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"Arrival Chair" des Wiener Design Brand Reduce, das Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung als Ausgangspunkt für jeden Designentwurf setzt.

VIENNA DESIGN WEEK 2022 – REVIEW
Design Revolution Jetzt

Die Vienna Design Week, Österreichs wichtigstes multidisziplinäres Designfestival, stellt bis zum 25. September 2022 mit einem vielfältigen Programm die Wiener Designlandschaft dem internationalen Publikum vor. Demokratisches Design, Nachhaltigkeit und die Frage nach der gestalterischen Identität in Krisenzeiten stehen im Fokus.
von Anna Moldenhauer | 19.09.2022

"Ein Festival, wie ich es mir vorstelle, muss gleichzeitig Palast und Bauwagen, Forum, Baumhaus, Feinkostladen und Sternwarte sein", sagt Gabriel Roland, Leiter der Vienna Design Week. Das Event ist seit jeher divers im Konzept, schwellenfrei wie kostenlos im Zugang und bietet eine lebensnahe Vermittlung von Gestaltung – über alle Grenzen zwischen Fachgebieten, Gesellschaftsschichten und Orten hinweg. In den Ausstellungen, Talks, Touren, Workshops und Screenings erfährt man eindrücklich, welche Rolle die Arbeit von DesignerInnen für das Zusammenleben spielt. Im diesjährigen Fokusbezirk Mariahilf gibt es zwar keine Präsentation eines Gastlandes, dafür aber gleich drei Festivalzentralen: Gasse, Gewölbe und Gstättn. Ein prächtiges Zinshaus in der Esterházygasse 22, eine ehemalige Garage am Fuße der Rahlstiege und eine brachliegende Baulücke in der Mollardgasse dienen als Treffpunkte wie als Schauräume. Dazu kommen zahlreiche Wiener Traditionsgeschäfte, die ihr renommiertes Handwerk mit zeitgenössischen Ideen der GestalterInnen auffrischen, sei es mit Hilfe von Anna Zimmermann, die die gebogenen Metallprofile der Maria-Theresien-Kronleuchter von Bakalowits in den Fokus rückt, oder das Designlabel Simiaen, das die Teetassen "Licking Rocks" aus Naturstein in der Saint Charles Apotheke ausstellt – inklusive eines Tees auf Flechtenbasis, ein Gewächs, das den Geschmack der Umgebung annimmt, aus dem es stammt. Lobmeyr zeigt die zarte "Moire"-Gläserkollektion von Bodo Sperlein, die von der gleichnamigen Seidenweberei-Technik inspiriert ist und dessen feine Verzierung an die Maserung von Holz erinnert. Dazu gesellen sich die glänzenden Ergebnisse der Zusammenarbeit mit Bodo Sperlein und dem Wiener Silberschmied Jarosinski & Vaugoin: "Orlo" heißt die neue Kollektion von Schalen, Vasen und Tabletts aus 925er Sterlingsilber. Die gewellte Textur jedes Objekts wurde unter Einbeziehung historischer Elemente aus dem Archiv von Jarosinski & Vaugoin entworfen und ist eine Hommage an den Wiener Jugendstil.

Anna Zimmermann rückt die gebogenen Metallprofile der Maria-Theresien-Kronleuchter von Bakalowits in den Fokus.

Ebenso genau schaut Jutta Goessl auf die Details der Prozesse und Systeme der Gestaltung, um diese zu optimieren und einem breiteren Publikum zu öffnen. Für Österreichs ersten digitalen Online-Bauernmarkt markta hat sie mit der Schweizer Bieri Gruppe ein kreislauffähiges Konzept für Premiumverpackungen geschaffen. Selbst die Präsentation der Prototypen im Palmengarten ist nachhaltig gedacht: Das "Crate House" wurde kurzerhand aus Mehrwegbehältern von Ifco Systems gebaut und kann nach Ende der Veranstaltung komplett in den Kreislauf zurückgebracht werden. Ein holistischer Ansatz, der viele Arbeiten auszeichnet, die auf der Vienna Design Week zu sehen sind. Für die Produktion von Möbeln und Accessoires bieten modulare Baukastensysteme gute Voraussetzungen – wie die Keramiken der "Nour Serie", die Kerstin Pfleger und Peter Paulhart vom Designlabel "Reduce" entworfen haben. Diese werden mit ein und demselben Gussformen-Baukastensystem von Hand in Österreich hergestellt und lassen viele unterschiedliche Kombinationen der Produktionsformen zu. Der Einsatz von Material und Energie wird so auf ein Minimum reduziert und eine neue Ästhetik daraus abgeleitet. Die Rillen, die die Formen auf der Oberfläche hinterlassen – ein Nebenprodukt des Herstellungsprozesses – werden zu einem markanten Gestaltungsmerkmal. Den Prozess der Entstehung einer Kaffeetasse von der Skizze bis zum finalen Produkt vermittelt indes Barbara Gollackner sehr anschaulich anhand dreier Beispiele, den "Three Cups of Coffee".

Jutta Goessl in Kooperation mit dem digitalen Online-Bauernmarkt markta: Kreislauffähiges Konzept für Premiumverpackungen und Installation "Crate House"

Schon 2012 stellte das Institute of Design Research Vienna in Kooperation mit Designaustria auf der Vienna Design Week die "Werkzeuge für die Designrevolution" vor. 10 Jahre später erscheint ihr Slogan "Design Revolution Now" auf den Wänden der Ausstellungsräume in der Rahlgasse so dringlich wie nie. Ein Lösungsansatz der Kreativen auf der Vienna Design Week ist es Prozesse zu vereinfachen, um nachhaltiges Design fest in den Alltag zu integrieren. Wie seitens "ClipHut", ein innovatives Holzbausystem, das sich leicht montieren und demontieren lässt. Keine Schrauben oder Kleber sind nötig, es braucht nur ein Werkzeug. "Unser Ziel ist es, nachhaltiges Wohnen in jeden Haushalt zu bringen", so das Credo. Die Wiener GestalterInnen haben verstanden, dass Design eine Schlüsselrolle für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft spielt, und richten ihre Produktentwürfe danach aus. Industriedesign-Studierende der University of Ferrara zeigen mit der Ausstellung "#Openfurnishings" geradezu ein Manifest für selbst produzierte Möbel: offene Produktion, geteiltes Wissen und die verantwortungsvolle Nutzung von Ressourcen. Ivano Vianello und Laura Bortoloni, die Professoren des Studiengangs, folgen dabei dem Leitsatz Enzo Maris "Nur Design, das Wissen vermittelt ist Design." Zwölf Modelle als Sitzgelegenheiten für den Außenbereich hat die Gruppe entworfen, jedes mit einer genauen Anleitung wie diese gebaut werden können. Mittels der Selbstkonstruktion soll der Blick der KonsumentInnen für einen verantwortungsvollen Umgang mit den Produkten geschärft werden. Über die Zugänglichkeit digitaler Möbelmodelle können diese stets verändert und verbessert werden, um einen offenen Designprozess zu unterstützen, der auf der Nutzung zugänglicher Ressourcen basiert.

Thomaz da Silva Lopes Vieira, Gründer von ClipHut
Holzkonstruktionssystem für Möbel und Minimalhäuser von ClipHut

Benedikt Stonawski und Hauke Unterburg, die mit ante up ein Studio für kreislauffähiges Produkt- und Möbeldesign in Wien führen, zeigen zudem wie nützlich parasitäres Design im Stadtraum sein kann. In Zusammenarbeit mit der Wirtschaftskammer Wien und Gewerbetreibenden vor Ort haben sie für das neue Format "Ums Eck" ein Konzept entworfen, dass den Winkel zwischen Ottakringer Straße und Wattgasse im 16. Bezirk von Wien nachhaltig aufwerten soll. Mit Mobiliar wie Stehtischen und -sitzen aus Thermoholz, das an Verkehrsschilder montiert wird, schaffen sie für die PassantInnen mit einem minimalen Eingriff eine Möglichkeit zum Verweilen. Die passenden Pflanzkübel bieten parallel die Möglichkeit, die sonst eher karge Fläche unkompliziert zu begrünen. Modulare Elemente, aus denen sich Outdoormöbel formen lassen, kreiert darüber hinaus der Hersteller Miramondo mit Systemen für Bänke und Tische wie "King Arthur" oder "Merlin". Demokratisches Design, das jeder und jedem schöne, funktionale, langlebige und erschwingliche Möbel bietet – da durfte der Möbelgigant Ikea natürlich nicht fehlen und setzte in einer umfangreichen Schau eine Auswahl seiner Klassiker in Szene. Wie einfach die Stromgewinnung für die Gemeinschaft auf städtischen Plätzen funktionieren kann, erklärt hingegen die temporäre Installation "OK Solar" und produziert diesen mit Solar-Regenschirmen, dessen Solarpanele anderorts ausrangiert wurden. Stefan Diez, Leiter der Abteilung "Industrial Design 1" an der Universität für angewandte Kunst Wien hat das Konzept gemeinsam mit den Studierenden entwickelt.

Benedikt Stonawski (li.) und Hauke Unterburg (re.) von ante up für das Format "Ums Eck"

Für mehr Sichtbarkeit und Wertschätzung von migrantischen Positionen im Design hat die Vienna Design Week mit kültüř gemma! eine Fellowship ausgeschrieben, in dessen Zuge die Künstlerin Natalia Gurova ausgewählt wurde, mit den MentorInnen des niederländischen 1m2 Collective eine Schau zu erarbeiten. Die Exponate des "Liquid House" stehen so exemplarisch für Fragen historischer und kultureller Identität sowie für die (Un-)-Zugänglichkeit von Ressourcen, formellen und informellen Strukturen und Netzwerken. Zum Programm gehören Workshops, in denen die TeilnehmerInnen Möbelmuster erarbeiten und die finanzielle, institutionelle, soziale oder politische Restriktion als objektgewordene Metapher ausdrücken. Für Chancengleichheit unter den GestalterInnen tritt zudem Co/rizom ein, indem sie als Nichtregierungsorganisation und soziales Unternehmen KunsthandwerkInnen hilft, kleine Unternehmen zu gründen und ihre Produkte in den Einzelhandel zu bringen. Im Kontext der Vienna Design Week zu sehen war auch die Ausstellung "Same Hands" der portugiesischen Schule Esad.cr Escola Superior de Artes e Design Caldas Da Rainha – Politécnico, die Kreative dazu ausbildet individuelle Erfahrungen in sozial relevante Gestaltung einfließen lassen.

Mit sozialen und politischen Systemen sowie ihrer physischen Repräsentation beschäftigt sich zudem Jakob Glasner, der mit offenem und nachhaltigem Design experimentiert, um mögliche Alternativen aufzeigen. Für die "Salone Bench" ließ er sich von den Metallträgern inspirieren, die in den Mailänder Messehallen abseits der Stände zu finden sind und gerne von den BesucherInnen der Veranstaltungen wie der internationalen Möbelmesse Salone del Mobile als Sitzgelegenheit für eine kurze Pause genutzt werden. Glasner kopierte die Form der vom Publikum intuitiv zweckentfremdeten Objekte mit Stahlgitter, füllte sie mit Verpackungsmaterial und Einweg-Baumaterialien, die nach dem Ende der Messe übriggeblieben waren und stellt uns so die Frage, was die Bedeutung von Möbeln eigentlich ist.

Installation "Just add water" von Laufen und NM3

Dass eine Herstellerpräsentation auf einem Designfestival ganz ohne Produkte aus dem eigenen Sortiment funktionieren kann, beweist Laufen mit Nicolò Ornaghi von NM3. BesucherInnen, die dessen sensorische Installation "Just add water" zur Zukunft des Designs im Badezimmer auf der Alcova während des diesjährigen Salone del Mobile verpasst hatten, können diese nun in Wien erleben. Zwei freistehende Stahl-Monolithen und eine LED-Leinwand mit Filmen von unter anderem Marc Comes zum Kosmos des Wassers werden dabei von Klängen durchzogen, die über die Konstruktion nachhallen. Hintergrund ist die aktuelle Konzeption von Produkten aus sortenreinem Edelstahl, die NM3 für Laufen erstellt.

"Die Architektur des Festivals erschließt überall präsente, aber dennoch oft schwer fassbare Fragen der Gestaltung und macht sie für BesucherInnen zugänglich – und sie ist ein Dach, für alle, die an der Baustelle Design arbeiten, wo man Pause vom business as usual machen kann, zum Reflektieren, Orientieren und zum Austausch", so Gabriel Roland. Diesen Anspruch zu erfüllen, ist ihm und seinem Team mit Bravour gelungen.


Vienna Design Week

Bis 25. September 2022