PORTRAIT
Lebendig wie immer
Am 6. Oktober wäre Vico Magistretti 100 Jahre alt geworden. Für die Designcommunity in aller Welt ein Grund zu feiern. Dabei ist die Hundert inzwischen ein kritisches Alter. Noch vor einigen Jahren stand diese magische Zahl für die Schwelle zu einer besonderen Form von Ewigkeit. Eine Designerin oder ein Architekt, die sie überwand ohne in Vergessenheit geraten zu sein, rückte wie von selbst in eine Art virtuellen Olymp der Gestaltung auf. Inzwischen sieht das anders aus. Zwischen dem Status eines Designstars und dem vollständigen Vergessenwerden liegt mitunter nur eine Saison. Das galt nie für Magistretti. Dabei wird es immer enger am Wohnort der Designgöttinnen und Designgötter. Seit den 1920er Jahren hat die Zahl der bedeutenden Aktiven dramatisch zugenommen, die als Gestalter ein relevantes Werk hinterließen, Neu- und Wiederentdeckungen eingeschlossen. Noch immer wird das Werk Vico Magistrettis von jeder Generation neu entdeckt. Zu seinen Lebzeiten wirkte er als Dozent in Venedig, Mailand, Wien und London und bildete Designerinnen und Designer aus – Patricia Urquiola gehört zu seinen Schülerinnen, Jasper Morrison und Konstantin Grcic studierten bei ihm am Royal College of Art in London. Gerade zieht er wieder junge Gestalterinnen und Gestalter in seinen Bann. Zum Beispiel mit seinen Stühlen: "In meinem Leben habe ich etwa fünfzig Stühle gemacht," erzählte Vico Magistretti in der Rückschau, "vielleicht bleiben zehn davon übrig, aber wenn ich nicht alle fünfzig gemacht hätte, würde es auch diese zehn nicht geben.
Die Designtheoretikerin Anniina Koivu, die an der Hochschule ECAL in Lausanne lehrt, publizierte kürzlich eine Untersuchung der 300 wichtigsten Einrichtungsgegenstände, die Vico Magistretti entwarf. Immerhin 70 davon sind noch oder wieder auf dem Markt. Studentinnen und Studenten der Hochschule inszenierten einige der Möbel und Leuchten fotografisch mit heutigem Blick. Vor allem aber spürten sie dem Schicksal von zwölf ikonischen Entwürfen nach und recherchierten, was dazu führte, dass diese aus der Produktion genommen wurden. Mal war eine große Zahl von Kopien der Auslöser, mal war ihre Herstellung im Laufe der Zeit zu teuer geworden oder sie waren zwar medial erfolgreich, aber kein Markterfolg. Als Quelle dienten das Archiv der Fondazione Vico Magistretti in Mailand, Zeitschriftenartikel und Interviews mit Unternehmen und deren früheren Entscheidungsträgern. Dieser Ansatz mag designhistorisch beispielhaft und interessant sein, er erklärt aber umgekehrt nicht den bis heute andauernden Erfolg vieler Magistretti-Produkte, die weder bei Herstellern noch bei Käufern aus dem Fokus gerieten. Magistrettis Werk ist keine Angelegenheit für obsessive Sammler, zu seiner Haltung passt der praktische Gebrauchsnutzen seiner Gegenstände, die daher viele Trends und Strömungen überleben.
Gelegentlich gibt es relevante Neuauflagen. So kam der Stuhl "Carimate" neu auf den Markt. Eines von Magistrettis typischen, weil auf den ersten Blick unscheinbaren Objekte. Deren konzeptionelle Qualität und Dauerhaftigkeit offenbart sich manchem erst auf den zweiten Blick. Das gilt auch für "Carimate" von 1960, dem ersten Produkt aus der langjährigen Zusammenarbeit mit Cesare und Umberto Cassina. Er entstand für das Restaurant des gleichnamigen Golfclubs aus den frühen 1960er Jahren, dessen Gebäude ebenfalls von Magistretti stammen. Dort sorgte der Stuhl mit traditioneller Erscheinung und seinen nach vorn geneigten Armlehnen und einem Sitz aus geflochtenem Bast lange für beiläufige Eleganz und Bequemlichkeit. Cesare Cassina endeckte "Carimate" als Ikone, anlässlich des Geburtstags bringt Fritz Hansen den Stuhl neu heraus. Unabhängig von ihrem kommerziellen Erfolg seien jene seiner Entwürfe die bedeutendsten, stellte Magistretti einmal fest, "die ein bisschen die Geschichte der Firma mitgeschrieben haben, für die ich sie entwarf."
Und Firmen, die er prägen half, gibt es einige: Neben Cassina, den Bettenhersteller Flou, die Küchenmarke Schiffini, die Leuchtenfirmen Oluce und Artemide (wobei letztere auch Kunststoffmöbel von Magistretti produzierte). Stühle mit Sitzschalen aus Kunststoff entwarf er gelegentlich für Kartell, solche mit Schalen aus Holz für Fritz Hansen. Aus einigen Arbeitsbeziehungen wurden über die Jahre enge Freundschaften. Für Maddalena De Padova, die skandinavisches, deutsches und japanisches Design in ihrem wunderschönen Showroom in Mailand bekannt machte, entwarf er nicht nur Möbel, sondern war gesuchter Gesprächspartner. Von ihm sind zahlreiche Skizzen und Zeichnungen überliefert. "Den wirst du nicht mögen", schrieb er zu einem Scribble seines "Silver"-Stuhles für de Padova, das er seiner Auftraggeberin per Post schickte. Maddalena de Padova hatte ihn aufgefordert, sich von klassischen Thonet-Stühlen inspirieren zu lassen. Stattessen entdeckte er auf einer Japan-Reise traditionelle Körbe, deren Struktur ihn zu einer Lösung für Sitz und Lehne inspirierten. Noch besser gefiel es ihm, seine Ideen den Herstellern per Telefon durchzutelefonieren. Die Einfachheit seiner Entwürfe müsse sich so am besten vermitteln, befand er. "Ich erkläre sie ihnen mit einfachen Formen – ein Quadrat, ein Dreieick – und mit den Maßen."
Wer sich mit den Werken Magistrettis befasst, der gelangt auch rasch zu seiner Biografie. Als Lodovico Magistretti in Mailand geboren, wuchs er in einer Umgebung auf, in der sein Großvater Gaetano Besia (1791–1871) und sein Vater Pier Giulio Magistretti (1891–1945) als Architekten sichtbar Spuren hinterließen. So gehörte der Vater zu den Architekten des Palazzo dell’Arengario in Mailand, einem faschistisch-rationalistischen Bau, der 1939 begonnen, nach Kriegszerstörungen erst 1956 fertiggestellt wurde. Viele Mailänder Architekten, darunter die bekannte Gruppe BBPR suchten nach modernen Ausdrucksformen im faschistischen Staat. Nach der alliierten Invasion auf Sizilien im Juli 1943 spitzten sich die Zustände im Norden Italiens zu. Nur langsam drangen die Alliierten hierhin vor, deutsche Wehrmacht, Sicherheitspolizei und faschistische Banden wüteten gegen Partisanen und Zivilbevölkerung. So musste BBPR Mitgründer Ernesto Nathan Rogers wegen der italienischen Rassengesetze bereits 1939 in die Schweiz flüchten, wo er in Genf und Lausanne unterrichtete. Vico Magistretti, der in diesem Jahr sein Architekturstudium am Mailänder Politecnico begonnen hatte, emigrierte 1943 mit 23 Jahren in die Schweiz. Dort traf er auf Ernesto Rogers, der Architekturstudenten bereits auf neue Perspektiven in Städtebau und Planung im Nachkriegsitalien vorbereitete. Von Rogers und anderen Modernen geprägt, schloss Vico Magistretti 1945 sein Studium in Mailand ab. Kurz zuvor war sein Vater Pier Giulio gestorben, dessen Büro er fortführte.
Auf sich ändernde Bedingungen zeitgemäße Antworten zu finden, die dennoch Bestand haben, wird zu Magistrettis Markenzeichen. Seine Möbel sind leicht und zerlegbar. Eines der ersten, das er 1946 auf der Ausstellung des italienischen Möbelverbandes RIMA zeigte, hat Campeggi unter dem Namen "Piccy" heute im Programm. Es ist ein faltbarer Sessel mit optimistischer farbiger Tuchbespannung. Für die neu entstehende Vorstadt QT8 im Mailänder Nordwesten, die als Teil der VIII. Triennale entstand, entwarf er 1953 eine Kirche mit rundem Grundriss. Als er seine Aktivitäten in Mailand und Umgebung nach dem Krieg startete, standen Wohnungsbauten für das INA-Wiederaufbau-Programm auf der Tagesordnung. Den "Torre al Parco" von 1956, gegenüber dem Triennale-Palast als Wohnhochhaus mit auskragenden Elementen und flexiblen Grundrissen errichtet, sah er als sein erstes relevantes Bauwerk an. Im Jahr darauf war er an der Gründung des italienischen Designerverbandes ADI beteiligt. Er bemerkte, dass es beim Entwurf kleiner Gegenstände mehr Freiräume gab als in der Architektur. 1972 resümierte er: Durch die Gestaltung von Gegenständen lasse sich "eine andere Art des Verhältnisses Raum–Objekt im Haus und in der ganzen Art des Wohnens vermitteln." Anders als heute, wo hohe Stückzahlen und serielle industrielle Fertigung vielen als fragwürdig erscheinen und sich eine neue Sehnsucht nach allen Spielarten des Kunsthandwerks und Kunstgewerbes verbreitet, sah Magistretti im Industriedesign "das einzige spontane und authentische Phänomen der Kultur" seiner Zeit.
Nicht allein seine Architektur, auch seine Möbel boten vielfach Veränderbarkeit. Das beginnt bei den frühen Klapp- und Lehnmöbeln, Gegenständen, die ihre Form im Gebrauch verändern und es setzt sich über Polstermöbel für Cassina fort, deren Mechanismen nun unsichtbar versteckt sind, allen voran das immer wieder kopierte Polstermöbelprogramm "Maralunga". Als er sich mit Cesare Cassina über die Rückenlehne des Sofas stritt, soll dieser handgreiflich geworden sein, indem er auf die Rückenlehne einschlug, die ihm schwer zu realisieren schien. "Okay, sehr gut, so scheint sie mir perfekt!" rief Magistretti aus. Vielleicht eine extreme Art des Zusammenspiels von Auftraggeber und Designer. Dennoch zeigt sie die Bedeutung eines Gegenübers, das Dinge gründlich abklopft, um ihren Realitätsgehalt, ihre Alltagstauglichkeit auf den Prüfstand zu stellen. Magistretti schätzte starke Partnerinnen und Partner, die wussten, was sie wollten. Leider nicht mehr in Produktion sind Sofa und Sessel "Veranda" (1983) und "Sindbad" (1981), irgendwo zwischen "fliegendem Teppich" und "schwebenden Blatt" angesiedelt, gedacht für Gesellschaften, die eine gewisse Stabilität erreicht hatten und doch auch Flexibilität als neuen Wert erkannten.
Variantenbildung war seine Sache nicht. "Ich hasse Stil”, erklärte er 2004 Hans Ulrich Obrist in einem Interview mit Domus. "Alles, was mich interessiert ist concept design." Am italienischen Design habe ihn die konzeptuelle Einfachheit am meisten beeindruckt. 2006 starb Vico Magistretti in Mailand. Im Jahr darauf begann die Fondazione Magistretti ihre Forschungsarbeit. Gegründet und geleitet von Magistrettis Tocher Susanna betreibt die Stiftung eine kluge Politik, unterstützt von der Mailänder Triennale und den Firmen Artemide, Cassina, De Padova, Flou, Oluce und Schiffini. Seit Anfang des Jahres sind große Teile des Archivs online zugänglich. Magistrettis Studio in Mailand wurde bereits 2010 zum Museum. Es kann – in Corona-Zeiten mit Einschränkungen – besucht werden und vermittelt einen lebendigen Eindruck vom Schaffen des großen Architekten, Designer und Lehrers. Er steht beispielhaft für Aufbruchszeiten des Designs. Auch mit 100 bleibt Vico Magistretti deren lebendiger Botschafter.