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Wabenhaus statt Schachtelbau

In der Messestadt München-Riem haben die Genossenschaft Wogeno und der Architekt Peter Haimerl den langweilig glatten Quadern der umgebenden Bestandsbauten einen Wabencluster entgegengesetzt. Nicht nur das Haus, auch das Wohnkonzept ist ungewöhnlich.
von Gabriela Beck | 22.12.2024

Ein gewisses Maß an Mut, zumindest aber Experimentierfreude bedarf es schon, um in einem Prototyp zu leben. Eigenschaften, die Reinhild Zenker sich nicht unbedingt zugeschrieben hätte. "Ich war immer die Konservative in unserer Familie", erzählt die 63-Jährige. Seit gut einem Jahr wohnt sie in einer Wabe mit schrägen Wänden – 37 Quadratmeter auf zwei Ebenen. Sieben Stufen führen von der Wohnwabe in die Schlafwabe, bodentiefe sechseckige Fenster schließen die Räume nach außen, davor zwei Balkone.

Die Sozialpädagogin ist Teil einer Hausgemeinschaft, die den Sharing-Gedanken auch auf das Wohnen ausdehnen möchte. So gibt es im Wabenhaus neben den insgesamt 22 Einheiten mit ganz unterschiedlich geschnittenen Wohnungen von 22 bis 106 Quadratmetern Wohnfläche auch einen Gemeinschaftsraum mit Balkon, eine Dachterrasse, einen Quartiersladen mit Küche, eine Fahrradwerkstatt und einen Garten – alles gemeinschaftlich betrieben und nutzbar. Kommuniziert wird über eine App, über ein Buchungssystem können das Gästeappartement, das Lastenrad und die 2 Pässe für den ÖPNV reserviert werden. "Wie genau wir das regeln wollen, dass niemand zu kurz kommt oder die Angebote über Gebühr nutzt, müssen wir noch verhandeln", sagt Reinhild Zenker. "Bis jetzt haben wir uns deshalb aber nicht in die Wolle gekriegt."

Zuvor hat sie ganz traditionell im Speckgürtel von München gewohnt, mit Mann und Tochter in einem Reihenhaus. Als die Tochter flügge wurde, zog es ihren Mann weiter raus aufs Land und sie in die Stadt. "Wir verstehen uns weiterhin sehr gut, wollten aber ein neues Lebensmodell ausprobieren", erzählt Reinhild Zenker. Zu diesem Umbruchgefühl habe das Wabenprojekt der Wogeno gut gepasst. Die Wohngenossenschaft erwarb 2020 eines der letzten Grundstücke im 4. Bauabschnitt der Messestadt Riem im äußeren Osten Münchens. Seit zwei Jahrzehnten entsteht auf dem Areal des ehemaligen Flughafens Riem Wohnraum für 16.000 Menschen. Es ist ein Ort der Innovationen: Das erste Mehrfamilien-Passivhaus und das erste Mehrfamilien-Nullenergiehaus Münchens wurden hier gebaut. Doch die Messestadt hat auch einen Ruf als Agglomeration der monotonen weiß-grauen Schachtelarchitektur.

Einen experimentellen Bau mit verschiedenen Wohnungstypen und einer Cluster-WG, der einen starken Konterpunkt zu den gleichförmigen Bestandsbauen des Viertels setzt – das war der erklärte Wunsch der Wogeno, mit dem sie an den vielfach ausgezeichneten Architekten Peter Haimerl herantrat. Der wiederum hat den Anspruch, mit jedem Projekt unkonventionelle Lösungen zu gestalten. Schon lange ein Dorn im Auge war ihm die zweidimensionale Herangehensweise der meisten Planenden. "Wir betrachten den Stadtraum immer als Ebene, auf die man dann eben Klötzchen oder Hochhäuser stellt."

Auf der Suche nach dreidimensionaler Raumverschränkung kristallisierte sich die hexagonale Wabe als ideale Struktur heraus – eine stabile, platzsparende Bauform, wie sie auch Bienen und Wespen nutzen. Versetzt man horizontal gestapelte Sechseckröhren halbgeschossig zueinander, sind die schrägen Seiten immer auch ein Teil der anschließenden Wabenwohnung. Eine Treppe ist über die Schrägen quasi schon in der Struktur integriert. Dadurch entsteht die Möglichkeit zum kleinteiligen Split Level innerhalb der Wohnungen und zum Andocken an die Erschließung auf mehr Ebenen als im herkömmlichen Geschosswohnungsbau. Der Clou: Das Denken in Schichten und Etagen löst sich auf. Gebäude können plötzlich an ganz unterschiedlichen Stellen durchbrochen und mit anderen Gebäuden auf unterschiedlichen Höhen verbunden werden.

Auch Wohnraum selbst müsse neu gedacht werden, fordert Architekt Haimerl. Wand an Wand, Box an Box zu wohnen sei überkommen. "Mit der Schräge haben wir die dritte Dimension in die Grundrisse gebracht", sagt er. Dieses ineinander verwebte Wohnen generiere auch psychologisch eine neue Nähe zu den Nachbarn, ein stärkeres Gefühl von Gemeinschaft.

Reinhild Zenker mag vor allem das Gefühl von Weite in ihrer Wohnwabe. Und das hat durchaus mit den Schrägen zu tun, die vom Boden 36,2 Grad – also ziemlich schräg – nach außen ragen und von der Decke im gleichen Winkel nach unten abknicken. Durch die wabenförmige Struktur erweitert sich das Achsmaß eines Zimmers von 4,50 Meter auf 6,67 Meter Breite. Die größten Ausmaße hat die Wohnung etwa auf Augenhöhe.

Doch nicht nur die Optik profitiere von der Wabenform, findet Architekt Haimerl, sondern auch die Funktionalität. So ginge zum Beispiel kein wertvoller Raum mehr unter Tischen, Stühlen und Sofas verloren. "Im Wabenhaus kann ich diese Verluste auf Null reduzieren", sagt er. Gemeinsam mit einem Möbelbauer hat er sogenannte "Halbmöbel" entwickelt, die man vor dem Bezug einer Wabe aus einem Katalog auswählen kann – Bett, Tische, Stühle, Sitzbänke. Sie ragen aus den geneigten Betonwänden oder stapeln sich daran empor, sodass auch die Schrägen bewohnt werden können. So entsteht 30 Prozent mehr nutzbarer Raum. Ihr petrolfarbenes Sitzpolster vor dem Fenster sei wirklich sehr bequem, versichert Reinhild Zenker. Eigene Möbel hat sie nicht mitgebracht, nur ihre Tischplatte aus Massivholz. Wer sich auf das Wabenhaus einlässt, lässt seine Möbel hinter sich. "Die Leute erzählen mir, wie befreiend es gewesen sei, einfach in eine fertig ausgestattete Wohnung einzuziehen und sich nicht groß überlegen zu müssen, wo welche Möbel stehen und aufgebaut werden sollen", berichtet Peter Haimerl. Praktisch sind da die Einbauschränke, die bis unter die Decke und in den letzten Winkel der Schrägen reichen. "Man braucht eine gewisse Mobilität, um an alle Sachen heranzukommen", sagt Reinhild Zenker, "ich benutze dafür eine kleine Leiter. Wir werden sehen, wie lange das im Hinblick auf das Alter geht."

Barrierefrei sind die Wohnwaben tatsächlich nicht und auch nicht günstig. Die Baukosten liegen nach Auskunft der Wogeno um ein gutes Drittel über einem konventionell errichteten Wohngebäude. Dennoch beträgt die Miete in dem als Konzeptioneller Mietwohnungsbau (KMB) geförderten Projekt nur 12,10 Euro pro Quadratmeter – und liegt damit deutlich unter dem Münchner Level. Um die Baukosten weiterer Wabenhäuser zu senken, wird eine serielle Fertigung angestrebt. Die Waben bestehen aus Ortbetondecken und schrägen Halbfertigteilen aus Beton. "Wir haben die Sechseckform gewählt, weil sie sich in der Natur bewährt hat", sagt Peter Haimerl. Ihr Rauminhalt verhält sich zum Umfang, also zum verbauten Material, am günstigsten. Sind die Querschnitte der Wabenröhren dann noch alle gleich, kommt das dem Modulbau schon recht nahe.

Architekt Haimerl und die Wogeno haben das Kunststück geschafft, für eine nicht genau bezifferte aber sicherlich erhebliche Summe einen Experimentalbau zu realisieren, der nicht teuer vermietet werden darf – und seinen BewohnerInnen am Ende ein außerordentlich exklusives Wohngefühl vermittelt. Das dürfte es im Bereich des geförderten Wohnbaus bislang kein zweites Mal geben.

Buchtipp: Wie wir wohnen wollen
Was unsere Städte brauchen, um wieder lebenswert zu werden | Ein Bauplan für den Wandel
Autorin: Gabriela Beck
Penguin, München 2024
224 Seiten, Format 13,5 × 21,5 cm
Hardcover, auch als E-Book erhältlich
20 Euro
ISBN 978-3-466-37330-7