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Bauen in Deutschland
Von Rampenschweinereien und Zielkonflikten
Eine Kolumne von Christian Holl
09.03.2015

Der Umgang mit beeinträchtigten Menschen ist ein Gradmesser für das soziale Klima in einer Gesellschaft. Ebenso aufschlussreich ist allerdings, wie es bürokratischer Eigenlogik gelingt, den Anspruch einer möglichst barrierefreien Welt in sein Gegenteil zu verkehren.

Zielkonflikt. Ein wunderschönes Wort, als wäre es für diese Kolumne erfunden. Horst Rittel formulierte einst so einfach wie tiefgründig, dass bei bösartigen Problemen dessen Verständnis bestimmt, welcher Art die Lösung ist. Das Bauen ist ein bösartiges Problem. Und wenn verschiedene Menschen verschiedene Vorstellungen davon haben, welches Problem gelöst werden soll, dann bekommt man ihn, den Zielkonflikt. Beispiel energetische Sanierung: Die einen wollen, dass sie ihre Bude mit möglichst wenig Heizkosten angenehm warm bekommen, den anderen ist es wichtiger, dass die Bude von außen weiterhin mindestens so schön aussieht wie bisher. Allerdings ist es mit den Zielkonflikten nicht immer wie hier, dass die Freunde der Baukultur denen des gut geheizten Zimmers einfach zurufen können: Zieht euch doch wärmer an! Man denke etwa an Barrierefreiheit und behindertengerechtes Bauen. Wer gehandicapt ist, kann das nicht mit der Kleidungswahl ändern. Ändern muss sich die Einstellung. Ein schöner Slogan hat einmal darauf hingewiesen, dass Menschen nicht behindert sind, sondern behindert werden. Sie werden behindert, weil es eine Mehrheit, und sei es auch aus Gedankenlosigkeit, an Rücksicht fehlen lässt. Oder ließ. Und barrierereiche Bauten schuf, die trotzdem schön und nützlich sind und also erhalten werden. Manche waren geradezu als barrierereiche konzipiert: Burgen zum Beispiel. Insofern ist das Thema der Barrierefreiheit ein großartiges Exempel dafür, wie innerhalb der Gesellschaft ausgehandelt werden muss, welche Rücksichten wie genommen werden sollen. Welches Problem wir lösen wollen. Wie wir uns unser Miteinander vorstellen. Und was es uns das wert ist, möglichst wenig Menschen von dem auszuschließen, was den meisten selbstverständlich ist. Etwa, dass für sie nicht jede Stufe zu einem unüberwindlichen Hindernis wird.

Schon das Grundgesetz legt unmissverständlich fest, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Damit das eingehalten wird, werden entsprechende Baugesetze erlassen und Regelungen in Landesbauordnungen getroffen. DIN Normen sollen bei der Umsetzung helfen. Regulierung kann also sehr segensreich sein. Sie sorgt für eine Selbstverständlichkeit, die mehr zählt als jedes gut gemeinte Helfen. Auch wenn sie nicht jedes Problem lösen kann: Sie sensibilisiert für die Schwierigkeiten, denen wir manche Menschen aussetzen. Das ist wichtig, um so mehr, als sich die gesellschaftliche Übereinkunft, die sich als Gesetz manifestiert, im Alltag nicht immer als solche erleben lässt. Davon kann jeder Rollstuhlfahrer ein Lied singen.

Und was das Thema Baukultur angeht: Es mag ja richtig sein, dass Rampen und Aufzüge nicht immer schöne Anlagen sind, und dass sie vor allem als nachträgliche Ergänzung mitunter brachial wirken, nicht nur dann, wenn der Planer lediglich stumpf Normen abgearbeitet hat. Man kann nun den Standpunkt vertreten, dass man das eben aushalten muss. Das ist aber schon tendenziell unfair. Vielleicht reichte es aus, dann einmal darauf verweisen, dass für das Auto – auch es benötigt ja Barrierefreiheit – nicht nur oftmals viel Brachialeres in Kauf genommen wird, sondern auch völlig selbstverständlich ein hoher Platzbedarf akzeptiert wird. Man schaue sich nur einmal ein Autobahnkreuz aus der Luft an und vergleiche es mit dem Zentrum einer Kleinstadt. Das halten wir auch aus. Selbst wenn es mitunter verdammt schwer fällt.

Noch einmal zurück zu den Zielkonflikten. Sie lassen sich nicht prinzipiell vermeiden, gäbe es auch noch so viele Normen. Verordnungen und Gesetze entbinden nicht davon, sich darauf zu einigen, welche Probleme man lösen will. Das gehört eben auch zum Bauen und zum Umgang mit Architektur. Und jeder, der baut, weiß, dass es mehr als genug solcher Zielkonflikte gibt. Nur sorgt manchmal die eben noch als segensreich gerühmte Regulierung dafür, dass zusätzliche Zielkonflikte künstlich erzeugt werden. Und dass sie auf eine Weise absurd werden, die vermutlich selbst ein besonders energischer Verfechter der Barrierefreiheit nicht mehr gut heißen könnte. So kommt es vor, dass ein Apotheker nachweisen soll, dass seine Apotheke barrierefrei zugänglich ist, andernfalls hätte er sie zu schließen. Im konkreten Fall kann das allerdings praktisch unmöglich oder baurechtlich unzulässig sein: Wenn sich etwa eine behindertengerechte Rampe weder innerhalb der Apotheke selbst (praktisch unmöglich) noch vor dem Haus, auf öffentlichem Grund (baurechtlich unzulässig) errichten lässt. Und so muss erst ein Bauantrag eingereicht werden, von dem die Beteiligten schon vorher wissen, dass er abgelehnt werden wird. Mithilfe der schriftlich-behördlichen Ablehnung hofft der Eigentümer dann, die Apotheke auch ohne barrierefreien Zugang weiter betreiben zu können. Und was lernen wir daraus? Dass die Bürokratie einer merkwürdigen Vorstellung von Gerechtigkeit Geltung verschafft: Sie sorgt dafür, dass aber auch wirklich jeder behindert werden kann.

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Barrierefreiheit ist uns auf ein gewisse Weise selbstverständlich. Aber nur auf eine gewisse.
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Die radikale Lösung sieht nur auf den ersten Blick wie die einfachste aus.
Alle Fotos © Christian Holl
Christian Holl