top
NCAR Mesa Laboratory, Boulder, Colorado, 243,000 SF, Government research laboratory. I.M. Pei & Associates. 1967.

NEW WORK
Ein wilder Ritt

Stromschnellen, Wasserfälle, plötzliche Richtungswechsel: Das Buch "The Office of Good Intentions" ist ungewöhnlich. Unser Rezensent Florian Heilmeyer hat sich durchschütteln lassen.
von Florian Heilmeyer | 13.10.2022

Ein Buch ist meist ein langer, ruhiger Fluss. Insbesondere Fachbücher fließen in gemächlichem Tempo dahin, breiten ihr Thema zu beiden Seiten flach aus, man kann jederzeit ein- und aussteigen, denn früh ist bereits zu ahnen, wohin die Reise gehen wird. Das vorliegende Buch "The Office of Good Intentions. Human(s) Work" ist überhaupt nicht so. Es ist ein wilder Ritt. Um im Fluß-Vergleich zu bleiben ist es ein Gebirgsbach, der in ungebremster Fahrt einen schmalen Canyon hinunterdonnert, voller Strudel, Stromschnellen, Wasserfällen und überraschender Wendungen. Und es ist dem Buch und seinen AutorInnen dabei herzlich egal, ob wir LeserInnen in unserem viel zu kleinen Kajak mithalten können.

Dabei handelt das Buch im Großen und Ganzen von einem eigentlich recht übersichtlichen Thema: dem Büro und wie wir Menschen darin arbeiten. Unübersichtlich wird das Thema allerdings durch die rasanten technologischen Veränderungen der letzten rund 50 Jahre. Und so beginnt "The Office of Good Intentions" auch mit einer kleinen Anekdote über Joseph "Lick" Licklider, einen der frühesten Internet-Pioniere, und die erste, am 29. Oktober 1969 von Computer zu Computer übertragene Nachricht: Selbst das kurze Wort "LOGIN" war für das Netzwerk zu viel, am anderen Ende erschien lediglich "LO_". Die Digitalisierung, die wir hier in ihrer Kinderstube sehen dürfen, ist bis heute dabei, unsere Arbeits- und Lebensbedingungen gründlich durchzuschütteln – so, wie uns dieses Buch durchschüttelt.

Denn es geht in atemlosem Tempo weiter, von Anekdote zu Anekdote, die im weitesten Sinne um das Thema Arbeit und/oder Büro kreisen. Unter Überschriften wie "Collage", "Time" oder "Lab" wird dort Andy Warhol mit seiner "Silver Factory" als Pionier des freien Arbeitens erwähnt, hier winkt uns kurz Steve Jobs aus seiner Garage zu und hinter der nächsten Biegung wartet schon Hugh Hefner, der legendäre Playboy-Gründer, in seinem riesigen Plüschbett. Die Zusammenhänge sind, wenn überhaupt, eher assoziativ und für uns LeserInnen manchmal leichter, an anderen Stellen kaum oder gar nicht nachvollziehbar. So entpuppt sich der Fluß, auf dem wir verzweifelt versuchen auf Kurs zu bleiben, als literarische Figur eines "stream of consciousness", der auf 592 Seiten sein Tempo nicht drosselt und auch durch die eingestreuten Bilder nicht leichter schiffbar wird. Eher im Gegenteil.

Zwischen den anekdotischen Essays ragen zwei Arten von Foto-Essays wie Felsen aus dem Fluss: das eine sind Fundstücke aller Art wie Zeitungsausschnitte, Werbeanzeigen sowie Bilder oder Zeichnungen von visionären Büromöbeln oder Kunstwerken wie die Mobile Tattoo Station von Meta, der Variable Chair von Peter Opsvik oder die Levus Zero Gravity Workstation. Diese Bilder bleiben ohne jede Erklärung. Das andere sind die Foto-Essays des niederländischen Architekturfotografen Iwan Baan, der zu 13 ikonischen Bürogebäuden in den USA geschickt wurde, die er im alltäglichen Betrieb fotografieren durfte. Warum genau diese Häuser? Das Buch verrät es nicht. Das Verbindende ist, dass alle nach 1950 gebaut wurden, ansonsten reicht die Palette aber von zweifellosen Sternstunden des Bürobaus wie Marcel Breuers IBM-Gebäude in Florida oder Louis Kahns Salk Institute in Kalifornien über abseitiges wie Paolo Soleris hippiesker Wohn- und Arbeitsstadt Arcosanti bis zu echten Entdeckungen wie das NCAR Mesa Laboratory von I.M. Pei in den Rocky Mountains, eine kantige Versammlung rosa gefärbter Sichtbetonklötze, die wohl nur den Wenigsten bekannt sein dürfte. Zwar gibt es zu jedem dieser Projekte kurze Einleitungstexte (in denen allerdings auch keine größeren Zusammenhänge hergestellt werden), wirklich enttäuschend ist jedoch der Verzicht auf Pläne; kein einziger Schnitt, kein Grundriss, kein Lageplan, der uns Lesern ermöglichen würde, die Projekte in ihrer räumlichen Organisation tatsächlich zu verstehen. Es bleibt auch hier beim flüchtigen Blick, bevor uns die wilden Wasser weiterziehen.

So spuckt uns dieses Buch am Schluss wieder an Land, ordentlich durchgerüttelt, nass, erschöpft und den Kopf noch voller Eindrücke. Und auch wenn es nicht das war, was ich erwartet hatte – eine gut sortierte Architekturgeschichte des nordamerikanischen Bürobaus –, bereue ich es doch nicht, diesen wilden Ritt mitgemacht zu haben. Denn da ist nicht nur der Stolz, die Fahrt überstanden zu haben, sondern auch das Gefühl, Wissen und Inspirationen mitgenommen zu haben, die einem irgendwie irgendwann irgendwo einmal nützlich sein könnten. Nein, doch, und bei allem Zweifel zwischendrin: Das ist ein tolles Buch.

"The Office of Good Intentions. Human(s) Work"
Florian Idenburg, LeeAnn Suen (eds.)
Fotografien von Iwan Baan

Taschen Publishing, 2022
592 Seiten
Sprache: Englisch
50 Euro