Laurent Kronental
| 20.10.2015Sie stehen für eine Utopie des Zusammenlebens und deren Scheitern, die großen Wohnsiedlungen in den Pariser Banlieue. Galten sie einst als Zentren einer megalomanen Moderne, werden sie heute oft als Ort des sozialen Abstiegs gesehen. Mit dafür verantwortlich gemacht wird allzu gern eine Architektur, deren Massen an Beton sich nicht den Menschen zum Maßstab nehmen, sondern dem Größenwahn des Architekten geschuldet sind.
Betrachtet man Laurent Kronentals Fotografien aus der Serie „Souvenir d'un Futur“, so glaubt man, in ihnen eine Ambivalenz zu spüren: Einerseits kann man sich der Faszination für den großen Maßstab nicht entziehen, andererseits irritiert ihre Maßstabslosigkeit unsere Sehgewohnheiten gerade dann, wenn Menschen auf den Bildern zu sehen sind. So zelebriert beispielsweise Ricardo Bofill mit seinem Projekt „Les Espaces d’Abraxas“ eine monumentale Architektursprache, während der alte Mann, der auf Kronentals Fotografie ins weite Rund der theatralischen Wohnanlage blickt, wirkt, als stamme er aus einer fernen Zeit. Kein Wunder, dass die Anlage bereits als Filmkulisse für dystopische Filme wie „Brazil“ und „Die Tribute von Panem“ diente.
Laurent Kronental ist Autodidakt. Den 28 Jahre alten Fotografen zieht es seit mehr als vier Jahren immer wieder in die Wohnsiedlungen der Pariser Vororte. Er selbst sagt über sich, er habe bereits sehr früh eine Begeisterung für große Städte und Hochhäuser entwickelt. Im Jahr 2008 reiste er sechs Monate lang durch die Megastädte Chinas, die zu fotografieren er nicht müde wurde. Zurück in Paris professionalisierte er seine Leidenschaft. „Dabei“, erzählt Kronental, entdeckte er „irgendwann einmal in der Nachbarschaft der Cité Courbevoie eine kleine Straße. Ein surrealer Ort an dem die Zeit stehengeblieben schien: Ein Stückchen dörflicher Struktur zu Füßen der Hochhäuser.“ Dort traf Kronental auf ein älteres Paar, freundete sich mit ihnen an und begann, sie in ihrem Garten zu fotografieren – vor der Skyline des Pariser Stadtteils La Défense. Das war der Beginn seiner Fotoserie „Souvenir d'un Futur“.
Adeline Seidel: Was fasziniert Sie so sehr an diesen Wohntürmen?
Laurent Kronental: Es ist die, im Vergleich zum Menschen, gewaltige Masse der Architektur. Sie offenbart unsere Verletzlichkeit und demonstriert zugleich unser Streben nach Größe und Macht. Ihre babylonische Monumentalität, ihre ausufernden, fast schon überirdischen Dimensionen sind Ausdruck einer kollektiven Inkohärenz unserer utopischen Vorstellungen und Träume von einer besseren Zukunft, die uns jedoch nicht vergönnt ist, da es uns am nötigen Verständnis füreinander mangelt. Es sind die völlig überzogenen, völlig unmenschlichen Aspekte, die an eine sowjetische Architektur oder auch Sci-Fi-Szenarien erinnern und die mich in den Bann ziehen. Dabei stellt ihr Verfall und ihre Schäbigkeit unsere gegenwärtige Sichtweise von Urbanismus und sozialen Beziehungen in Frage.
Was steht für Sie im Mittelpunkt? Die Architektur, die Materialität der Orte oder die Menschen in diesen Megastrukturen?
Kronental: Bei „Souvenir d’un Futur“ ist es mir – glaube ich – gelungen, Bilder festzuhalten, die für mich von großer Bedeutung sind: Dazu gehören eine bestimmte Architektur und ihre Atmosphäre, aber auch die Menschen, die ich hier in ihrer Umgebung porträtiert habe und die angesichts der schieren Ausmaße dieser Orte oft völlig verloren wirken. Es ging mir außerdem darum, die Originalität dieser Wohnquartiere hervorzuheben, ihre Extreme und ihre Vielfalt, sowie das Verhältnis zwischen den Bewohnern und diesen Orten zu zeigen. Zugleich möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Marginalisierung dieser unrühmlichen Stadtrandsiedlungen lenken, die irregeleiteten Illusionen einer modernistischen Utopie, die brutale Entmenschlichung, die sie durch die Allgegenwart des Betons mit sich bringen. Außerdem wollte ich die mutige Haltung der älteren Bewohner, die hier leben und vor dem Hintergrund dieser pharaonischen Kolosse so verloren erscheinen, unterstreichen.
Könnten Sie Ihren Arbeitsprozess etwas genauer beschreiben?
Kronental: Ich habe diese Wohnsiedlungen immer wieder aufgesucht und dort sehr viel Zeit verbracht – bevor ich überhaupt meine ersten Aufnahmen gemacht habe. Den Anfang meiner Arbeit bildete also eine lange Erkundungsphase, in der ich meistens am frühen Morgen die Gegend durchstreifte. Manchmal war ich schon um halb sechs oder sechs vor Ort, um den Tagesanbruch zu erleben. Das war ein außergewöhnliches Gefühl. Die menschenleeren Straßen, die Stille der noch schlafenden Stadt und die vereinzelten Lichter, die in den dunklen Wohnungen aufschienen. Aufgrund der Zweifel, die mich immer wieder überfielen, kam ich manchmal mit dem Projekt nicht richtig voran. Außerdem wurde ich von einigen Jugendlichen misstrauisch beäugt. Dann wurde mir klar, dass es die nötige Authentizität der Fotoserie erforderte, mit den Bewohnern in Kontakt zu treten und mein Projekt zu erklären. Auch viele der älteren Leute begegneten mir mit Misstrauen, es war eine große Herausforderung, ihnen mein Projekt zu erklären, ihr Interesse zu wecken und ihre Einwilligung für ein Foto zu bekommen. Es brauchte also viele Besuche um ihr Vertrauen zu gewinnen.
Den Bildern ist eine gewisse Melancholie zu Eigen. Warum?
Kronental: Ich möchte die Atmosphäre einer Parallelwelt heraufbeschwören, Vergangenheit und Zukunft zusammenführen und durch diese raumzeitliche Dissonanz den Betrachter in seiner Wahrnehmung verunsichern. Es ging mir darum, einen dunklen und poetischen, geisterhaft schönen Eindruck dieser verwahrlosten, verlassenen und entvölkerten Gegenden zu vermitteln. In dieser Version unserer Welt sind die Städte gigantische Gebilde, die ihre Bewohner verschlingen, sie in unzähligen Labyrinthen gefangen halten und Ängste auslösen. An diesen Orten sind die alten Menschen die letzten Überlebenden. Sie tragen die flüchtige Erinnerung ihres Lebens in sich, die Erinnerung an eine einst vorgestellte Zukunft, wie sie die Architekten dieser Großwohnsiedlungen entworfen hatten. Um diese apokalyptische Stimmung etwas abzumildern, wählte ich Farben, die die Härte des Betons in ein weicheres Licht tauchen – das heißt die Aufnahmen entstanden im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung. Auf den sehr früh am Morgen entstandenen Fotos sind kaum Hinweise auf die Bewohner zu sehen, und die wenigen abgelichteten Menschen scheinen von ihrer monumentalen Umgebung geradezu erdrückt zu werden. Mit „Souvenir d’un Futur“ möchte ich den Sinn und Zweck dieser urbanen Strukturen in Frage stellen und die Einsamkeit der alten Menschen, die hier leben, sichtbar machen. Schließlich tragen wir für sie eine gemeinsame Verantwortung. Ich stelle mir häufig die Fragen, wie unsere Städte in 50 Jahren aussehen und wie unser Leben sein wird, wenn wir einmal alt sind.
Was verbirgt sich hinter dem Titel - „Souvenir d'un Futur”?
Kronental: Der Titel beschwört die Melancholie des Alterns herauf, verlorene Illusionen in einer einst so verheißungsvollen Welt. Der alte Mann auf einem der Fotos vermittelt diese melancholische Stimmung. Er betrachtet die Spiegelung des Viadukts im barockartig angelegten See und scheint über sein Leben zu sinnieren. Außerdem kommt sie in Licht und Schatten, den Farben und der Haltung der Personen zum Ausdruck. Ursprünglich war dieser melancholische Aspekt nicht vorgesehen. Dann wollte ich aber unbedingt die Fragilität dieser Menschen zeigen, aber auch die Kraft, die sie immer noch besitzen. Mir ging es nicht darum, Senioren mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht festzuhalten. Sie sollten vielmehr ganz bei sich selbst sein. Es mag den ein oder anderen melancholischen Blick geben, ihre Körperhaltung verrät jedoch eine ausgesprochene Standhaftigkeit. Die Menschen, die ich fotografiert habe, waren alles andere als traurig, sie waren beherzt – trotz ihres manchmal versonnenen Blicks. Sie behaupten sich in ihrem Kampf gegen das Alter und die Entwurzelung auf sehr würdevolle und elegante Weise.
Was halten die älteren Bewohner von diesen Orten? Haben sie darüber mit Ihnen gesprochen?
Kronental: Es ist wirklich merkwürdig, dass diese alten Menschen das problematische architektonische Umfeld oft gar nicht wahrnehmen. Sie haben viele Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, von ihren Familien etwa. Seltsamerweise spielen darin die Wohnsiedlungen oder sie selbst nicht immer eine Rolle. Ich kann Ihnen zwei Beispiele nennen von Roland und Claude, Bewohnern von „Les Arcades du Lac” in Montigny-le-Bretonneux und „Cité Pablo Picasso” in Nanterre. Ich habe die alten Leute zunächst nur für mich interviewt und gefilmt. Die folgenden beiden Ausschnitte beantworten vielleicht Ihre Frage.
“Mein Name ist Roland. Ich bin 85 Jahre alt. Hier in Montigny, in meinem Viertel, habe ich mich immer gefühlt, als würde ich auf dem Land wohnen, wo ich zuvor auch tatsächlich gelebt habe: Mit der Vegetation, dem Wasser und See. Ich habe hier mit meiner Frau zusammen eine Wohnung gekauft, da es mir hier gefällt. Wir sind in der Stadt und haben alles, was wir brauchen. Von meinem Haus im Hinterland musste ich 40 Kilometer bis zum nächsten Arzt fahren. Als ich jung war, lebte ich mit meinen Eltern in Montmartre. Dort begegnete mir jeden Tag ein Mann, der die Caulaincourt Straße mit seinem Fahrrad hinauffuhr, das war Tino Rossi (französischer Schauspieler, Anm. d. R.). Danach wohnte ich in Choisy-le-Roi. Seit einigen Monaten gibt es hier keine Bäckereien mehr, das kleine Einkaufszentrum ist geschlossen. Dies wird der letzte Ort sein, an dem ich lebe. Ich will hier nicht weg und kann mir nicht vorstellen, noch einmal umzuziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir große Wohnquartiere gebaut. Das war notwendig. Manche dieser Viertel sind jedoch heute, wie ich finde, kaum noch bewohnbar. Früher gab es kleine Läden, und wir kannten alle Leute in unserem Gebäude. Hier kennen wir die Nachbarn nicht. In der ganzen Siedlung kenne ich nur zehn Familien. Als ich hierher zog war ich von der dichten Bebauung beeindruckt und von der Form des Viadukts, ich fand das irgendwie lustig. Es gibt keine Autos hier, das ist wunderbar. Es ist alles für Fußgänger gedacht. In meinem Alter bleibt man in seinem Viertel. Ich habe nicht die Energie, nach Paris zu fahren. Es ist schon einige Jahre her, dass ich das letzte Mal dort war. Ich weiß nicht, wie man Fahrkarten aus den Automaten zieht, und andere Leute scheinen mich für einen Bauer zu halten. Zuhause haben wir es bequem und alles was wir brauchen. Die Leute sind heute anders als früher. Heute gehen die Leute mit 60 bis 65 Jahren in Rente und ziehen aufs Land und verlassen das Viertel. Das ist schade, da wir dadurch Kontakte verlieren. Ich bin bereits vor 28 Jahren in Rente gegangen, einige meiner Kollegen haben nicht so lange gelebt. Ein Leben, wie ich es hatte, kann ich nur jedem wünschen. Ich empfinde dieses Viertel nicht als besonderen Ort. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Gebäude älter werden, aber ich werde es schon.“
„Ich bin 1920 geboren und werde dieses Jahr 95 Jahre alt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so lange lebe, andererseits habe ich mir diese Frage eigentlich auch nie gestellt. In den 1960er Jahren habe ich in Sarcelles gelebt, wo es mir aber nicht gefallen hat. Mein Arbeitgeber hatte mir eine Wohnung besorgt. Seitdem hat sich Sarcelles extrem verändert. Ich würde dort jetzt wirklich nicht mehr wohnen wollen. Die Architektur hier nehme ich eigentlich nicht wahr. Ich habe mich daran gewöhnt. Es ist schließlich 35 Jahre her, dass ich hier ankam. Die Architekten hatten eine tolle Idee: So viele Bäume pflanzen wie es Wohnungen gibt. Das ist schön, wenn man von so viel Beton umgeben ist. In den 1980er Jahren lebten viele Rentner in den Aillaud-Türmen. Von den Fenstern unserer Wohnung ist es, als ob man in einem Flugzeug oder auf dem Meer ist. Dass ich in einem 38-stöckigen Gebäude wohne, merke ich gar nicht. Ich kaufe immer meine Zeitung um die Ecke in Fontenelles. Nanterre verlasse ich nur sehr selten. Es ist schade, dass wir alt werden, aber so ist es halt. Ich lebe so gut es geht von einem Tag zum nächsten. Eine der unschönen Seiten eines langen Lebens ist, dass man viele Freunde verliert. In meinem Alter und mit meinen körperlichen Möglichkeiten kann ich weniger Dinge tun, das irritiert mich irgendwie.
Ich weiß noch, wie ich vor ein paar Jahren, nachdem ich eines Abends Fernsehen geschaut hatte, eine Runde im Malraux Park joggte. Im Winter um 22 Uhr abends im Schnee. Ich begegnete einem Pärchen, das dort auch trainierte. Die Atmosphäre war großartig.
Jetzt, da ich so alt bin, habe ich keine großen Pläne mehr. Glücklicherweise hatte ich genug Geld, um ein angenehmes Leben führen zu können. Wir sollten nicht vergessen, dass wir in einem Land leben, welches im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege erlebt hat. Nach 1945 war es, als ob man in einem goldenen Zeitalter lebte. Dank der vielen Wohnungen in diesen Türmen können wir hier in der Nähe der Stadt wohnen. Wenn wir Einfamilienhäuser gebaut hätten, würden wir viel weiter weg in den Vororten von Paris wohnen. Dann hätten wir auch weniger Zugang zum öffentlichen Nahverkehr. Außerdem bin ich sehr froh, dass ich unabhängig und nicht in ein Seniorenwohnheim gezogen bin. Ich lebe mit meiner Frau und meiner Enkeltochter zusammen. Es überrascht mich, dass Sie sich für unser Leben interessieren. Gewöhnlich werden die Alten von den jungen Leuten ignoriert.”
Adeline Seidel: Und wie wirken diese riesigen Wohnsiedlungen und diese Architektur auf Sie?
Kronental: „Les Damiers“ erinnert mich an überdimensionale Legosteine. In diesem riesigen Ensemble hat man das Gefühl höher zu sein als alle Nachbarn in La Defense. Dieser Eindruck entsteht offenbar durch die Blickachsen, die sich durch die runde Form der Anlage ergeben: Für den Fotografen eröffnen sich hier unzählige, ästhetisch interessante Perspektiven. An das Größte der Gebäude wurde ein riesenhafter Abluftschornstein angebaut. Im Winter sieht es fast so aus, als würde ein Monster ausatmen, wenn der Rauch nach oben steigt. Nachts nimmt das hoch über dem Parkplatz angelegte Ensemble eine bedrohliche Form an. Manchmal stelle ich mir vor, dass es ein Industriegebiet ist. Die modulare Struktur hat fast etwas Organisches, als ob sie durch einen geheimnisvollen Stoffwechsel ihre Gestalt verändern könnte. Die postmoderne Architektur von „Les Espaces d'Abraxas“ sollte in ihrer Monumentalität eine Alternative zu jenen, eher nüchternen Wohnblöcken darstellen, die während der Nachkriegskonjunktur gebaut wurden. Diese Gegend, die die Bewohner in Alcatraz oder auch Gotham City umbenannt haben, löst ganz verschiedene Gefühle in mir aus. Sie wirkt wie eine Art abgelegene Festung, die sich auf spektakuläre Weise am Horizont erhebt und aus vielen Kilometern Entfernung vom Pariser Vorort zu sehen ist. Sie erinnert mich an ein schwimmendes Schloss des japanischen Filmregisseurs Hayao Miyazaki, sie wirkt uneinnehmbar. Mit ihren gravitätischen Säulen könnte „Les Espaces d'Abraxas“ auch eine von Riesen erbaute Königsstadt sein.