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Tücken des Objekts – Episode 1: Natur ist super
von Thomas Wagner | 30.01.2009

Ein Stuhl bleibt ein Stuhl. Da weiß man, was man hat. Denkt man. Man kann auf ihm sitzen, die Beine über die Lehne hängen, Bücher darauf stapeln, Kleider ablegen und vieles mehr. Der Stuhl: ein Basismöbel par excellence. Auch ein Tisch und ein Bett und ein Schrank und... und... und... erweisen sich in ihrer jeweiligen Funktion als überaus stabil. Gibt es sie also noch, die Konstanten unseres abendländisch geprägten Wohnens in der Welt? Ja und nein. Denn wir wissen auch: Ein Stuhl ist längst viel mehr als ein simpler Gebrauchsgegenstand und eine durchschnittliche, handwerklichen Traditionen folgende Schreiner-, Polsterer- oder Schlosserarbeit. Wer heute einen Stuhl entwirft, der weiß um die Herausforderung und den Zwang zur Originalität, die damit verbunden sind.

Unser Verhältnis zu den Dingen ist also komplizierter und komplexer als wir annehmen, wenn wir Stühle, Tische, Betten und Schränke auf ihre Funktion reduzieren. Die Dinge ändern nicht nur oberflächlich betrachtet ihre Gestalt, wenn neue Herstellungsverfahren angewandt und Materialien eingesetzt werden. Betroffen ist stets auch ihre symbolische Grundausstattung. Nicht zuletzt mittels dieser sucht der Mensch unserer Tage seine Bindung an die Dinge aufrechtzuerhalten, sich selbst und sein Verhältnis zur Welt in ihnen zu spiegeln und zu verstehen. Das mag abstrakt klingen, ist es aber keineswegs, umgeben uns die Dinge doch nicht nur wie zu gebrauchendes Zeug, sondern wie Signale. Sie bilden eigene Mini-Gesellschaften und fungieren als Co-Autoren, wenn es darum geht, uns selbst als Teil einer Geschichte zu entwerfen. Und so lohnt es, nicht nur danach zu fragen, welche Formen und Materialien, welche Stoffe und Oberflächen als aktuell empfunden werden, sondern auch, welche symbolischen Repertoires gerade aktuell sind und welche Geschichten solche Dinge über unser Verhältnis zur Welt erzählen.

Seit immer mehr Arten von der Erde verschwinden, die Natur nur noch in Reservaten sie selbst sein darf und zugleich in großem Stil in Bionik, Biotechnologie und Nanotechnik über den technischen Ersatz von Naturstoffen nachgedacht wird, drängen auffallend häufig biomorphe Formen und florale Muster in unsere Wohnungen. Wenigstens hier, in unseren Wohlfühlgehäusen, soll sie noch präsent sein, die Natur. Nicht nur als Naturstoff, sondern auch als harmlos-friedliches Bild von Natur und Wachstum. Also tauchen Ast- und Blattwerk, alle möglichen Geflechte und an solche gemahnende Muster derzeit auf Sesselbezügen, Vorhängen und Tischplatten auf, erscheinen in den Strukturen von Stühlen und lustigen Hockern.

Ross Lovegrove war einer der ersten, der Möglichkeiten erkannt hat, die in der symbolischen Bewahrung der real der Zerstörung ausgesetzten Natur liegen und einen Begriff geprägt hat, in dem Technologie und Naturbezug verschmelzen: Supernatural. Mit Hilfe der Spritzgusstechnologie mit glasfaserverstärktem Polypropylen hat Lovegrove unter dem selben Namen auch einen stapelbaren Stuhl und einen Sessel entwickelt, dessen Form, wie Lovegrove selbst sagt, „schlank, stark und gesund" wirkt. Lovegroves Entwurf ist ein gutes Beispiel dafür, mit welchem Selbstbewusstsein im Design eine Synthese aus einer symbolisch aufgeladenen organischen Form und einer sich neuester technologischer Verfahren bedienenden Überbietung der Natur erprobt wird. Vor allen mit gelochter Rückenlehne wirkt der Stuhl wie eine coole Pop-Version eines harmlosen Naturbezugs, der mittels seiner Eleganz jede Art schlechten Gewissens ästhetisch im Zaum zu halten weiß.

Was einen raffinierten, dabei aber kulturell gebrochen Naturbezug angeht, so fällt auch der neuen Stuhl „Vegetal" von Ronan & Erwan Bouroullec für Vitra auf. Nicht nur die ohnehin gegebene Vorliebe der beiden Brüder für organoide Formen spielt hier eine Rolle. Was die Genese des Stuhl betrifft, so wird eine nette Geschichte erzählt: Es sei das Wissen um eine eigenwillige Technik gewesen, mit der im 19. Jahrhundert in Nordamerika junge Bäume während ihres Wachstums in die Form von Stühlen gebracht wurden, die die Designer auf die Idee gebracht habe, selbst einen Stuhl zu entwerfen, der aussehen sollte, als wäre er gewachsen.

Stühle wachsen aber auch heute nicht. Und die Verwendung von durchgefärbtem, in gedeckten Farben gehaltenem Polyamid sorgt bei genauer Betrachtung zumindest auf der symbolischen Ebene für Verwirrung, ist Polyamid doch, wie der Name schon sagt, ein Kunststoff, also das gerade Gegenteil eines organischen Naturmaterials, das den Gesetzten des Wachstum unterliegt. Der Stuhl ist als Stuhl überaus gelungen, keine Frage, zumal „Vegetal" - trotz aller Unterschiede in der Materialität - auf dezent florale Gartenmöbel vom Anfang des 20. Jahrhunderts ebenso anspielt wie auf die wundersamen Möbel des Schweizer Bildhauers und Kunsthandwerkers Diego Giacometti, der Bruder des berühmten Alberto Giacometti, all dies aber verwandelt und mit Verve aktualisiert. „Vegetal" ist nicht die Spur nostalgisch; er wirkt vollkommen zeitgemäß. Und doch vergegenwärtigt er, wenn suggeriert wird, er entstehe aus einem kontrollierten Wachstumsprozess, auf der symbolischen Ebene nichts anderes als die kulturelle Domestizierung der Natur und deren Einschreibung in das Bild, das wir uns von ihr machen.

Stühle wie „Supernatural" oder „Vegetal" offenbaren also eine neue Qualität im Umgang mit einer symbolisch aufgewerteten Natur, die sich grundsätzlich von bloßen Oberflächenphänomenen unterscheidet, wie sie auftreten, wenn Klassiker wie Arne Jacobsons „Egg Chair" oder der S 411 von Thonet mit Stoffen bezogen werden, die florale Muster tragen. Die neuen Stühle sind zumeist Hybride, gebildet aus symbolischem Naturbezug und technischer Raffinesse. Inwieweit sie sich dabei im Interkulturellen tummeln und - wie etwa die aus durchbrochenen Elementen bestehende und auf so genannten „Mushrabije", in der traditionellen arabischen Architektur verwendete dekorative Holzgitter vor den Fenstern, anspielende Fassade von Jean Nouvels „Institut du monde arabe" - solche kulturelle Stilisierungen und Transformationen gebrauchen, wäre eigens zu untersuchen.

Das alte Verfahren der Nachahmung macht sich auch Marcel Wanders zu nutze, wenn er mit „Shithake" (Moroso) aus einem bekannten asiatischen Pilz einen ansprechenden Hocker zaubert. Aus Stamm und Schirm wird, in Kunststoff ausgeführt, nicht nur ein ironischer Kommentar, symbolisch betrachtet verwandelt sich ein Teil des Wohnzimmers auch ins schattige Unterholz, in dem aus modrigem Grund Pilze sprießen. Etwas anders verfährt Patricia Urquiola bei ihrem „T-Table" (Kartell), wirkt die Platte des Beistelltischs doch aus der Ferne wie dichtes, von Licht durchflutetes Astwerk, erweist sich bei näherem Betrachten aber als unregelmäßiges abstraktes Muster. So halten Naturbezug und Künstlichkeit einander die Waage.

Das asymmetrische Honigwabendesign der ebenfalls aus Kunststoff gefertigten Sitzschale des Stuhls „Caprice" von Marcello Ziliani (Casprini) zeigt eine andere Variante der technischen Aneignung ursprünglich der Natur entlehnter Strukturen. Die Honigwabe ist nicht nur eine natürliche Struktur, sie gilt auch als äußerst stabil, weshalb sie in technischen Zusammenhängen überall dort eingesetzt wird, wo es um Gewichtsersparnis bei gleichzeitiger Steigerung der Festigkeit geht. Ziliani indes wandelt die Wabenstruktur bewusst ab und durchbricht ihre strenge Regelmäßigkeit. So macht er sie zu einem Effekt und als solchen erst interessant. Zugleich belebt er die Oberfläche seines Objekts, die freilich, weil Sitz und Lehne durchbrochen gestaltet sind, überladen wirkt. Dass eine durchbrochene Lehne um eines belebenden Elements willen wie der Blick durch ein Fenster in das blattlose Gezweig eines Baumes gestaltet werden kann, ohne dass das mit dem Stuhl als ganzem harmoniert, demonstriert am Ende ein Stuhl wie „Viento" von Dondoli und Pocci (Bonaldo). Es bleibt also nach wie vor riskant und keine einfache Sache, die Natur nachzuahmen.

THE EGG von Arne Jacobsen für Fritz Hansen
Shitake von Marcel Wanders für Moroso
Shitake von Marcel Wanders für Moroso
Caprice chair von Marcello Ziliani für Casprini
Viento von Dondoli und Pocci für Bonaldo
L'Institut du Monde Arabe von Jean Nouvel
Supernatural Stuhl von Ross Lovegrove für Moroso
Supernatural Armlehnstuhl von Ross Lovegrove für Moroso
Vegetal von Bouroullecs für Vitra
Vegetal von Bouroullecs für Vitra
T-Table von Patricia Urquiola für Kartell
T-Table von Patricia Urquiola für Kartell