Der japanische Beitrag zur diesjährigen Architekturbiennale, so war in den Ankündigungen zu lesen, feiere den Geburtstag des Metabolismus vor rund einem halben Jahrhundert. Entsprechend groß war meine Vorfreude beim Gang zum Pavillon. Ganze Städte überspannende Strukturen, Gerüste, in denen auswechselbare Container stecken, Kapseln, wie aus Science-Fiction-Filmen, Stahlbetonregale, hoch wie Hochhäuser, die Stadt als Maschine. Vielleicht, so dachte ich, würde ich seltene Zeichnungen der Marine-City Kiyonori Kikutakes sehen, Modelle der Megastadtplanungen für Tokio von Kenzo Tange und Kisho Kurokawa. All das kenne ich aus Büchern, ist schön eckig und kantig und utopisch und wird einen gewichtigen Gegenpol bilden zu all den leichten, beschwingten japanischen Häusern, von denen diese Biennale durchschwebt wird. Eine Erdung!
Ich nähere mich also dem schönen japanischen Pavillon aus den fünfziger Jahren von Takamasa Yoshizaka, ein fünfzehn auf fünfzehn Meter messender Oberlichtsaal, den metabolistische Betonscheiben in die Höhe stemmen. Unter dem Pavillon, ich verlangsame den Schritt, hängt eine sonderbare rot-weiße Kiste, daneben ein Pfeil mit der Aufschrift „Take a Look". Ich gehorche und finde meinen Kopf in einer Puppenstube wieder. Ein Architekturbüro mit allem Drum und dran, nur geschrumpft. Tische mit Plänen drauf, Stühle, Regale mit Modellen drin, mir schwindelt's. Verwirrt gehe ich unter dem Gebäude hervor und zum Eingang ein Geschoss höher.
Drinnen klärt sich langsam die Differenz zwischen Erwartung und Gesehenem: "Tokyo Metabolizing", kuratiert vom Architekten Koh Kitayama, nutzt das Geburtsjahr des Metabolismus lediglich als Aufhänger, um das Werk zweier Architekten auszustellen: das von Yoshiharu Tsukamoto, der zusammen mit Momoyo Kaijima das Atelier Bow-Wow führt, und dasjenige Ryue Nishizawas, Professorenkollege des Kurators in Yokohama und bekanntlich Partner der diesjährigen Biennalechefin Kazuyo Sejima im Büro SANAA.
Auf dem wunderschönen Marmorboden des Pavillons stehen die Modelle zweier Häuser in verkleinertem Massstab: Das eine (die Puppenstube, in die ich schon von außen geschaut hatte) ist das Wohn- und Bürohaus von Atelier Bow-Wow in Tokio. Auch der Wohnteil, der sich hier oben befindet, ist liebevoll eingerichtet, mit kleinen Möbeln, kleinen Flaschen auf dem kleinen Kühlschrank und kleinen Zeitungen auf dem kleinen Wohnzimmertisch. Wir kennen diese Liebe zum Detail schon von den zauberhaften Planzeichnungen des Büros und ihren kleinen Modellen, beides ausgestellt auch in Sejimas Hauptausstellung.
Das zweite Haus im Pavillon besteht aus vielen Häusern. Es ist das auch nicht mehr unbekannte Moriyama House von Nishizawa, ebenfalls in der japanischen Hauptstadt: zehn unterschiedlich große Würfel und Quader, mal ein-, mal zwei-, mal dreigeschossig, strahlend weiß und abstrakt, mit großen quadratischen Fenstern und verbunden nur über die Gassen und Gässchen, die zwischen ihnen liegen. Im einen schläft der Bauherr, Herr Moriyama, im anderen geht er aufs Klo, in einem weiteren kocht er - und so weiter. Zumindest von letzterem werden wir Zeuge in einem Film, der neben dem Modell an die Wand projiziert wird. Ein weiterer zeigt, wie das Bow-Wow-Architektenpaar in seiner „Puppenstube" lebt.
Doch der Kurator zeigt nicht nur zwei Arbeiten von zwei im Westen angesagten Büros. Er hat den Anspruch, den heutigen Zustand Tokios darzustellen. Und hier schließt sich der Kreis zur Ankündigung und zum Titel: Tokio, so die Erkenntnis aus der anderen, wesentlich schlankeren Hälfte der Ausstellung, sei eine „metabolisierende", eine sich „verstoffwechselnde" Stadt. Einige Filme zeigen, was es damit auf sich hat: Als eine der größten Metropolen der Welt, teilt sich die Stadt in immer kleiner werdende Einheiten auf. Solange sich die rund 1,8 Millionen Besitzer der einzelnen Parzellen an die Baugesetze halten, dürfen sie dort jeden Gebäudetyp realisieren, den sie wollen. Die Häuser verändern sich mit dem Lebensabschnitt ihrer Bewohner, werden abgerissen, wieder neu gebaut. Anders als in Europa, wo die Häuser in der Regel länger leben als ihre Bewohner, wechseln sie in Tokio im Schnitt alle 25 Jahre. Die beiden ausgestellten Bauten sind die vierte Generation auf ihrer jeweiligen Parzelle.
Ein schönes Triptychon gleich am Eingang der Ausstellung bringt diesen Unterschied auf den Punkt: Auf ein Luftbild von Paris, der „City of Monarchism", folgt eines von New York, der „City of Capitalism". Das dritte Bild zeigt Tokio, die „Metabolizing City" von oben. Dann beginnt sich das letzte Satellitenbild zu wandeln. Eine Parzelle - blop - wird plötzlich von einem größeren Haus belegt. Eine weitere - blop - wird zum Parkplatz. Nun wechseln immer mehr Häuser ihr Aussehen - blop, blop, blop; der ganze Stadtorganismus scheint in Bewegung, er kennt keine Ruhe und verändert sich immer rascher. „Genau so ist Japan", meinte eine Freundin, die das Land besucht hat, „die chaotische Stadt und darin all die kleinen feinen Häuser, wie Puppenstuben". Beim Hinausgehen bin ich versöhnt, habe meine Erwartung vergessen und viel über ein Land und seine Architektur gelernt.
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion
› Dirk Meyhöfer über die Gefühlslagen auf dem Weg zur Reanimierung der russischen Industriestadt Vyshny Volochok
› Claus Käpplinger über die Länderpavillons außerhalb der Giardini und der Arsenale