteht, so präzise er seiner Schau einen Rhythmus zu geben verrmag und so geschickt er darin ist, einen Umweg um die überhitzte Gegenwart einzuschlagen, seine Enzyklopädie bleibt ein Revival.
Szeemanns Erbe
Sicher, was er beschwört, ist nicht nur eine andere Geschichte der Moderne. Es ist auch eine andere Art der Sensibilität, ein Universum gleichsam privater Obsessionen, von der Kunst der Geisteskranken bis zur Bebilderung religiöser und okkulter Erfahrungen. Ob eine solche Aufwertung des Fremden im Herzen der Moderne tatsächlich ein Gegengewicht zum expansiven Treiben des aktuellen Kunstmarkts darstellen kann oder ob nun auch die Außenseiter vermarktet werden, sei dahin gestellt. Das fällt nicht in Gionis Zuständigkeit. Dass in der gesamten Schau aber verschwiegen wird, dass es Harry Szeemann war, der seit den siebziger Jahren und beginnend mit der documenta 5 den „individuellen Mythologien“, den obsessiv Schaffenden, den Gesamtkunstwerkern, der Kunst der Geisteskranken und den obskuren Weltmodellen Geltung verschafft hat, ist eine fragwürdige Art der Geschichtsaneignung. Umso mehr, als es Harry Szeemann selbst war, der, als er zu Beginn dieses Jahrhunderts zweimal die Biennale von Venedig leitete, das Thema noch einmal in einem „Plateau der Menschheit“ aufgegriffen hat. Es war ja kein Zufall, dass Szeemann in seinem „Museum der Obsessionen“ prinzipiell keine Institution sah, sondern eine Lebensaufgabe, einen Ort im Kopf, an dem Fragiles aufbewahrt und neue Zusammenhänge ausprobiert werden können.
Auch ein Abschied
Keine Frage, Gioni ist eine im Wortsinn wundervolle Ausstellung gelungen. Eine Schau zudem, die mit den Mitteln des Museums die Überhitzungen des Marktes abzukühlen versucht. Doch zeigt diese eben auch, wie Geschichte heutzutage angeeignet wird. Der Hinweis auf alternative Wissensformen bleibt wichtig, eben weil sich diese oft skurrilen Ansätze nicht darum scheren, ob sie gesellschaftlich anerkannt werden, verwertbar sind oder nicht. Dass Obsessionen gleichwohl politisch sind, zeigt sich unter anderem, wenn als Endpunkt von Auritis Utopie eines enzyklopädischen Palastes das World Wide Web und sein Zauberlehrling Google am Horizont auftauchen. Was Gioni übersieht, ist die Macht der Entmaterialisierung und die Folgen, die das für Kunst und Künstler hat, seien diese Insider oder Outsider. So liegt am Ende der Schau auch so etwas wie Abschied in der Luft. Noch einmal wohnen Meisterkünstler und Außenseiter Tür an Tür, noch einmal wird die architektonische Version einer Enzyklopädie beschworen, die von den elektronischen Netzwerken doch längst überboten und ersetzt wird. Noch einmal erklärt Rudolf Steiner an der Tafel mit idealistischem Pathos das Weltganze, noch einmal kehren Mythen und Mystizismen von ihrer exzentrischen Bahn zurück und passieren die Erde, auf der, ach, doch längst eine andere, scheinbar effektivere Ökonomie den Takt der Verwertung vorgibt.
Der fremde Blick bleibt wichtig
Gleichwohl gelingt es Gionis Schau hier und da, jene Momente einzubeziehen, in denen etwas in unsere selbstgefällige Gegenwart einbricht, das diese weder zu erklären noch ohne Bruch in ihren Bilderkreislauf zu integrieren vermag. Tino Sehgal etwa – der dafür mit einem Goldenen Löwen als bester Künstler ausgezeichnet wurde – lässt drei Menschen auf dem Boden hocken, die immer andere Gebärden erfinden und in Rätseln sprechen wie antike Orakel. Ellen Altfest, deren Gemälde den Körper ebenso fragmentieren wie bewahren, gelingt nicht weniger ein Wechsel der Perspektive. Beides Künstler, die in der Gegenwart agieren. Und wer mit eigenen Augen sehen will, wie sich der schnelle Rhythmus von Videoclips innerhalb einer beschleunigten Evolutionsgeschichte mit Abschied und Melancholie verbindet, der wird bei Camille Henrot fündig, die für ihr Video „Grosse Fatigue“ mit einem Silbernen Löwen geehrt wurde. Ihr gelingt es, zeitweise im Rhythmus eines Rap, anhand toter Vögel und fliegender Bilder die Entwicklungsgeschichte so zu zerlegen, dass unser nur scheinbar gesichertes Wissen plötzlich wie ein Bild in einem Kaleidoskop zu flirren und zu tanzen beginnt.
Allein im Kopf lebt die Vergangenheit weiter
Wie schwer sich unsere Zeit aber auch damit tut, Leistungen der Vergangenheit anzuerkennen und wie umkämpft die Grenze zwischen Bewahren und Ausbeuten ist, belegt in Venedig ein anderes Projekt. 1969 hat Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern eine Ausstellung initiiert, die längst zur Legende geworden ist. Unter dem Titel „Live in Your Head: When Attitudes Become Form. Works – Concepts – Processes – Situations - Information“ versammelte er 69 Künstlerinnen und Künstler aus Europa und Amerika. Ungefähr vierzig davon waren in der Ausstellung mit Arbeiten vertreten. Über die Aktivitäten der anderen wurde lediglich „informiert“, weil, wie Szeemann das nannte, ihre „Werke“ nicht ausstellbar sind. Es wurden oft keine fertigen Arbeiten präsentiert. Die Künstler entwickelten ihre Kunst an Ort und Stelle. Was Szeemann veranlasst hat, nicht nur auf rein visuelle Erfahrungen zu vertrauen und eine damals neuartige Bewusstseinskunst zu untersuchen, war nicht zuletzt von dem Wunsch getragen, das „Dreieck, in dem sich Kunst abspielt – Atelier, Galerie, Museum – zu sprengen“.
Die Reihe der Teilnehmer reichte von Carl Andre bis zu Gilberto Zorio, von Joseph Beuys bis zu Bruce Nauman. Robert Morris, Mario Merz, Sol LeWitt, Richard Long, Jannis Kounellis und Lawrence Weiner waren ebenso beteiligt wie Hanne Darboven, Eva Hesse und Jo Ann Kaplan. Abgedeckt wurde das gesamte Spektrum von der Konzeptkunst, der Minimal Art und des Post-Minimal bis zur Arte Povera. Es kam zusammen, was in der Luft lag. Es ging nicht um Ergebnisse, nicht um „Werke“, schon gar nicht um solche, die sich verkaufen ließen. Es ging darum, was Kunst unter den Bedingungen der Gegenwart sein, was sie leisten, wie sie präsentiert werden konnte. Daraus erwuchs ein großes, widersprüchliches, aufregendes Gespräch zwischen den verschiedenen Produzenten und zwischen dem, was sie machen, ganz gleich, ob sie wie Richard Long durchs Land wanderten, wie Richard Stahlplatten an die Wand lehnten, wie Walter De Maria per Telefon zum Gespräch einluden oder wie Szeemann Ausstellungen kuratierten. „When Attitudes Become Form“ war so etwas wie ein Initiationsritual für das, was später, als der zeitgenössischen Kunst immer mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde, als solche betrachtet wurde. „Nicht mehr das Hauptmerkmal heutiger Kunst, die Gestaltung des Raumes“, notierte Szeemann im Katalog, „sondern die Tätigkeit des Menschen, des Künstlers ist Hauptthema und Inhalt.“
Nun hat Germano Celant – im, wie es heißt, „Dialog“ mit dem Künstler Thomas Demand und dem Architekten Rem Kohlhaas – die legendäre Schau rekonstruiert. Nicht in Bern, sondern in der Fondazione Prada in der Ca’ Corner della Regina in Venedig. „Ein Readymade“ nennt Celant seinen Versuch, „When Attitudes Become Form: Bern 1969/Venice 2013“ die Ausstellung. Schon die Rekonstruktion der Wände und Böden einer Kunsthalle aus den späten sechziger Jahren und deren Versetzung in einen venezianischen Palast erzeugen beim Betrachter ein mulmiges Gefühl. Verstärkt wird es dadurch, dass dieselben Werke von 1969 abermals versammelt sind, wobei Kreidelinien die Plätze jener Arbeiten markieren, die nicht mehr verfügbar waren. Durchwandert man die plötzlich eng und klein wirkenden Räume, so wird einem bald bewusst, wo das Problem liegt: Entweder, die aktuelle Schau bemächtigt sich einer vergangenen, um sich an deren Stelle zu setzen, oder sie fußt auf dem Missverständnis, in der fragmentarischen Rekonstruktion von Räumen, Werken und Konstellationen könne auch der Geist von damals wieder aufleben.
Der Geist aber bleibt störrisch. Wesentliche Aspekte, etwa das Vordringen in den öffentlichen Raum, bleiben ausgespart. Was alles andere als museal war, wird zwanghaft in ein museales Korsett gezwängt. Zur Unschuld der Berner Schau führt kein Weg zurück, oder nur jener, sich auf der Grundlage der Fotografien und Dokumente, die überliefert sind, im eigenen Kopf ein Bild davon zu machen, was gewesen ist. Was immer es war, was Künstlerinnen und Künstler 1969 in Bern miteinander verbunden haben mag, in der Rekonstruktion des Venedigs des Jahres 2013 ist nichts davon zu spüren.
Auch hier kehrt also ein Komet zurück. Die Kunstwelt nur passieren und sie aus einer fernen Zeit grüßen, darf er nicht. Er wird zerlegt, analysiert, fragmentiert, rekonstruiert, auf dass er in die Zeit passe. Am Ende hat die rekonstruierte Schau einen etwas anderen Titel verdient. Sie sollte eher „When platitudes become norm“ heißen.
Doch ach, so ist sie nun einmal, unsere Gegenwart. Was sie ererbt hat, weiß sie nur selten zu schätzen. Und anzuerkennen vermag sie oft nur das, was sie erst verloren und dann selbst rekonstruiert hat. Der Geist aber weht noch immer wo er will, auch über den Wassern der Lagune.
55. Biennale di Venezia
Vom 1. Juni bis bis 24. November 2013
www.labiennale.org
When Attitudes Become Form
Vom 1. Juni bis 3. November
Fondazione Prada, Venedig
www.prada.com