Charlotte Perriand, Ray Eames, Gae Aulenti, Lina Bo Bardi – die Liste der kreativen Frauen ist lang, die stilprägend wirkten und in der Öffentlichkeit dennoch erst mit der Verspätung von Jahrzehnten wahrgenommen wurden. Die gebürtige Römerin Lina Bo Bardi erfährt erst jetzt, ein Jahr bevor sie hundert geworden wäre, Anerkennung über ihre Wahlheimat hinaus. Womöglich hängt das mit dem zunehmenden Interesse an einem Brasilien zusammen, das sich auch was Kreativität angeht, rasant zu entwickeln scheint. Vielleicht auch damit, dass sich alle Blicke mehr und mehr auf das Land richten, in dem in einem Jahr die Fußballweltmeisterschaft stattfindet und in drei Jahren die Olympischen Spiele. Oder schlicht mit der Erkenntnis, dass Architektinnen und Designerinnen im 20. Jahrhundert wichtigere Impulse gegeben haben, als es ihnen zunächst zugestanden wurde. Achillina Bo wurde 1914 in Rom geboren. Als eine von nur wenigen Frauen studierte sie Anfang der 1930er Jahre Architektur an der Universität Rom und ging anschließend nach Mailand, wo sie als Assistentin von Giò Ponti arbeitete. Zusammen mit Carlo Pagani gründete sie 1940 ein Architekturbüro, aber der Krieg machte wirtschaftliches Arbeiten unmöglich. Lina Bo Bardi improvisierte, sie schrieb und illustrierte Magazine, auch Pontis „Domus“. Als ihr Studio 1943 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, trat sie der kommunistischen Partei bei. Kurz nach Kriegsende reiste sie durch das zerstörte Italien und dokumentierte für Domus den architektonischen Ist-Zustand und die schwierigen Lebensumstände der Bevölkerung. Was sie sah und erlebte, hatte offenbar einen starken und nachhaltigen Eindruck auf Lina Bo Bardi. Denn von diesem Moment an sind für sie die menschlichen Bedürfnisse in der Architektur mindestens ebenso wichtig wie politische und soziale Aspekte. Doch in ihrer Heimat sah die Mittdreißigerin keine Perspektive. Sie sagte später rückblickend: „1946 realisierten wir, dass unser Traum eines modernen, freien Italiens bereits vorbei war. Die freien Wahlen wurden von den Christdemokraten gewonnen. Das war schrecklich und ich beschloss, zu gehen.“ Sie ging tatsächlich, gemeinsam mit ihrem Mann Pietro Maria Bardi. Den Direktor der Galleria d’Arte di Roma hatte die Architektin kurz nach dem Krieg kennengelernt und mehr oder weniger aus dem Stand geheiratet. 1946 verließen die beiden Italien mit dem Ziel Brasilien. Pietro Maria Bardi war schon seit Beginn der dreißiger Jahre regelmäßig nach Südamerika gefahren und hatte gute Kontakte in der dortigen Kunstszene. Von den Bardis in den Jahren 1946 und 1947 organisierte Ausstellungen mit europäischer Kunst in São Paulo brachten das Paar in Kontakt mit Oscar Niemeyer, Lúcio Costa, Gilberto Gil und Rocha Miranda – die letztlich dazu führten, dass Brasilien zu ihrer neuen Heimat wurde: „Ich war geblendet“, erinnerte sich Lina Bo Bardi. „So etwas hatte ich nie zuvor gesehen. Wir trafen die wohl interessantesten Menschen, die damals in Brasilien lebten, und ich sagte zu Pietro, ich würde wirklich gerne noch etwas länger bleiben.“ Was nun begann, was nicht nur eine Zeit, in der sie sich in der Wahlheimat einrichtete, sondern auch eine Phase des kreativen Aufbruchs. Lina gründete mit dem ebenfalls aus Italien nach Brasilien übergesiedelten Architekten Giancarlo Palanti ein Büro für Industriedesign, Pietro startete das Projekt Museum of Art in São Paulo (MASP), dessen Direktor er bis 1996 sein sollte. Und Lina begann mit ihrem ersten Entwurf eines Hauses, dem sogenannten „Gläsernen Haus“, in dem sie bis zu ihrem Tod 1992 selbst lebte. Im Jahr 1950 hatten Lina Bo Bardi und ihr Mann ein Grundstück in São Paulos neuem Stadtviertel Morumbi gekauft. Der Name bedeutet so viel wie „grüner Hügel“ – und tatsächlich liegt das Haus fast in einem Dschungel. Bo Bardi sah die Pflanzen als Teil ihrer Architektur und hat darauf gesetzt, dass sie das Haus über die Jahre weiter einnehmen und „mitgestalten“ würden. Das „Gläserne Haus“ ist ein Entwurf, der sich einerseits ganz dem hügeligen Gelände mit seiner Vegetation anpasst, andererseits aber auch den Aufbruchsgeist jener Zeit widerspiegelt, die Kühnheit, Beton schweben zu lassen. Und so erhebt sich das Haus auf elf schmalen Säulen über dem Hang. Zur Straße hin zeigt es sich eher abweisend, aber auf der Rückseite liegt ein 140 Quadratmeter großes Wohnzimmer, das komplett verglast ist. Für das Gläserne Haus entwarf Lina Bo Bardi auch ihre eigenen Möbel, darunter 1951 den „Bowl Chair“. Dieser sieht aus wie ein überdimensionaler, in der Mitte durchgeschnittener, gepolsterter Lederball, der in einem Metallring auf vier dünnen Beinen steckt. Der „Bowl Chair“ strahlt eine ähnliche Lässigkeit aus wie der „B.K.F. Chair“ der Argentinier Bonet, Kurchan und Ferrari Hardoy von 1938. Dieser sogenannte Butterfly-Sessel, den Knoll 1946 in seine Kollektion aufnahm, avancierte in den fünfziger Jahren zu einem gefragten Sitzmöbel bei einer Generation, die keine üppigen Polstersessel mehr wollte. Lina Bo Bardis „Bowl Chair“ besitzt eine rundere, aber nicht weniger informelle Ästhetik. 1953 bekam der Sessel erstmals internationale Aufmerksamkeit, als das amerikanische Magazin „Interiors“ den Artikel „Bowls, Baskets and Bags“ veröffentlichte und darin Bo Bardis Design mit den Stühlen von Eero Saarinen, Irene Schawinsky und Roberto Mango verglich. Doch Lina Bo Bardi stand vielen Aspekten der raschen Industrialisierung skeptisch gegenüber und legte keinen Wert auf eine massenhafte Produktion ihrer Entwürfe. Vielmehr setzte sie in ihrer Karriere zunehmend auf handgefertigte Produkte und die Individualisierung von Möbeln für bestimmte Projekte. Erst jetzt wird in Kooperation mit dem Lina Bo Bardi Institut eine auf 500 Stück limitierte Re-Edition des „Bowl Chair“ von Arper auf den Markt gebracht. Die originalgetreue Umsetzung des halbkugelförmigen Stuhls ist in der Produktion allerdings neuesten Technologien angepasst. Eine Trennung der Disziplinen Architektur und Design existierte für Bo Bardi so wenig wie eine zwischen Volks- und Hochkunst, Tradition und Moderne. Ihre bekanntesten Entwürfe verbinden diese Aspekte. Dabei handelt es sich um das Museum of Art in São Paulo (MASP), das zwischen 1957 und 1968 entstand. Bei dem Bau schwebt eine gewaltige Box aus Glas und Beton, gehalten von zwei roten Betonbügeln, acht Meter über dem Boden und schafft so einen riesigen freien Platz unter dem Museum. Für das Museum für moderne und volkstümliche Kunst in Salvador de Bahia (1959 -1963) entkernte Bo Bardi vorhandene Gebäude und griff nur minimal in deren Architektur ein. Das aufregendste neue Objekt darin ist eine grandiose skulpturale Wendeltreppe. 1977 begann die Idealistin mit der Arbeit an einem Sport- und Freizeitkomplex in São Paulo. Anstatt das alte Gebäude der leer stehenden Fabrik „SESC Pompéia“ abreißen zu lassen, baute sie die Gebrauchsarchitektur um. Es ist ein Statement, Architektur nicht nur um der Architektur willen zu errichten, sondern darin soziale Komponenten sichtbar zu machen und Hierarchien zu verhindern. Architektur hatte für Bo Bardi vor allem eine Bedeutung als Treffpunkt, wo Menschen zusammenkommen, ganz gleich, aus welcher Schicht sie stammen mögen. Das Werk der italienisch-brasilianischen Architektin würdigt aktuell die Ausstellung „Lina Bo Bardi: Together“, die in verschiedenen Städten in Europa Station machen wird und derzeit noch in Wien gezeigt wird. Eine in der Schau zu sehende Installation – ein Gemeinschaftswerk von Noemí Blager, Madelon Vriesendorp und Tapio Snellman – konzentriert sich unter anderem mittels Filmen darauf, wie Menschen Lina Bo Bardis Gebäude benutzen und reflektiert ihre Vision von einer Architektur der sozialen Verantwortung.
Lina Bo Bardi: Together
Vom 16.05. bis 12.06.2013
Täglich von 10 – 19 Uhr
Architekturzentrum Wien
www.azw.at
Viva Lina! Eine Italienerin in Brasilien
von Uta Abendroth | 22.05.2013
Einer der bekanntesten Entwürfe Bo Bardis ist das Museum of Art in São Paulo, welches von zwei roten Betonbügeln gehalten wird. Foto CC flickr / Rodrigo Soldon
Einer der bekanntesten Entwürfe Bo Bardis ist das Museum of Art in São Paulo, welches von zwei roten Betonbügeln gehalten wird. Foto CC flickr / Rodrigo Soldon
Für Bo Bardi war es wichtig dass Architektur eine soziale Verantwortung besitzt. Alle Videostills © Tapio Snellman
Lina lebte bis zu ihrem Tod 1992 in ihrem selbstentworfenen „Gläsernen Haus“. Foto CC flickr / Mishmoshimoshi
Das Kultur- und Sportzentrum Fábrica da Pompéia (SESC Pompeia) in São Paulo. Foto CC flickr / seier+seier
Architektur hatte für Bo Bardi vor allem eine Bedeutung als Treffpunkt, wo Menschen zusammenkommen, ganz gleich, aus welcher Schicht sie stammen mögen.
Die Architektin kombinierte Tradition und Moderne in ihren Gebäuden.
In Brasilien setzte die Architektin auf neue gesellschaftliche Entwicklungen und beteiligte sich an der Gestaltung der Moderne. 1978. Foto © Instituto Lina Bo e P.M Bardi
Das Werk der italienisch-brasilianischen Architektin würdigt aktuell die Ausstellung „Lina Bo Bardi: Together“ in Wien. Foto © Ioana Marinescu
Für das Gläserne Haus entwarf Lina Bo Bardi auch ihre eigenen Möbel, darunter 1951 den „Bowl Chair“. Foto © Arper