Im Spagat
Simone Kraft: Borys, bitte geben Sie uns zu Beginn einen kurzen Überblick über das balbek bureau. Was ist Ihr Ziel in der Architektur?
Borys Dogorov: Mein Partner, der ukrainische Architekt Slava Balbek, und ich haben balbek bureau im Jahr 2018 gegründet, nachdem sich das 2007 gegründete Studio 2b.group aufgelöst hatte. Wir sind ein Architektur- und Innenarchitekturbüro mit einem vielfältigen Portfolio an Geschäfts-, Unternehmens- und Wohnräumen in Europa, China und den USA. Unsere Projekte wurden mit den Hospitality Design Awards, dem Interior Design's Best of Year und dem Architecture MasterPrize ausgezeichnet. Unser Team besteht derzeit aus 55 Mitgliedern in sieben Ländern. Als langjährige Bewunderer der menschenzentriertem Design und Architektur liegt unser Hauptaugenmerk auf den Menschen. Ganz gleich, ob es sich um ein Büro für ein globales Technologieunternehmen oder um eine vorübergehende Siedlung für Vertriebene handelt, wir haben immer die Menschen im Blick, die mit dem Raum interagieren werden. Ich würde also sagen, dass wir als Architekten den Menschen helfen wollen, sich willkommen zu fühlen, egal wo sie hingehen. Als Büro ukrainischer Herkunft wollen wir zudem die Ukraine unterstützen und unser Geschäft weltweit ausweiten. Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine konzentrierten wir uns vor allem auf Projekte für das Gastgewerbe und Corporate Design. Jetzt jonglieren wir zwischen kommerziellen und sozialen Projekten und versuchen, das lokale architektonische Erbe zu erhalten, wie den Wiederaufbau der ukrainischen Städte zu unterstützen. Was mich betrifft, so beaufsichtige ich das Tagesgeschäft und entwerfe und implementiere Richtlinien, die die Struktur und den Arbeitsablauf des Büros bestimmen. Außerdem leite ich die größten Projekte des Studios, wie ein Unternehmenszentrum für Grammarly in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und das Darron-Gründungszentrum in Qingdao, China. Seit Beginn des Krieges bin ich an der Betreuung der sozialen Projekte des balbek bureau beteiligt.
Sie haben mehrere soziale Projekte unter dem Titel RE:Ukraine ins Leben gerufen. Worum handelt es sich dabei?
Borys Dogorov: Seit Beginn des russischen Krieges hat unser Büro Projekte entwickelt, um auf die durch den Krieg verursachten Herausforderungen zu reagieren. Nur drei Wochen nach der Invasion stellten wir unsere Wohnungsinitiative RE:Ukraine vor - ein temporäres Wohnsystem mit einem würdigen Ansatz zur Unterbringung von Binnenvertriebenen. Das Projekt wurde öffentlich gelobt, Präsident Volodymyr Zelenskyy vorgestellt und auf der Clinton Global Initiative präsentiert. Im Laufe des Jahres haben sich unsere Hilfsmaßnahmen zu einem System sozialer Initiativen entwickelt, die unter dem Dach von RE:Ukraine zusammengefasst sind. Derzeit gibt es fünf Projekte: RE:Ukraine Monuments, eine Lösung zum Schutz von Denkmälern, RE:Ukraine Villages, ein Online-Konstruktionssystem für die Wiederherstellung ländlicher Wohnungen, RE:Ukraine Memories, ein System zur Gestaltung von Gedenkstätten, RE:Ukraine Vision, eine AR-basierte Anwendung, die ein virtuelles Bild eines wiederhergestellten Hauses/ einer Straße oder eines Viertels erzeugt, und das bereits erwähnte Wohnsystem für IPDs, RE:Ukraine Housing.
Erzählen Sie uns etwas mehr über diese Projekte. Auf welche Probleme gehen sie ein? Und was ist angesichts der aktuellen Situation am dringendsten erforderlich?
Borys Dogorov: Jedes Projekt befasst sich mit einer anderen Herausforderung, sei es die Bewahrung des kulturellen Erbes oder die Erleichterung des Wiederaufbaus der ukrainischen Städte. Da der Krieg immer noch wütet, ist das dringendste Problem die Unterbringung von Menschen, deren Häuser zerstört oder von den Besatzern beschädigt wurden. Das wollen wir mit unseren Projekten RE:Ukraine Housing und RE:Ukraine Villages erreichen. Um diese Projekte auszuweiten, benötigen wir finanzielle und technische Unterstützung.
Wie ist der aktuelle Stand dieser Projekte?
Borys Dogorov: Wir haben gerade den ersten Spatenstich für das Pilotprojekt von RE:Ukraine Housing im Bezirk Bucha in der Region Kiew gesetzt. Das Pilotprojekt wird 15 Familien beherbergen und uns helfen, Feedback von den Menschen zu sammeln, für die wir RE:Ukraine Housing ursprünglich konzipiert haben. Danach wollen wir Verbesserungen vornehmen und das Projekt auf die ganze Welt ausdehnen. Das System kann weltweit nachgebaut werden und bei der Bewältigung globaler Herausforderungen helfen: Naturkatastrophen (Erdbeben, Wirbelstürme), bewaffnete Konflikte et cetera. Der erste Schutzraum im Rahmen des Systems RE:Ukraine Monuments wurde im Frühjahr 2022 für das Mykhailo Hryshevsky-Denkmal in Kiew errichtet. Im Oktober desselben Jahres, während eines massiven Raketenangriffs auf die Ukraine, wurde der Schutzraum auf die Probe gestellt: Eine Explosion in der Nähe zerstörte die Hälfte, aber das Denkmal selbst konnte gerettet werden. Seitdem wurde der Schutzschild restauriert, aber wir hoffen, dass er nicht noch einmal einem Praxistest unterzogen wird.
Können Sie uns etwas mehr über die Gestaltung der beiden Projekte erzählen?
Borys Dogorov: Für RE:UKraine Housing haben wir mehr als 20 realisierte Projekte in verschiedenen Ländern hinsichtlich der Nutzung des Baugeländes, der Entwicklung eines Masterplans und der Anordnung der Wohnblöcke analysiert. Die Hauptaufgabe, die wir uns gestellt haben, ist die Aufrechterhaltung eines angemessenen Lebensstils für die BewohnerInnen. Mit RE:Ukraine Housing können vertriebene Familien in hellen, voll möblierten Privatzimmern und -wohnungen untergebracht werden, die Zugang zu komfortablen Küchen, Badezimmern, Wäschereien und Kinderbetreuungsräumen haben. Jeder Wohnblock kann an unterschiedliche Lebensszenarien und NutzerInnenprofile angepasst werden. Mit RE:Ukraine Monuments haben wir die weltweiten Beispiele für Schutzstrukturen analysiert: von Sandsäcken aus dem Zweiten Weltkrieg über Sperrholz bis hin zu Netzen, die bei Massenprotesten verwendet wurden, und eine standardisierte Lösung entworfen. Das Gerüst des Moduls wird mit Hilfe eines Querriegelgerüsts errichtet. Um das Denkmal herum wird in sicherem Abstand ein Querträgerrahmen installiert. Die Fassade der Struktur ist mit feuerfestem, feuchtigkeits- und temperaturwechselbeständigem Bakelit-Sperrholz verkleidet. Bei großen Denkmälern wird die Innenfassade zusätzlich mit einem Netz umzäunt, und der Raum zwischen Sperrholz und Netz wird mit Sandsäcken ausgefüllt.
Sie erforschen auch die Möglichkeiten der digitalen Mittel. RE:Ukraine Villages ist ein Online-Konstrukteur für die Wiederherstellung ländlicher Wohnungen, RE:Ukraine Vision eine AR-basierte Anwendung. Wie funktioniert dieser genau?
Borys Dogorov: RE:Ukraine Villages ist ein Online-Konstruktor, der den Wiederaufbau von Häusern in ländlichen Gebieten unter Berücksichtigung der Umgebung vereinfacht. Mit dem RE:Ukraine Villages Constructor erhalten HausbesitzerInnen, Freiwillige, die beim Wiederaufbau helfen und lokale Behörden fertige Anweisungen für den Wiederaufbau ihres Hauses: eine PDF-Datei mit Isometrie, Plänen, Zeichnungen, Fassadenscans und einer technischen Beschreibung. Der Plan enthält auch Empfehlungen für Materialien, die für die Fertigstellung benötigt werden. Das Projekt ist bereits in vollem Gange und befindet sich in der Endphase der Entwicklung: Wir fügen letzte Verbesserungen und Feinabstimmungen hinzu, bevor wir im Februar mit dem Projekt beginnen.
Neben den sozialen Projekten arbeitet balbek bureau auch an kommerziellen Projekten. Würden Sie uns Ihre jüngsten Projekte vorstellen?
Borys Dogorov: Seit dem Beginn der russischen Invasion wurden viele unserer kommerziellen Projekte auf Eis gelegt. Dennoch sind wir dankbar dafür, dass wir das tun können, was wir lieben, und dass wir auch in diesen schwierigen Zeiten Bauvorhaben fertigstellen können. Zu den jüngsten Projekten gehört die Cheese Bakery, eine Konditorei mit Café in Lviv, die im Kreativraum KIVSH eröffnet wurde. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Gelände einer ehemaligen Artilleriekaserne aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie errichtet. Unsere Aufgabe bestand darin, das Café harmonisch in die Architektur des alten Fabrikgebäudes einzufügen und die Inneneinrichtung nur dort mit neuen Designelementen zu ergänzen, wo es sinnvoll war. Schließlich einigten wir uns auf das Konzept einer minimalistischen Einrichtung, die für die KundInnen gemütlich sein sollte. Anfang dieses Monats haben wir auch "Symbol" vorgestellt, einen digitalen Showroom für den größten Händler von Marken im Luxussegment in Osteuropa. Im Jahr 2021 trat "Symbol" mit der Bitte um eine Boutique-Einrichtung mit einem neuen Konzept an uns heran, aber die russische Invasion legte die Umsetzung des Projekts auf Eis. Die Arbeit wurde im Mai wieder aufgenommen. Allen Widrigkeiten zum Trotz setzte das Team das Projekt um, das eine neue Vision für ein erfahrenes und anspruchsvolles Publikum bietet. Trotz seiner kompakten Fläche ist der digitale Showroom von Symbol zu einer fantastischen Ansammlung atypischer und einzigartiger Lösungen geworden: Anstelle traditioneller Vitrinen können die KundInnenn mit Hilfe interaktiver Anproberäume sowie Miniaturständern und Tablets navigieren, um ihre Outfits auszuwählen.