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"Sluhach"-Kollektion von Faina

REVIEW – MILAN DESIGN WEEK 2023: CONTINUUM
Künftiger Gebrauch

Ukrainische DesignerInnen zeigten während Mailänder Designwoche wie Gestaltung zur Selbstbehauptung beitragen kann. Unser Autor Thomas Edelmann hat sich die Gemeinschaftsausstellung "Contïnuum" angeschaut, die von der Architektin und Designerin Victoria Yakusha realisiert wurde.
von Thomas Edelmann | 08.06.2023

Trotz vieler Begleitprogramme und Designtalks, trotz aller Verpflichtungen auf Nachhaltigkeit und Transformation gehören Möbelmessen einer Sphäre an, in der alles was mit Krieg, Krise und Problemen zu tun haben könnte, mit einem leisen Seufzen ausgeblendet wird. Wie präsentieren sich ukrainische Gestalterinnen und Gestalter sowie Marken in Mailand – über ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf ihr Land? Und was zeigen sie in jener temporären Welt des schönen, oftmals teuren Bessereinrichtens? "Wie bist Du darauf gekommen?", fragten mich Kolleginnen und Kollegen, denen ich kurz berichtete, wonach ich dieses Jahr in Mailand suchte. Um Design und Handwerk aus der Ukraine zu entdecken, musste man im Vorfeld ein wenig recherchieren. Plattformen und Blogs aus Großbritannien brachten kurze Ankündigungen. Ebenfalls nicht auf den üblichen Designpfaden lag die kleine, aber wirkungsvolle Messepräsenz einer Reihe ukrainischer Hersteller in der weit abgelegenen Halle 24.

"Gewusst wo" war also die Devise, um Ukrainisches während der Mailänder Designwoche 2023 zu erleben. So strömten gut 95.000 Menschen in den "Cortile della farmacia" der Mailänder Universität, um sich beim Schaukeln inmitten der Installation "Swing" zu entspannen. Die hatte der Architekt und Triennale-Chef Stefano Boeri mit Unterstützung von Amazon errichtet. Dabei ging es allen Ernstes um die "freie Zeit, die wir durchs Online-Shopping gewinnen", aber auch um nachhaltige Produkte und die Aufforstung Italiens. Aus dieser ungetrübt entspannten Welt konnte man leicht in eine andere gelangen, in der keineswegs Trübsal geblasen wird. Dazu musste man nur die Straßenseite wechseln. Denn gegenüber dem Haupteingang des Ca’Granda, des 1456 von Francesco Sforza gegründeten einstigen Mailänder Hospitals präsentierte sich in der Via Festa del Perdono 7 "Contïnuum", eine Gemeinschaftsausstellung, erdacht und umgesetzt von der Architektin und Designerin Victoria Yakusha.

Hinter einer unscheinbaren Holztür führt eine steile Treppe in den Keller eines traditionellen Mailänder Wohnhauses. Wer sie hinabstieg, erlebte eine der eindrücklichsten Präsentationen im Salone Jahr 2023. Victoria Yakusha, geboren in Djnpro (das damals noch Dnipropetrowsk hieß) ist eigentlich längst kein Geheimtipp mehr. An das Masterstudium der Architekturhochschule ihrer Heimatstadt, schloss sie ihre Studien an der INSA in Straßburg an. 2009 gründete sie ihr Architektur- und Interieurbüro, das heute zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat. Als "lakonisch" und "emotional pur" beschreibt sie ihren Stil. Viele namhafte Zeitschriften, Blogs und Portale habenbereits über sie berichtet. Im Jahr des Überfalls war sie in Mailand mit der Ausstellung "Chornozem" präsent. Sämtliche ausgestellten Gegenstände ihrer Kollektion waren damals schwarz: Trauer angesichts des fortdauernden Krieges, des Überfalls und der weiteren Eskalation des Konfliktes mit Russland, der bereits seit Jahren auf ukrainischem Territorium zu Toten und Verletzten führt. Nun präsentieren sich Gegenstände von "Contïnuum" hauptsächlich in Weiß. Dessen Neutralität heißt es in der Broschüre zur Ausstellung, zwinge andere Farben, sich zu offenbaren. Zugleich steht Weiß aber auch für Purismus, und enthält alle anderen Farben.

Victoria Yakusha hat für "Contïnuum" fünf Unternehmen mit ukrainischen Wurzeln zusammengebracht: Präsentiert wurden Duft, Mode, Esskultur, Weberei, Möbel, Leuchten und Accessoires. Im Zentrum standen Fragen von Identität und Selbstbehauptung. Aber auch, wie sich lokale gestalterische Traditionen mit zeitgenössischen Mitteln bewahren und fortführen lassen. Jeder der fünf sei einem "kulturellen Code" verpflichtet, dem "Geist der Freiheit" wie der "Achtung der Erde".

Gruppenbild

Gleich am Eingang nahm man das Parfum "Serpanok" von Vlad Zvarych wahr, einem Pionier der ukrainischen Parfumszene mit seiner Marke Arboretum. Es sei inspiriert vom typischen "Dunst" der Ukraine verrät der Gestalter. Zvarych begeistert sich seit seiner Kindheit für Düfte, sammelte sie und schuf das Museum für ukrainische Parfums der Nachkriegszeit. Der Geruchssinn, prognostiziert er, werde es in digitaler Form niemals geben. "Nur im wirklichen Leben kann man ihn spüren." Seine jüngste Kreation sieht er als "Beginn von etwas radikal Neuem."

Ein paar Schritte weiter stellte Irina Dzhus, Designerin und Konzeptkünstlerin, die 2010 ihr Label gründete einen Teil ihrer Modekollektion aus. Bei einem ihrer Kleider, das aus Taschen besteht, mag man an Werke des Künstlers Franz Erhard Walther denken. Doch das greift zu kurz. Dzhus’ innovative Schnitte machten sie international bekannt. Ihre Marke steht für avantgardistische und zugleich nützliche Mode, die wandelbar und vielseitig ist. Wie die meisten Mitwirkenden bei "Contïnuum" spielte auch Dzhus in der lebendigen Vorkriegsszene von Kiew eine maßgebliche Rolle, von der es hieß, längst habe sie etwa der Berliner Subkultur den Rang abgelaufen.
Ursprünglich als Damenbekleidung konzipiert, sind viele der Stücke von Dzhus in Ästhetik und Passform unisex. International bekannte KünstlerInnen tragen ihre Designs, die wichtigsten Modezeitschriften und Blogs featuren ihre Arbeit, sie arbeitet für bekannte Filmproduktionen. Verkauft werden die Stücke in ausgewählten Concept Stores sowie online. Kriegsbedingt musste Irina Dzhus aus ihrer Heimat fliehen. Nun pendelt sie zwischen Warschau, Paris und Berlin. "Transit" heißt ihre die aktuelle Herbst-/Winter-Kollektion, von der in Mailand einige Stücke gezeigt und vorgeführt wurden. In ihrer Mode und mit den Materialien, die sie verwendet, thematisiert sie nicht nur Mehrfachnutzen. Zugleich thematisiert sie die "einschneidenden Veränderungen, mit denen alle UkrainerInnen unter Umständen konfrontiert sind, ohne sie beeinflussen zu können". Nachhaltigkeit fordert sie, sollte nicht länger nur propagiert werden, neue Lösungen für ökologische Fragestelllungen solle man offensiv angehen, statt konkrete Antworten in die ferne Zukunft zu delegieren.

Eine solche Praxis zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk der fünf GestalterinInnen, die hier gemeinsam ausstellten. Die Weberin Halnya Shiposha arbeitet mit Wolle, Baumwolle und anderen Naturfasern, um einzigartige und zugleich komplexe Produkte zu schaffen, stellt seit über 30 Jahren Teppiche und Wandteppiche her. Ihre Werke werden in mehreren ukrainischen Galerien sowie in privaten Sammlungen gezeigt. Das Örtchen Reschetlyliwka in der Zentralukraine ist seit langem für Volkskunst in Weberei und Stickerei bekannt. Dort setzt das Atelier "Solomia RCS" diese Tradition mit aktuellen Entwürfen fort. In Workshops konnten BesucherInnen Einblicke in die Webarbeit erleben.

Parfum "Serpanok" von Arboretum
Modekollektion von Dzhuz
Modekollektion von Dzhuz
Teppich der Weberin Halnya Shiposha
Modekollektion von Dzhuz

Victoria Yakusha war mit eigenen Werken ihrer Einrichtungsmarke "Faina" vertreten, die sie 2015 gründete. Am Ende des Raumes der Schau hingen und standen Lichtobjekte ihrer neuen "Sluhach"-Kollektion. Die Designerin erzählte von der Beseeltheit ihrer Objekte. Erinnert das an isländische Naturreligionen, in der die Welt der Trolle und Elfen eine Rolle spielen? In Yakushas Werk steht der Naturbezug von Architektur und Design im Zentrum, zugleich gibt es eine Rückbindung fast aller ihrer Entwürfe zu tradierten Objekten der ukrainischen Kultur. Heute lebt und arbeitet sie hauptsächlich in Brüssel. Wenn irgend möglich fährt sie in die Ukraine, um dort eine besondere Verbundenheit zu erleben, sobald sie heimische Erde betritt. Das mag esoterisch klingen, ist es wohl auch, bildet zugleich eine Quelle der Inspiration für die Gestalterin. So leitet sich "Sluhach" ab vom ukrainischen Wort für "Zuhören". Die Lichtobjekte mit Musselin-Umhüllung mit röhrenartigen Ausstülpungen wirken wie kleine Lebewesen. Je nach Ausführung lauschen sie Ideen, Träumen, dem Verlangen, dem Schicksal und Zustand von Geist und Körper ihrer NutzerInnen. Und was das Beste ist: Keine Sensorik, keine KI oder sonstige Lauschtechnik ist dafür nötig – lediglich etwas Einbildungskraft. Für Stehleuchten wie auch für ihre Möbel nutzt Yakusha ein Material namens "Ztista", was auf Ukrainisch "aus Teig gemacht" bedeutet. Der Teig von Faina besteht aus Zellulose, Ton, Hanffaser, Holzspänen und einem Biopolymer. Die Materialmischung ähnelt einem traditionellen Putz ukrainischer Bauten, der sowohl vor Kälte wie vor Überhitzung schützen soll. Aus dem Stoff fertigen HandwerkerInnen mit denen Faina arbeitet, Oberflächen, deren handgemachte Qualität deutlich wird. Auch eine eigene Farbpalette gehört dazu, wie aus dem Materialkatalog hervorgeht, die Victoria Yakusha zeigt.

"Kommen Sie doch ins nächste Gewölbe", bittet eine Mitarbeiterin von "Contïnuum". Dort konnte man die Möbelkollektion "Movchun" von Faina Design ausprobieren: Massive, raumgreifende Objekte, dazu passend gibt es Leuchten, Vasen und Objekte vorangegangener Kollektionen. Gefertigt werden sie von HandwerkerInnen in der Ukraine, in Landesteilen, die nur selten unmittelbar vom Kriegsgeschehen betroffen sind. Auch bei "Movchun" kommen natürliche Materialien zum Einsatz, der Rahmen besteht aus recycelten Papierfasern, die Oberfläche aus dem bewährten "Ztista"-Teig, die Polster aus Naturkautschuk und die Bezüge wahlweise aus Hanf oder recycelten Baumwoll-T-Shirts.

Und noch einen Raum weiter ging es in die Tiefe des Kellers: Auf dem Tresen stand eine große Plastik, eine modulare Skulptur aus Schokolade, zusammengefügt aus drei verschiedenen Bauteilen. Geschaffen hat sie Dinara Kasko aus Charkiw, die nach dem Studium der Architektur und achtjähriger Berufserfahrung als Architektin und Designerin 2015 ihre Freizeitbeschäftigung Backen zum Beruf erkor. Es begann mit architektonischen Kuchenformen. Inzwischen arbeitet sie mit digital erzeugten Formen und kreiert neuartige disruptive Methoden fürs Konditoreihandwerk. Backformen aus Silikon entwirft sie am Rechner, ausgedruckt werden sie per 3D-Drucker. Sie unterrichtet angehende Konditoren digital, entwickelt ständig neue Formen und Rezepte. Auch als Beraterin ist sie international gefragt. "Backen", schrieb die New York Times 2019 in einem ausführlichen Porträt über Dinara Kasko, "ist eine exakte Wissenschaft, die fein kalibrierte Waagen und Thermometer und obsessives Herumprobieren mit den Verhältnissen von Flüssigkeit und Trockenmasse, Fett und Zucker erfordert." Schon in den ersten Tagen des Krieges musste Kasko aus ihrer Heimatstadt Charkiw fliehen, ihr Haus samt Studio und Gerätschaften zurücklassen. Die Deutsche Welle zeigte ihr Video, indem sie von der Flucht in die Westukraine berichtete. Heute lebt und arbeitet sie im Norden Englands.

Nach Mailand brachte sie eine verwirbelte Form mit, die sie mit der KI-Plattform zur Bildgenerierung "Midjourney" entwickelte. Das Rezept enthielt Pandan-Blätter. 550 Kuchen verteilte sie in der Ausstellung. Und ebenfalls per Midjourney schuf sie eine Reihe virtueller Torten für die britischen Krönungsfeierlichkeiten, die sie ihrer riesigen Instagram-Fangemeinde präsentierte.

Möbelkollektion "Movchun" von Faina Design
Möbelkollektion "Movchun" von Faina Design
Schokoladenskulptur von Dinara Kasko

Auf dem Salone del Mobile in Halle 24 präsentierten sich auf einem ukrainischen Gemeinschaftstand mehrere Aussteller. Viele gut ausgebildete DesignerInnen mittleren Alters mit internationalem Portfolio sind seit Langem auf Messen und Events präsent. Einige haben sich in der Designergruppe Diza Collective zusammengeschlossen. Vor allem die Männer können wegen des Krieges das Land nicht mehr verlassen. Designerin Kateryna Sokolova ist Mitgründerin des Labels Noom, sie studierte in Charkiw und an der Kunsthochschule Halle Burg Giebichenstein. Zu ihrem Werk gehören Möbel und Leuchten wie für Ligne Roset und ein ringförmiger AeroTwist-Lautsprecher. Mit "Noom" zeigte sie neue Varianten ihrer Möbel. Für Woo Furniture aus Kiew ist hauptsächlich Designer Dmytro Kozinenko aus Simferopol tätig, der ebenfalls zu Diza gehört und nicht nach Mailand kommen konnte. Das junge Label hat seine Produktion auf kleinere Objekte umgestellt, die in der Ukraine produziert werden und sich gut transportieren lassen. Denn die jungen Labels sind allesamt auf den Export angewiesen. Als der Überfall auf die Ukraine begann, flüchte Kozinenko aufs Land zu seinen Eltern. Aufgestapeltes Kaminholz, das er dort sah, inspirierte ihn zu "Drova", einem Hocker oder Sitzelement aus vier oder sechs Elementen. Mit dem Polstersessel "Play" hat Kozinenko ein Objekt geschaffen, das durch seine außergewöhnliche Form in Erinnerung bleibt. Bei einigen seiner Entwürfe gelingt es ihm, ausgehend von formalen Spielereien zu neuen Typologien zu gelangen.

In der Designgeschichte gibt es etliche Beispiele für Entwürfe, die auf Krieg und Krise antworteten. Es braucht Frieden und stabile politische Verhältnisse, um sie verstehen und schätzen und nutzen zu können. Aktuell gelingt es vielen ukrainischen Designerinnen und Designern, Gegenwelten zu entwerfen, die keine Weltflucht sind, sondern die auf einen künftigen Gebrauch verweisen.

Woo Furniture
Noom Design
Stuhl Flock von Noom Design
Hocker Freya von Noom Design