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Hybrid Space Making von Morphtopia vor The Social Hub in der Nähe des Pratersterns

VIENNA DESIGN WEEK 2024 – REVIEW
Angewandt bis experimentell

Vor kurzem ist die Vienna Design Week gestartet: Noch bis zum 29. September 2024 kann man in der "City Full of Design" erfahren, was der Direktor Gabriel Roland meint, wenn er sagt, dass "ein Festival eigentlich wie Weihnachten" sein sollte.
von Elisabeth Bohnet | 24.09.2024

Mit seinem Team hat Gabriel Roland ein reichhaltiges Angebot kuratiert, das sich als experimentelle Plattform verstanden wissen will. "Wenn eine Messe die Potenz des praktischen Alltags der Designbranche ist, soll ein Festival wie Weihnachten sein", reflektiert er am Vorabend der Eröffnung. "An Weihnachten ist alles anders, man schenkt, anstatt zu nehmen, man kommt zur Ruhe und hat Zeit, anstatt zu hasten. Und im besten Fall sollte man von diesem großartigen Ausnahmezustand ein klein wenig in seinen Alltag hinüberretten." Experimentell und dennoch nahbar sein, das gelingt dem Festival, indem es einerseits einen speziellen Ort mit Ausstellungen zu unterschiedlichen Themen bespielt und andererseits mit niederschwelligen Angeboten in die Stadt ausstrahlt. Rund 40.000 BesucherInnen lockt das Design Festival jährlich in die österreichische Hauptstadt, das mittlerweile im 18. Jahr stattfindet.

Mitten im Fokusbezirk Landstraße liegt die Festivalzentrale in diesem Jahr und anders als sonst bespielt sie einen Neubau vor Erstbezug. Geplant vom Architekturbüro Artec ist das "Docks" der erste fertiggestellte Teil des sogenannten Village im Dritten. Am Landstraßer Gürtel Ecke Landstraßer Hauptstraße sollen 4000 Menschen Heimat finden. Belebt wird das Gebäude dank der Vienna Design Week bereits vorab: In insgesamt vier Hallen wird ein buntes Bouquet der Gestaltung präsentiert. Die Ausstellung "Design Everyday" gewährt einen Einblick in die reguläre Tätigkeit von österreichischen Designstudios und zeigt das Potenzial der heimischen Designszene auf. Die drei Teams, die von der Erste Bank für das Stadtarbeit-Projekt unter dem Slogan "Vermehrt Schönes!" ausgewählt wurden, beschäftigen sich mit Essensabfälle und die Möglichkeit, diese zu nutzen (Kiosk T//Waste), mit den Verbindungen fiktionaler und realer Erfahrungen im Stadtraum (An Urban Legend to Be) oder mit lokalen mikroklimatischen Bedingungen einer Stadt (Wiener Klimahöfe). Für letzteres hat das Future Problems Architecture Studio die in der Stadt gemessenen Sonnenstunden kartiert. Über ein Farbsystem ist sowohl auf dem Stadtplan als auch anhand aufgehängter Tücher im Stadtraum ersichtlich, wo sich das lokale Maximum mit 800 Sonnenstunden befindet bis zum Blau markierten Minimum mit maximal zwei Stunden. Das Programm lädt noch zu unzähligen Talks und Spaziergängen ein, und am 26. September wird zum zehnten Mal der Erste Bank Social Designpreis verliehen.

In der Ausstellung "Fokus: Trash", kuratiert von Nina Sieverding und Anton Rahlwes sind Leuchten aus recyceltem Kerzenwachs, Salamiblumen fürs Haar oder Wiener Geflecht aus Plastik zu entdecken. Angewandter geht es auf dem Balkon zu, dort sind neben massiven Tischlermöbeln von Brauchst aus Gratkorn Leuchten von Sphaer zu sehen, die mit ihren rosafarbenen Glaskugeln ein warmes Licht erzeugen. Handgefertigt in anspruchsvollen Kooperationen, wie mit der in Istanbul arbeitenden Produktdesignerin Bade Erol, möchte die Gründerin und Produktdesignerin Leni Piëch mit dieser Kollektion die Mächte griechischer Göttinnen in Licht verwandeln.

Nina Sieverding und Anton Rahlwes GastkuratorInnen von Fokus: Trash
Wiener Plastikgeflecht von Oliver Telegdy
Vase aus recyceltem Wachs vom sa-k design studio

Der Fokus lag beim Beitrag von Studio Red weniger auf funktionalen als formellen Aspekten, doch gerade die spielerische Komponente der klassischen vier Zimmerelemente Tisch, Stuhl, Bett und Regal machen Lust, sie auszuprobieren. Besonders das Regal, dessen ineinander gestapelte Kuben auf Schienen bewegbar sind, animieren zum Bestücken. Der Mensch wird über Florian Appelts Kunstwerke präsent. Aus Schaumstoff hat er mit heißem Draht eine Form geschnitten, die in diesem Fall die Wirbelsäule verkörpern soll und damit eine Person repräsentiert, die auf einem dysfunktional schrägen Bett ruht. Neue Formen des Liegens zeigt auch die Ausstellung "Dare to dream" von Ikea – der Beitrag des Künstlers Oliver-Selim Boualam weckt Kindheitserinnerungen: für BEEEEEEEEEETT hat er das Bettgestell "Hemnes" in ein Schaukelbett für Erwachsene verwandelt, auf dem man sich in den Schlaf wiegen lassen kann.

In den vielen Positionen, die sich übersichtlich strukturiert im Rohbau verteilen sind theoretische Ideen ebenso wie praktische Umsetzungen präsent und zeigen das breite Spektrum experimenteller Gestaltung der Gegenwart. Im Hospitality-Bereich der Festivalzentrale findet der Anspruch, die Stadt als Ressource zu nutzen, eine konkrete Umsetzung. Das frisch gegründete Studio dreiSt hat aus lokalen Materialien, etwa dem Aushub von einer Baustelle der Wiener Linien, Tische, Stühle und eine Bar fabriziert. Sechs Wochen lang haben die Architektur-DiplomandInnen Sophie Coqui, Luisa Zwetkow und Martin Kohlbauer die Szenerie in Handarbeit entstehen lassen. Eigens gefertigte Ziegel bilden variable Tische, Hocker und eine Bar, Mycelium wächst auf gewebten Textilien zu raumteilenden Panels. Gemeinsam mit diversen PartnerInnen wie der Biofabrique, die wiederum vom Atelier Luma aus der Camargue lernt, entsteht hier ein neuer Arm des Netzwerks rund um das zirkuläre, bioregionale Bauen. "Die Donau etwa wird regelmäßig vom Algenbewuchs befreit, um die Fahrrinne freizuhalten, da fallen Unmengen organischen Materials an. Aktuell gilt das direkt nach Schnitt als Müll und muss dementsprechend entsorgt werden, aber auch die Wiener Abfallwirtschaft ist begeistert von den Ideen und Möglichkeiten, die sich an solchen Stellen auftun", so Elisabeth Noever-Ginthoer von der Wirtschaftsagentur Wien, die das Projekt unterstützt. Mittlerweile hat die Biofabrique 100 Rezepturen für Baustoffe erstellt, von denen bereits 20 in der Testung sind.

Festivalzentrale mit Möbeln von Studio dreiSt

Um Netzwerk und inspirierende Synergien geht es indes bei den Passionswegen, für die jeweils ein Wiener Handwerksunternehmen mit DesignerInnen aus anderen Feldern zusammenkommen. Seit Anbeginn Teil der Vienna Design Week ist die Manufaktur Lobmeyr. "In diesem Jahr ist zum ersten Mal ein Kronleuchter Ergebnis der Kooperation," so Miteigner Leonid Rath. Flora Lechner hat sich für "Intamed Balance" mit dem Lüster auseinandergesetzt – und über die Balance nachgedacht: "Ich arbeite viel mit Metall, und als ich zum ersten Mal in Lobmeyrs Werkstätten war, fand ich es wahnsinnig faszinierend, dass so viel Metallarbeit anfällt, aber im Ergebnis das Glas im Vordergrund steht. Ich wollte gerne ein Gleichgewicht zwischen den beiden Materialien herstellen." Diese Balance hat die junge Künstlerin in die Formsprache eines Mobiles übertragen, die floralen Elemente stehen sinnbildlich dafür, dass das Gebilde weiterwachsen kann. Eigenhändig hat Flora Lechner die Kristalle verdrahtet, die nicht fixiert sind und deswegen individuell umgehängt werden können.

Wie die Werkstätten von Lobmeyr befindet sich auch Kirsten Lubachs Atelier im dritten Bezirk. Sie ist die einzig verbleibende Kupferstecherin in Wien und war im Duo mit Designer Alexandre Delasalle zum ersten Mal Teil der Passionswege. "Ich liebe es, die Grenzen der Technik neu auszuloten", verrät die Wahlwienerin. Mit Alexandre Delasalle verbindet sie das Interesse an Bildsprache und Schriftzeichen. In einem wilden Potpourri, etwa aus klassischen Ornamenten aus den Archiven des Kupferstichkabinetts bis hin zu Manga-Figuren und Werbefotografien von Supermärkten, haben die beiden eine eigene Bildwelt geschaffen – und diese auf Seide gedruckt. "Seide ist ein sehr eigensinniges Material und das Wissen, wie man es bedruckt, ist verloren gegangen", sagt Kirsten Lubach. Wie ihre Arbeit praktisch funktioniert, können BesucherInnen noch an zwei Terminen beim Schaudrucken erleben.

Passionswege: Flora Lechner und Lobmeyr
Passionswege: Alexandre Delasalle und Kupferstich- und Druckatelier von Kirsten Lubach

Im Polnischen Institut im ersten Bezirk ist die Ausstellung "Sustainability and Accessibility" zu sehen, für die Arbeiten von Studierenden und AbsolventInnen der Akademie der bildenden Künste Krakau zusammengetragen worden sind. Darunter etwa Jakub Święcickis Arbeit "Touching the City", für die er die Struktur von Metallarbeiten an polnischen Toren in ein fühlbares Bild übertragen hat. Damit macht er es blinden Menschen möglich, deren Gesamterscheinung auf Papier oder Textil zu erfühlen. Olga Konik hat sich dem Reparieren verschrieben: Fasziniert davon Neues aus Altem zu schaffen, bietet sie Workshops für zum Beispiel Jugendliche an und versucht sich an den unterschiedlichsten Produkten, von der alten Schürze bis zum iPhone.

Eine Straße weiter hat Laufen seinen Showroom und zeigt die Ausstellung "Colour Archeology", bevor diese in den anderen Laufen Spaces präsentiert werden soll. Roberto Sironi hat in langjähriger Forschung zu historischen Farben aus allen Kulturregionen eine neue Palette begründet, mit der die Produkte von Laufen für den Objektbereich individuell angefertigt werden können. Unweit des Pratersterns befindet sich zudem "The Social Hub". Als Ort für neue Formen des Zusammenwohnens bietet das Gebäude den passenden Raum für Gonzalo Vaíllos temporäre Architektur, für die der Gründer von Morphtopia städtische Bauabfälle zu einer Installation montiert hat. Ohne primäre Funktion möchte er diese den NutzerInnen überlassen.

Eher dokumentarisch geht es im MAK – Museum für Angewandte Kunst zu. Dort ist das fotografische Werk Adam Štechs zu bestaunen, der die architektonischen Elemente in internationalen Kontexten zu einem riesigen begehbaren Bildarchiv versammelt hat. Eine Etage darunter hat jüngst die Ausstellung AUT NOW eröffnet, die insgesamt 100 Designprodukte aus österreichischer Feder versammelt. Georg Schnitzer und Peter Umgeher von Vandasye haben mit der Kuratorin Marlies Wirth ausgewählte Designs der letzten 25 Jahre in ein erfrischendes Raster gebracht und insgesamt 25 Kategorien erstellt – von "alpin" bis "zirkulär". Unweit davon lohnt ein Besuch des Einrichtungshauses Ecker am Schubertring, dessen Showroom erst kürzlich eröffnet wurde. Das Séparée ist unter dem Motto "Italy meets Japan in Vienna" gestaltet worden und kombiniert Möbel der Marken Boffi, De Padova und Time & Style – mit traditionellem Handwerk restauriert, laden die Räume zum Verweilen ein.

Auch die Arbeiten der Industrial Design Klasse an der Universität für angewandte Kunst können während der Vienna Design Week erkundet werden: Unter der Leitung ihres Professors Stefan Diez haben sich die Studierenden mit dem Thema Reisen beschäftigt. In einem fiktiven Reisebüro "Diez Reisen" sind die Ergebnisse ihrer Erkundungen zu sehen. "Während des ganzen Semesters haben wir uns damit beschäftigt, wie Menschen reisen. Eigentlich hatten wir als Aufgabe nur die Anweisung, irgendwo hinzugehen und zurückzukommen bevor das Semester endet. Alle waren frei das zu tun, was sie wollten und herauszufinden, auf welche Reisen sie sich begeben wollten", erklärt Student Valentin Bauer. Das Ergebnis verdeutlicht: Reisen zeigt essenzielle Bedürfnisse auf, Reisen bildet und Reisen macht kreativ. Bis zum 29. September 2024 kann man noch zur Vienna Design Week reisen und sich selbst davon überzeugen.