„Pro" von Konstantin Grcic (Flötotto), „Catifa 46" von Lievore Altherr Molina (Arper) sowie der Ahne all dieser und folgender Stühle, der „Plastic Chair" von Charles und Ray Eames (Vitra/Herman Miller). Foto © Flötotto, Arper, Vitra; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark
Vierbeiner mit Schale
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von Thomas Wagner
13.06.2015 Sie tragen Namen wie „Substance“ oder „Elephant“, „Alfi“ oder „Catifa“, „Dot“, „Pro“ oder „Sedan“. Entworfen wurden sie von so namhaften Designern wie Naoto Fukasawa, Konstantin Grcic, Alfredo Häberli, Lievore Altherr Molina, Jean-Marie Massaud, Jasper Morrison, Neri & Hu, Luca Nichetto, Scholten & Baijings und Marcel Wanders. Und doch folgen alle diese Stühle dem gleichen Schema. Beim Salone del Mobile in Mailand war es nicht zu übersehen: Es gibt ihn tatsächlich, den Universalstuhl des Jahres 2015. Nicht alle Modelle stammen aus diesem Jahr, die Welle hat sich über die letzten Jahre aufgebaut. Der Stuhltypus aber markiert offenbar so etwas wie den gegenwärtigen Stand der Technik, lässt sich relativ preiswert herstellen, befriedigt die Bedürfnisse der Nutzer und trifft deren aktuellen Geschmack. Vier Holzbeine, eine Kunststoffschale Wie er aussieht? Der universelle Stuhl unserer so vielfältigen Tage besitzt vorzugsweise vier Holzbeine oder ein aus Holz gefertigtes Untergestell, wird aber auch mit anderen Füßen oder Untergestellen, etwa aus Metall, angeboten. Auf den Beinen oder dem Untergestell montiert ist eine Sitzschale aus Kunststoff oder Recyclingmaterial, die es in verschiedenen – mal frischen, mal gedeckten – Farben, oft auch in Ausführungen mit und ohne Armlehnen gibt. Typologisch betrachtet entspringen Untergestell und Schale gleichwohl einer gemeinsamen Quelle. In dieser Hinsicht herrscht seltene Eintracht, weshalb es auf jedes Detail ankommt. Es sind die Feinheiten, die den Unterschied machen. Wer sich allein auf sein Auge verlässt und auf die Typologie achtet, übersieht sie leicht. Ein gemeinsamer Ahne Alle diese Stühle gehen auf einen berühmten Ahnen zurück. Was die Frage aufwirft: Orientiert sich zumindest das gängige gegenwärtige Möbeldesign insgeheim noch immer an den Grundlagen und Mustern, wie sie vor allem im „mid century design“ der 1940er und 1950er Jahre gelegt und ausgeprägt wurden? Bei dem Ahnen handelt es sich um keinen Geringeren als den „Plastic“ oder „Fiberglass Chair“ von Charles und Ray Eames. Die Idee, mittels dreidimensionaler Verformung von Sperrholzplatten körpergerechte und somit komfortable Sitzschalen herzustellen, beschäftigte die Eames bereits 1940. Technisch realisieren ließen sich solche Schalen damals freilich noch nicht. Die Eames aber gaben nicht auf und erforschten das Problem während des Zweiten Weltkriegs weiter. Ein erster Erfolg war die berühmte Beinschiene aus „moulded plywood“, die sie 1942 für die US-Navy entwickelt haben. Nach Kriegsende konnten die Eames das erworbene Know-how dann einsetzen, um Tische, Kindermöbel, Raumteiler und Stühle herzustellen, wobei Sitz und Lehne aber getrennt blieben. Die Idee einer körpergerecht geformten Sitzschale aus einem Stück ließ die Eames weiterhin nicht ruhen. Sie experimentierten mit Sperrholz und Aluminium, die Ergebnisse aber blieben unbefriedigend. Erst als sie bei der Suche nach Alternativen auf fiberglasverstärktes Polyesterharz stießen, deutete sich eine Lösung an. Als das Eames Office 1948 den internationalen Wettbewerb „Low Cost Furniture Design“ veranstaltete, reichte Charles die neue Stuhlserie ein. Der damals in der Möbelindustrie noch unbekannte Werkstoff machte es möglich, die Schalenentwürfe in Serie zu fertigen und neue technische und ästhetische Maßstäbe zu setzen. Der Kunststoff war preiswert, leicht formbar, fest und zugleich flexibel, und er besaß eine angenehme Haptik. 1950 kamen die Kunststoffschalen mit Armlehnen (A-Schalen) und bald darauf in einer einfacheren Variante (S-Schalen) auf den Markt. Es waren die ersten in Serie hergestellten Kunststoffstühle der Möbelgeschichte. In der Folge wurden sie mit einer Vielzahl von Untergestellen kombiniert, was ihre Einsatzmöglichkeiten erweiterte. Aus ökologischen Gründen wurde 1993 bei Vitra die Produktion der Fiberglas-Modelle eingestellt. Seit 1999 bzw. 2004 werden die „Plastic Chairs" wieder produziert, nun aus recycelbarem Polypropylen. Variatio delectat Heute müssen die Konsumenten zwar nicht mehr dazu gebracht werden, sich für modernes Design zu interessieren, die bewährten Muster scheinen trotzdem wenig von ihrer Attraktivität eingebüßt zu haben. Betrachtet man die aktuellen Nachfolger des Urtyps, so fällt auf: Was die organische Form der Schale selbst, deren Kanten und den Schwung der Rücken- und Seitenpartien angeht, so reibt man sich am Vorbild und erkundet weitere Varianten. Das gilt auch hinsichtlich der Verbindung von Gestell und Schale. Ferner hat sich das Angebot an (recyclingfähigen) Materialien sowie deren Farbigkeit und Haptik wesentlich erweitert. Schale, Schwung und Kante So arbeitet – um nur wenige Beispiele herauszugreifen – Alfredo Häberli bei seinem „Erice Chair“ mit einer durchbrochenen Schale, bei der „Segesta“-Serie (beide für Alias) mit filigranen, aus dem oberen Teil der Schale entspringenden Armlehnen. Den „Hal“(Vitra) von Jasper Morrison gibt es nicht nur mit einer an den Seiten geöffneten und an der vorderen Kante deutlich nach unten kippenden A-Schale und einer sanft gebogenen S-Schale. Er wird in dieser Variante zudem sowohl in Sperrholz als auch in Kunststoff (sowie mit einer leicht gepolsterten und mit Leder bezogenen Schale) angeboten und lässt sich mit nicht weniger als 15 Untergestellen kombinieren. Die Schale von Morrisons in Mailand vorgestellter „Alfi“-Kollektion (Emeco) hingegen verbindet einen flachen Sitz mit einer gerundeten, den unteren Rückbereich umfangenden und von einer Grifföffnungdurchbrochenen Lehne. Die Schale besteht komplett aus recycelten Abfallstoffen (92,5 Prozent Polypropylen und 7,5 Prozent Holzfasern), das Gestell wird von Handwerkern der Amish aus lokalem Eschenholz gefertigt. Luca Nichetto (Casamania) hingegen tailliert bei „Stereo Wood“ die auf einem mit Kreuzstreben versehenen Gestell sitzende Polypropylen-Schale und verleiht ihrer deutlich dreidimensionalen Form einen zusätzlichen Akzent, indem er sie an den oberen Seiten nach hinten umkantet. Neri & Hu bauen für den „Sedan Chair“ (Classicon) ein komplettes Stuhlgestell aus Holz, über das eine an den Rändern abgekantete Schale gesetzt ist. Konstantin Grcic wiederum gestaltet bei seinem „Pro“ (Flötotto) den Sitz der Schale rund, gibt der Lehne einen deutlichen zweifachen Schwung, der die Form dynamisiert und an eine menschliche Wirbelsäule erinnert. Auf diese Weise schafft er Raum für unterschiedliche Sitzpositionen und integriert eine Lordosenstütze. So deutlich die Unterschiede auch zutage treten, das typologische Muster bleibt ein und dasselbe. Es gibt ihn also wirklich, den Universalstuhl des Jahres 2015. Man muss ihn nur in allen seinen Varianten erkennen – und auf die feinen Unterschiede achten. MEHR auf Stylepark: Im Universum der Stühle: Trotz vieler technischer Neuerungen dominiert momentan die Vorstellung des Substanziellen und Supernormalen. Design als Gesprächskultur: Thomas Edelmann traf Jasper Morrison, um mit ihm über das Erwachsenwerden, Arbeiten an verschiedenen Orten und Schalensitze zu sprechen. |
„Alfi" von Jasper Morrison (Emeco) im Querschnitt zum „Plastic Chair" von Charles und Ray Eames (Vitra/Herman Miller). Foto © Emeco, Vitra; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark
„Sedan" von Neri & Hu (Classicon). Foto © Classicon; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark
„Elephant" von Eva Paster und Michael Geldmacher (Kristalia).
Foto © Kristalia; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark „Sharky" von Eva Paster und Michael Geldmacher (Kristalia).
Foto © Kristalia; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark |
„Duna 02" von Lievore Altherr Molina (Arper). Foto © Arper; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark
„Form Armchair" von Simon Legald (Normann Copenhagen) im Querschnitt zu „Elephant" von Eva Paster und Michael Geldmacher (Kristalia).
Foto © Normann Copenhagen, Kristalia; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark „Erice" von Alfredo Häberli (Alias). Foto © Alias; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark
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„Pro" von Konstantin Grcic (Flötotto) und „Alfi" von Jasper Morrison (Emeco).
Foto © Flötotto, Emeco; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark Zweimal „Hal" von Jasper Morrison (Vitra) mit Metall- und Holzbeinen. Foto © Vitra; Grafik © Sarah Böttger, Stylepark
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