„ILLUMInazioni" nennt Bice Curiger ihre Schau zur diesjährigen Biennale. Der Disparatheit der Länderpavillons eine stimmige Erzählung entgegenzusetzen, mag diese auch noch so brüchig sein, lautet ihre Aufgabe. Wo zuvor Harald Szeemann, Francesco Bonami, Maria de Corral, Rosa Martinez, Robert Storr und Daniel Birnbaum ihr Glück versucht haben, breitet nun Bice Curiger die Werke von 83 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt aus: im Padiglione Centrale der Giardini und im Arsenale. Der exaltierte Titel verspricht nichts Geringeres als Aufklärung und Erkenntnis. Allerdings ist „Metaphorik des Lichts" hier recht eingeschränkt zu verstehen: Schlaglichtartig versucht die Kuratorin die im Dunkeln liegenden Zonen künstlerischer Produktion diesseits und jenseits der Nationengrenzen zu beleuchten.
Dass sie sich mehr dem Reiz des Neuen – und damit den Gesetzen des Marktes – als der Durchdringung der philosophischen und politischen Bedeutungsebenen des Lichts verpflichtet fühlt, lässt sich schon daran ablesen, dass sie es für nötig erachtet, eigens zu betonen, ein Drittel der Künstlerinnen und Künstler, die sie eingeladen hat, sei unter 35. Nur einer lässt den Altersdurchschnitt gewaltig in die Höhe schnellen: Tintoretto. 492 wäre er heute. Allerdings liegt er seit 1594 in der Kirche Madonna dell'Orto begraben. Ihm hat Bice Curiger den zentralen Raum im Padiglione Centrale reserviert. Statt sich den Schatten zu widmen, die Spekulationsgeschäfte auf all jene Kunstwerke werfen, die in der Lagunenstadt zur Schau gestellt werden, zieht die Ausstellungsmacherin es vor, das fahle Mondlicht zu ignorieren, das von der Yacht „Luna" des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch ausgeht. Lieber schaut sie zurück, in die Zeit der Dämmerung, als Jacopo Tintoretto die letzten Lichtstrahlen der goldenen Ära der Republik Venedig auf die Leinwand bannte. So kommt es, dass dort, wo vor zwei Jahren Tomás Saraceno ein spinnwebenartiges Geflecht aus schwarzen Fäden verspannte, das mit nichts Geringerem als dem Kosmos und dem Denken Buckminster Fullers in Verbindung stand, drei großformatige Hauptwerke Tintorettos hängen. Die Accademia, die aufgrund von Umbaumaßnahmen derzeit freigiebiger als sonst mit ihren Sammlungsbeständen umgeht, hat „Die Erschaffung der Tiere" (1550-1553) und „Die Bergung des Leichnams des Heiligen Markus" (1562-1566) beigesteuert, und die Palladio-Kirche des Benediktinerklosters San Giorgio Maggiore traut sich zu, für eine Weile ohne ihre Touristenattraktion „Abendmahl" (1592-1594) auszukommen.
Ohne Zweifel, es handelt sich um atemberaubende Bilder. Wer sie einmal gesehen hat, der kann sie nicht vergessen. Nicht die im Formationsflug vorpreschenden Schwäne und Gänse, die vom allmächtigen Schöpfer ferngesteuert zu sein scheinen. Nicht den aus der Zentralperspektive gerückten Tisch, an dem sich eine ungeordnete Schar von Jüngern versammelt hat, ohne zu wissen, wie ihr geschieht. Nicht die eben noch belebte städtische Piazza, die von einem Moment auf den anderen zum engen Korridor, ja zur Falle geworden ist, aus der es kein Entrinnen gibt. Nicht die von göttlichem Zorn zeugende Schwärze des Himmels. Nicht die in weiße Gewänder gehüllten Gestalten, die in den Arkaden Zuflucht suchen. Nicht die mit der Kraft der Verzweiflung an der Führleine eines Kamels zerrende Frau, die am Boden liegt. Nicht den leblosen Körper des Gemarterten, der in buchstäblich letzter Minute mit äußerster Kraftanstrengung geborgen wird.
Kaum ein Künstler, Kritiker, Kunsthistoriker, Sammler oder Galerist, der alle zwei Jahre zur Biennale nach Venedig fährt, der sich nicht darauf freute, ein paar Stunden „blau zu machen" und der Biennale ein Schnäppchen zu schlagen, indem er die Accademia durchstreift, Tizians „Assunta" in der Frari-Kirche einen Besuch abstattet, dem kleinen weißen Hund auf Carpaccios „Vision des Augustinus" zuzwinkert oder den Bilderzyklus von Tintoretto in der Scuola di San Rocco bestaunt. Ihren Zauber bezog die Biennale seit Jahr und Tag aus eben dieser dialektischen Spannung. Hier das Flüchtige; dort das Beständige. Hier die hektische Feier des Hier und Jetzt; dort die Abgeklärtheit des Historischen. Hier die im White Cube angerichtete Kunst, die ihre Bewunderer und Käufer sucht; dort eine in die repräsentative Kultur der einstmals mächtigen Serenissima eingebundene Malerei und Skulptur.
Dank der Intervention Curigers aber befinden sich die mit den Bauten, der Geschichte, der Machtpolitik und der Sozialstruktur Venedigs eng verbundenen Gemälde Tintorettos nun am selben Ort wie die auf einer Großausstellung herum vagabundierenden Kunstwerke, seien es die „unsichtbaren Bilder" von Bruno Jacob, die Lichtspuren von Jack Goldstein, die Maskeraden einer Cindy Sherman oder die durch eine rosarote Brille gesehenen Monitor-Veduten von Pipilotti Rist. Nackt, schlecht ausgeleuchtet und zum Salonbild degradiert hängen Tintorettos Gemälde in der containerartigen Architektur, ihrer historischen Bezüge beraubt. Man könnte eine solche Form der Präsentation schlichtweg als misslungen bezeichnen, keimte da nicht der Verdacht auf, dass eben diese Entkontextualisierung gewollt ist. Die Kunsthistorikerin Bice Curiger bedient sich einer bereits im 19. Jahrhundert im Zuge der Musealisierung der Kunst erfolgreich praktizierten Methode ihrer Disziplin: Durch das Abstreifen der Spuren des Historischen werden Bilder verfügbar gemacht.
Besser noch als die Ausstellung zeigt das der Katalog. Gleich auf den ersten Seiten, noch bevor den Sponsoren in Form von Logos gehuldigt wird, begegnen uns Tintorettos Bilder in Tranchen. Da es sich um fotografische Reproduktionen handelt, konnten die Gemälde entmaterialisiert, zerstückelt und in ein einheitliches Format überführt werden, das den Größenverhältnissen des Computerbildschirms entspricht und so den Wahrnehmungsgewohnheiten im digitalen Zeitalter entgegenkommt. Derart zugerichtet, lässt sich über die Bilder sprechen. Unter der Überschrift „Jacopo Tintoretto. Eine Diskussion aus zeitgenössischer Sicht", werfen die Kuratorin Bice Curiger, der Kunst- und Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, die Künstlerin Corinne Wasmuht und die Kunsthistorikerin Carolin Bohlmann eine laut knatternde Diskursmaschine an. Klar, Tintoretto ist einer von uns, ist da zu erfahren. Er habe mit Konventionen gebrochen, sei innovativ und experimentierfreudig gewesen, habe das Konzept des non finito entwickelt, um mit dem Eindruck des Unfertigen zu punkten. Es sei ihm gelungen, sich gegen Konkurrenten vom Rang eines Tizians oder Veroneses durchzusetzen, sich im Wettbewerb zu behaupten und so schnell zu produzieren, wie die wachsenden Bedürfnisse des Marktes es von ihm verlangten. Dank seiner Coolness, damals sprezzatura genannt, habe bei ihm noch die größte Anstrengung leicht und locker gewirkt. Prophetisch wie er war, schlug er sich bereits im 16. Jahrhundert mit der in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit der Minimal Art von Michael Fried problematisierten Theatralität herum, und mit seinen sich in die Tiefe ausdehnenden Szenerien nahm er die virtuellen Räume des Computerspiels vorweg. Ja, seine Bilder ähneln, so ist zu erfahren, animierten Schnappschüssen.
Integriert in die aktuelle Biennale wird Tintorettos Malerei zu dem gemacht, was die Kunst der Gegenwart so dringlich benötigt, um sich ihrer Relevanz zu versichern: zu einer verwertbaren Referenz. Je mehr Verweise sich anhand einer zeitgenössischen Arbeit aufzeigen – oder zumindest behaupten – lassen, um so wertvoller muss diese sein. So könnte man, auf eine kurze Formel gebracht, das derzeit geltende Paradigma umschreiben. Wer aber profitiert dann am meisten von der Implementierung des Bezugssystems Tintoretto in die Biennale? Doch wohl eine zeitgenössische Kunst, die sich den Mechanismen des Marketings klaglos unterwirft und im Historischen nichts als das Eigene wiederzuentdecken sucht. Schau her, raunt es durch die Raumfluchten des Padiglione Centrale: Es war schon immer so. Du musst Dich anpassen, das System bedienen, die anderen ausstechen, ohne Unterlass produzieren. Sei ein Held, wie Tintoretto einer war. Sei nicht so zimperlich. Mach dein Licht an. Und weiter geht's.
In unserer Reihe zur 54. Kunstbiennale von Venedig sind bisher erschienen:
> „Jenseits von Angst und Afrika" von Thomas Wagner
> „Taubenverteilen im Park" von Thomas Wagner
> „Wir verlassen den amerikanischen Sektor..." von Joerg Bader und Thomas Wagner
> „Mitgefangen, mitgehangen" von Annette Tietenberg
> „Amerikanische Turnstunde" von Thomas Wagner
> „ Widerstand - erstarrt oder verflüssigt?" von Barbara Basting