Foto © Privatarchiv Kramer, Horst Trebor Kratzmann, 1970
Für die Darstellung von Leben und Wirken Ferdinand Kramers hat das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main eine Etage im ersten Stock freigeräumt. Nicht zu viel Raum angesichts eines baulichen Werkes, das im Frankfurt der Zwanziger Jahre erstmals erblühte und bis in die frühen Siebziger reicht. Die Baubiografie weist die typischen Brüche eines Lebens im 20. Jahrhundert auf. Ein besonderes Leben, das alles andere als typisch, vor allem aber beispielhaft ist. Zu ihrem bekannten Sohn hat die Stadt Frankfurt eine gespaltene Beziehung. Museal und medial ist Kramer heute präsenter denn je. Einige seiner Möbel wurden von e15 wieder aufgelegt. Auf dem Markt für historische Möbel der Moderne werden üppige Preise erzielt. Die jüngere Kramer-Literatur füllt bald einen halben Meter. Einem beispielhaft, von den Architekten Schürmann Spannel erneuerten Bau – das heutige „Forschungszentrum Biodiversität und Klima“ (kurz: BiK-F) in Frankfurt am Main – hat Fabian Wurm kürzlich eine ausführliche Werkmonographie gewidmet – über Ursprungsplanung und Sanierung. Binnen Jahresfrist widmet sich mit dem DAM bereits ein zweites Museum dem Leben und Werk von Frankfurts großem Baumeister. Zuvor würdigte das benachbarte Museum für Angewandte Kunst Kramers „Design für den variablen Gebrauch“. Gleichzeitig plant die Stadt, Kramers Hauptwerk, die Universitätsbauten, einzuebnen. Vordergründig, weil die Frankfurter Universität, für die er während der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre plante, ihr angestammtes Gelände am Rande des Westends aufgibt. Tatsächlich aber auch, weil die Kargheit und der geistesgeschichtliche Hintergrund des Architekten für heutige Erwartungen an die gebaute Umwelt zu anspruchsvoll sind.
Die eine Etage im DAM – das sorgt für eine gewisse Verdichtung angesichts von Planzeichnungen, sachlichen Fotos aus der Zeit der Entstehung der Bauten und aktuellen, dramatisch in Szene gesetzten Neuaufnahmen von Norbert Miguletz, zahlreichen Dokumenten, Briefen und Katalogen aus dem Privatarchiv der Familie Kramer. Auch die originalen Modelle des Universitätsbauamtes und sechs neue, an der TU Kaiserslautern angefertigte, werden gezeigt. Hinzu kommen einige Einrichtungsgegenstände mit Universitätsbezug, ein wandbefestigter Aschenbecher etwa. Es lohnt in diese Ausstellung Zeit mitzubringen und sich abwechselnd auf Vergangenheit und Gegenwart, auf Nähe und Ferne zu fokussieren. Gewisse Lücken in der Darstellung des baulichen Œuevres fallen auf. Teils sind sie der Materiallage geschuldet, mitunter aber auch den Gewichtungen der Ausstellungsmacher. Mit dem Architekten – und stellvertretender Leiter des DAM – Wolfgang Voigt, der nach Ende der Kramer-Ausstellung in den Ruhestand geht, sowie den jungen Kuratoren, dem Politikwissenschaftler Philipp Sturm und dem Innenarchitekten Peter Körner, setzt das Architekturmuseum neue Schwerpunkte und ungewohnte Blickwinkel.
Diese machen den begleitenden Katalog lesenswert und die Ausstellung zu einem Ereignis. So kann man dank der Aufsätze von Claudia Quiring über Kramers Weg in die Architektur ab 1922 und Philipp Sturms kritischen Darstellung zu den Aufbaujahren der Frankfurter Universität einen guten chronologischen Überblick gewinnen. Den zentralen Beitrag liefert Voigt, der zuletzt monographische Ausstellungen zu Paul Bonatz und Ernst May betreute. Sein Text gilt Kramers Exil und dessen Rückkehr 1952. Dabei spielt die freundschaftliche Beziehung Kramers zu Protagonisten der „Frankfurter Schule“ eine tragende Rolle. Für Beiträge und Werkberichte werteten die Autoren erstmals die Korrespondenz zwischen Kramer und seiner ersten Frau Beate aus. Sie und ihr in Berlin lebender Onkel, der Kunstsammler und Kulturwissenschaftler Eduard Fuchs waren es, die Kramer im Frankfurt der späten 1920er Jahre mit den Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung bekannt machten. Mit Theodor W. Adorno war Kramer seit seiner Jugend befreundet. Auch mit Siegfried Kracauer und Leo Löwenthal verbanden ihn intensive Freundschaften.
Bereits der Anfang der Ausstellung kündet von einem Ende. Dieses markieren die Laubenganghäuser der Siedlung Westhausen, die Kramer ab 1929 gemeinsam mit Eugen Blanck entwarf. Sie gehörten in die Schlussphase der extrem produktiven Ära von Ernst May in Frankfurt. Zwischen 1925 und 1930 hatte Kramer als Mitarbeiter des Stadtbaurats May im Hochbauamt daran maßgeblichen Anteil. Eine seiner wichtigsten Aufgaben: Die Typisierung von Möbeln und von Grundrissen. In Folge der Finanznot der Weltwirtschaftskrise mussten 1929 Kosten und Flächen weiter minimiert werden. Kaum 50 Quadratmeter hatte eine Wohnung im Laubenganghaus, die Küche gerade einmal sechs. Die Herausforderung, dennoch lebenswerten (und dort bis heute begehrten) Wohnraum zu schaffen, nahm Kramer an. Die zuvor von ihm erfundene kompakte Sitzbadewanne kam hier zum Einsatz. Das Heizkraftwerk, das die Wohnungen mit Wärme und Warmwasser versorgte war gleichzeitig zentrales Waschhaus und wichtiger Treffpunkt der gesamten Siedlung. Diese Idee der zentralen Wärmeversorgung greift Kramer später wieder auf. Eines seiner ersten Universitäts-Gebäude ist 1953 ein Heizkraftwerk. Mit ihm ersparte er jedem Institutsgebäude den separaten Heizungskeller nebst Kessel. Das reduzierte den Platzbedarf, vor allem aber senkte es Bau- und Betriebskosten.
Nix Bauhaus: Neues Frankfurt!
Heute ist die Villa Erlenbach von 1930 mit Flachdach und gestufter Kubatur eines der konsequentesten Beispiele Neuen Bauens in Frankfurt. Zur Entstehungszeit wollten Behörden sie als Beeinträchtigung der Nachbarschaft zunächst verhindern, ließen zeitweise die Baustelle stilllegen. Kramer setzte sich durch. Bauhaus-Architektur nennen Publikum und Immobilien-Makler einen solchen Bau heute. Und liegen kräftig daneben. Kramers Ausflug ans Bauhaus fand 1919 statt und blieb Episode. „Wir wollten bauen, die Wohnungsnot überwinden, unsere durch den Krieg verlorene Zeit einholen“ erzählte Kramer in der Rückschau.
Sein Architekturprofessor Theodor Fischer, einer der bedeutenden Anreger der Moderne, hatte Kramer nach Weimar und Walter Gropius empfohlen. Doch ein Studium der Architektur gab es am Bauhaus noch nicht. Als Gropius von Kramers Abreise erfuhr, erklärte er ihm per Brief, er wolle „alles in der Schwebe“ lassen, „in einer bewegten Ordnung, um so zu vermeiden, dass unsere Gemeinsamkeit sogleich wieder zur Akademie erstarrt“. In Weimar schließt er wie überall rasch Freundschaften, knüpft Beziehungen. Nach Abschluss seines Studiums in München geht er in seine Heimatstadt. Streiche Bauhaus, schreibe Neues Frankfurt. Kramer sucht und findet andere Konstellationen. Er wird 1925 im Hochbauamt im Team junger Architekten und Gestalter von Ernst May Mitarbeiter für Typisierung von Einrichtungsgegenständen und Grundrissen, perfektioniert seine effizienten Öfen, die in Serie von Buderus hergestellt werden, publiziert in den maßgeblichen Zeitschriften, vertieft internationale Kontakte etwa mit Adolf Loos und Le Corbusier, stellt in der Weißenhofsiedlung aus, in deren Bauten seine Tür- und Fenstergriffe breite Verwendung finden. Und er ist Lehrer an der Frankfurter Kunstgewerbeschule, Entwerfer für städtische Garagen, für Kindergarten und Altersheim. Und ein sozialer Zeitgenosse. Sozial sind Kramers Motive, die ihn früh auf das verzichten lassen, was heute alle wollen: Repräsentation. Mehr scheinen als da ist. Kramers Gegenentwurf lautet: Alles nutzen, was da ist. So gut wie möglich.
Ein Weg ins Freie
Kramer musste Deutschland verlassen. Dem gleichgeschalteten Deutschen Werkbund wollte er schon 1933 nicht mehr angehören. Nur wenige Gestalter traten wie er aus. Im September 1937 erhielt er durch Ausschluss aus der „Reichskammer der Bildenden Künste“ ein Berufsverbot, als „Ehemann einer ‚Nichtarierin’ wie auch wegen seiner architektonischen wie kulturellen Überzeugungen“. So schilderte es seine erste Frau Beate für ein früheres Ausstellungsprojekt. Sie verließ Deutschland Anfang 1938. Lange rang er mit sich, „ich kann mir noch kein Bild machen, wie ich überhaupt Fuß fassen kann“, schrieb er an Beate nach New York. Er folgte ihr wenige Wochen später. Mit amerikanischer Entwurfs- und Verkaufsmethodik freundete sich Kramer nicht an.
Auch das Institut für Sozialforschung emigrierte wie viele seiner Mitarbeiter. Kramer half den umfangreichen Grundbesitz des Instituts in Port Chester, nordöstlich von New York, zu entwickeln und vermarkten. Die Erlöse aus dem Hausverkauf trugen zur Absicherung des Instituts bei, das nun an der Columbia University beheimatet war.
Er parzellierte die Grundstücke, entwarf preiswerte Häuser mit typisierten Grundrissen, die in amerikanischer Holzrahmenbauweise gebaut wurden. Kramer leitete die Firma „Alden Estates Home Development“ und bezog auf dem Gelände ein von ihm umgebautes Haus. Im Übrigen war seine amerikanische Periode wichtiger für die Entwicklung von Möbeln und Einrichtungssystemen für Warenhäuser als für die Architektur. Die im Katalog zitierten Briefstellen an Beate Kramer machen deutlich, wie sehr die Rückkehr nach Frankfurt zunächst einem Ausgesetzsein in der Fremde gleicht.
Neubeginn im Jahresturnus
„Die eigentlichen Frankfurter Bürgerkreise gibt es nicht mehr“, schreibt Kramer im Juli 1952. Vor dem Krieg pflegte der Bürgersohn mit Museumsdirektoren und Künstlern, mit Revolutionären aus Tanz, Theater, Musik und Politik einen intensiven Austausch. Nun konstatiert er: „Das Land finde ich unerhört reizvoll + schön, die Menschen dagegen zynisch, böse und hässlich, bis auf wenige.“ Ähnliche Aussagen finden sich in Briefen mancher Rückkehrer des Instituts für Sozialforschung. Dennoch entscheidet sich Max Horkheimer und möchte im Kontext der Hochschule die deutsche Jugend in den Stand setzen, „ihre besten Kräfte zu entfalten und dem gemeinsamen Ziel einer dauernden und menschenwürdigen Einrichtung der Welt zu widmen“. Horkheimer kehrt zurück nach Frankfurt am Main, ist von 1951 bis 1953 Rektor der Universität und trägt dazu bei, dass Kramer ebenfalls zurückkehrt und die Leitung des Bauamts übernimmt. In Zusammenarbeit mit dem Kurator Friedrich Rau entwickelt Kramer einen Generalbebauungsplan, der beinahe im Jahresturnus revidiert werden muss. Denn die Grundstücke, die für den Aufbau der Universität zugesagt wurden, stehen plötzlich nicht mehr zur Verfügung oder werden gar für andere Zwecke bebaut. Die Akteure, Professorenschaft, Stadt, Land und Bauamt werden sich nicht einig, wo und wie zu erweitern ist. Trotz dieses Chaos, gelingt es Kramer binnen weniger Jahre 23 Universitätsgebäude zu errichten, mit schmalstem Budget, denn die Universität, von privaten Stiftern gegründet, wird nach dem Krieg von der Stadt getragen. Doch die hat eigene Infrastrukturprojekte begonnen, etwa den Siedlungsbau und ab Beginn der 1960er Jahre die U-Bahn. Mit Kramers Ausscheiden aus dem Universitätsbauamt Ende 1964 verlangsamt sich das Tempo der Entscheidungen und Baufertigstellungen spürbar.
Foto ©© Wikipedia, Rolf Unterberg
Bemerkenswert, aber letztlich nicht überzeugend ist der Versuch von Enrico Dunkel, in Katalog und Ausstellung die Liste der Kramer-Bauten auf dem Universitäts-Campus weiter auszudehnen. So soll er auch das Juridicum und die Sportuni geplant haben, zwei Bauvorhaben, die erst lange nach Kramers Ausscheiden aus dem Bauamt fertiggestellt wurden. Unumstritten ist, dass er ihre Anfänge vorbereitete, allerdings wurde ihre Detaillierung, was Fassaden und Details angeht, bislang Kramers Nachfolger Heinrich Nitschke zugeschrieben. Die Verwendung von Stegen zur Verbindung kubischer Baukörper verweise auf Kramer, behauptet nun Dunkel. Mit Plänen, auf denen sich die Kramersche Paraphe findet, stützt er seine These und mit der Zusicherung, nach Aktenlage sei Kramer auch nach seiner Pensionierung beratend weiter für die Universität tätig gewesen. Erfahrungsgemäß hat Autorenschaft in der Architektur – wenn es sie denn gibt – auch etwas mit der Kontrolle über die Ausführung von Details zu tun. Ob Kramer oder nicht doch eher Nitschke hier letztlich das Sagen hatte, ist mit dem im DAM präsentierten Material nicht hinreichend belegt.
Etwas zu kurz kommt das Bauen als Privatarchitekt, das Kramer sowohl zwischen 1933 bis 1937 wie auch in deutlich bescheidenerem Umfang nach seiner Pensionierung 1964 wieder aufnahm: Die Sanierung und Erweiterung des Comödienhaus Wilhelmsbad etwa, bei der Kramer 1968 ein Baudenkmal sorgsam wiederherstellte und um einen modernen Holzbau als Künstlergarderobe ergänzte, kommt nur in der Werkliste vor.
Die meisten von Kramers Gehäusen, die er zwischen 1952 und 1964 für die Wissenschaft entwarf, bestehen aus einem Stahlbetonskelett, das mit Klinkern ausgefacht ist. Da auf diese Weise Bauten entstanden, die „funktionell, billig und von einer fast zarten Form“ sind (so Filmemacher Alexander Kluge bereits 1958), müssen diese Gehäuse endlich sorgsam behandelt werden. Kramer war eben kein Dogmatiker des Funktionalismus, er plante spätere Eingriffe und Veränderungen durchaus mit ein. Da seine Konstruktionen im Innern kaum tragende Wände haben, ist ihre Wandelbarkeit nahezu unbegrenzt. Wer das einmal begreift, kann fast alles aus einem Kramer-Bau machen.
„Die Rücksichtnahme auf die Architektur der 50er und 60er Jahre, die zwar technisch Schwierigkeiten hat, aber der in ihrer gestalterischen Konsequenz eine historische Bedeutung zukommt, hat den Vorrang vor einem Abbruch und einem damit verbundenen Neubau“, schrieb Oswald Mathias Ungers 1988 in der Begründung zu seinem Beitrag im „Realisierungswettbewerb“ für das einstige Universitätsareal, der damals mit einem 1. Preis ausgezeichnet wurde. In Sachen Kramer ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Linie Form Funktion – Die Bauten von Ferdinand Kramer
Deutsches Architektur Museum (D.A.M.), Frankfurt am Main
Vom 28. November 2015 bis zum 1. Mai 2016
Eröffnung: 27. November, 19 Uhr
Di., Do. bis So. 11 bis 18 Uhr, Mi. 11 bis 20 Uhr
www.dam-online.de
Der Katalog zur Ausstellung:
Ferdinand Kramer, Die Bauten
hrsg. von Wolfgang Voigt, Philipp Sturm, Peter Körner, Peter Cachola-Schmal
176 Seiten, geb., Texte deutsch/englisch
Ernst Wasmuth Verlag, Tübingen 2016
ISBN 978 3 8030 0797 1
38,00 Euro