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Mit allen Sinnen

Lesley Collier ist Professorin für Ergotherapie mit einem Schwerpunkt auf Demenz, sensorischer Verarbeitung und sensorischer Integration. Welchen Einfluss Textilien auf eine kognitive Beeinträchtigung haben und wie ihre Forschung parallel für die Gestaltung von Arbeitsräumen genutzt werden kann, sagt sie uns im Interview.
12.11.2024

Anna Moldenhauer: Lesley, gemeinsam mit der Designforscherin und Textildesignerin Dr. Anke Jakob hast du den wissenschaftlichen Artikel "Sensory Design for Dementia Care – The Benefits of Textiles" veröffentlicht. Wie war dein Zugang zu diesem Thema?

Prof. Lesley Collier: Ich bin Ergotherapeutin und war immer daran interessiert, mit Menschen zu arbeiten, die unter sehr schweren kognitiven Beeinträchtigungen leiden. Gemeinsam mit einem Psychologen habe ich daher nach Möglichkeiten gesucht, um von Demenz Betroffene besser zu erreichen. Es gibt sensorische Ansätze für Kinder mit Lernschwierigkeiten und wir haben geprüft, inwieweit diese auch für Erwachsene hilfreich wären. Das Ergebnis ist ein Raum in einem Krankenhaus, der auf den Prinzipien einer sensorischen Umgebung basiert, aber altersgerechter gestaltet ist. Die dementen Personen sollen sich in dieser Umgebung sicher fühlen und eine Freude an der Interaktion entwickeln. Dafür haben wir unterschiedliche Objekte ausprobiert – im Bereich der Textilien waren es zum Beispiel optische Fasern, Kissen, Decken und Überzüge für die Armlehnen von Stühlen. Diese aktivieren unterschiedliche taktile Empfindungen. Ein paar Jahre später hat mich Dr. Anke Jakob mit der Frage kontaktiert, ob wir die Prinzipien systematischer einsetzen könnten. So sind wir in die Forschung eingestiegen.

Was waren die ersten Ergebnisse?

Prof. Lesley Collier: Das die dementen Personen dank der sensorischen Umgebung mehr kommunizierten und sich ihre Stimmung verbesserte. Dafür haben wir auch die Verwandten miteinbezogen, um individuelle sensorische Angebote zu schaffen – wie raue Stoffe für einen Mann, der früher als Tischler tätig war. Die Haptik hat ihn an seinen Beruf erinnert. Wir haben also viel über die früheren Erfahrungen der Menschen im Umgang mit Stoffen und Textilien nachgedacht und einen sensorischen Werkzeugkasten entwickelt, der dem Bedarf an sensorischem Input entspricht. Die unterschiedliche Haptik von Textilien, seien es Fellelemente oder Details wie Knöpfe, Quasten und Pailletten, regen zu mehr Interaktion und Erkundung an. Wir haben uns daher alle möglichen Accessoires angeschaut, die man auf Stoffen anbringen kann. Das Ziel war es sowohl anregende wie ruhige Bereiche zu schaffen, so dass sich die Personen das Maß an Stimulation wählen können.

Prof. Lesley Collier

Es gibt unterschiedliche Stufen von Demenz, inwiefern habt ihr jeweils den Einfluss der Textilien erforschen können?

Prof. Lesley Collier: Unsere Forschung war auf die schweren Beeinträchtigungen fokussiert, das kann ein spätes Stadium von Demenz sein aber auch eine schwere Lernbehinderung oder eine Beeinträchtigung des Gehirns nach einer Kopfverletzung. Wir haben erkannt, dass je schwerer der Zustand ist, umso singulärer muss der Reiz sein. Ein gesundes Gehirn kann verschiedene Stimulationsstufen gleichzeitig verarbeiten, ein erkranktes Gehirn braucht einen klaren Fokus, um den Sinnesreiz zu verarbeiten. Ich würde also sagen, dass es nicht unbedingt auf die Art des Stoffes ankommt, sondern auf die Komplexität des Reizes, den dieser bietet.

Was liegt der Verarbeitung von Sinnesreizen im Gehirn zugrunde?

Prof. Lesley Collier: Das Schöne an unseren Sinnen ist, dass wir nicht darüber nachdenken müssen. Daher funktionieren sie auch gut bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Unsere Sinne werden aktiviert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Aber natürlich können wir nicht ständig mit Sinneseindrücken bombardiert werden, denn das würde unser Gehirn nicht verkraften. Daher verfügen wir über die Fähigkeit, die Reize zu filtern. Wir haben also ein System in unserem Hirnstamm, die so genannte retikuläre Formation, die ein wenig einer Spielsteuerung bei einem Videospiel ähnelt. Wenn wir stark gestresst sind, die Spielsteuerung also hochgedreht ist, suchen wir gerne reizarme Umgebungen auf, um die Stimulation zu reduzieren. Menschen mit Demenz sind dagegen nicht mehr in der Lage, die Informationen, die sie erhalten, zu filtern. Der Grad der Stimulation muss daher von außen kontrolliert und reduziert werden, damit sie diesen verarbeiten können.

Zu der sensorischen Ansprache gehört neben der Haptik der Textilien auch der Geruch, wie von Schafswolle und das Geräusch, wie bei Stoffen, die knistern. Habt ihr das miteinbezogen?

Prof. Lesley Collier: Absolut. Es gibt da viele Varianten, jeder Stoff hat einen eigenen Charakter in Haptik, Geruch und Geräusch, vom Leder bis zur Wolle. Zudem gibt es Stoffe, die in einen Duft eingebettet sind, wie von einem Weichspüler, den die Person früher gerne verwendet hat. Auch die Präsentation der Textilien ist wichtig: Ein seidiger Schal lädt dazu ein, diesen am Körper tragen zu wollen, ebenso wie man Schnüre gerne auffädelt oder knotet. Über die Interaktion mit den Textilien werden die sensorischen Systeme angesprochen.

Wurden auch intelligente Textilien untersucht?

Prof. Lesley Collier: Bisher wurden diese noch nicht für unser Projekt entworfen, aber ich denke vor allem Stoffe mit optischen Fasern wären interessant. Ein mit Gewichten versehener Stoff drückt zudem auf die Nervenenden unter der Haut und wirkt beruhigend, ähnlich einer Umarmung. Das wird als tiefe Propriozeption bezeichnet.

Wie sollten Räume für demente Personen idealerweise mit Textilien ausgestattet werden?

Prof. Lesley Collier: Ich arbeite bevorzugt mit der Idee eines sensorischen Werkzeugkastens, denn dieser ist flexibel für jede Umgebung einsetzbar. Vorab steht eine sensorische Untersuchung des Individuums, die aufzeigt, auf welchen Sinn die Person am meisten reagiert und wie sie sensorische Informationen verarbeitet. Braucht sie eine Vielfalt an sensorischen Reizen oder mag sie bestimmte Sinneseindrücke nicht? Dann spielt die individuelle Vergangenheit der Person eine Rolle, welchen Beruf hat sie ausgeübt? Welchen Aktivitäten ist sie gerne nachgegangen? Welche Textilien könnten eine Erinnerung hervorrufen?

Ihr habt im Rahmen der Forschung eine Vielzahl von Pflegeheimen begutachtet und hinsichtlich der Ausstattung von Textilien große Unterschiede festgestellt. Die von Sari Hedman gestalteten Räume in Finnland waren beispielsweise mit vielen Textilien in neutralen Farben ausgestattet, in den UK wurden eher weniger Textilien verwendet, dafür umso mehr Reize in der Beleuchtung. Gibt es Schulungen für die Pflegekräfte, inwiefern Sensorik und Textilien eine Therapiemethode sein können?

Prof. Lesley Collier: Meiner Erfahrung nach hat Europa bei diesem Thema einen Vorsprung. In Großbritannien zählt oft die schnelle Lösung, wie ein Medikament oder eine technische Hilfestellung. Dabei ist das nicht immer der beste Weg. Es gibt Schulungskurse, die Pflegekräften als Orientierungshilfe dienen. Einige davon organisiere ich selbst für Unternehmen. Und auch in der Ergotherapieausbildung ist die Sensorik nun Teil des Lehrplans in Großbritannien. Allerdings unterliegen die sensorischen Räume zahlreichen Bestimmungen, wie mit Blick auf die Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien. Stoffe werden aus der Sorge vor Infektionen entfernt, stattdessen wird Kunststoff verwendet. Kleinere Gegenstände kommen nicht in Frage, da die Sorge besteht jemand könnte daran ersticken. Ich denke, dass das Thema Gesundheit und Sicherheit im Vereinigten Königreich etwas aus dem Ruder gelaufen ist – was sehr bedauerlich ist – da die sensorischen Möglichkeiten begrenzt sind.

„Die unterschiedliche Haptik von Textilien, seien es Fellelemente oder Details wie Knöpfe, Quasten und Pailletten, regen zu Interaktion und Erkundung an.“

Prof. Lesley Collier

Bevor du in die akademische Laufbahn gewechselt bist, hast du viele Jahre als Ergotherapeutin mit dementen Menschen gearbeitet – was hast du in dieser Zeit über Sensorik und Textilien erfahren können?

Prof. Lesley Collier: In der Zusammenarbeit mit dem Kollegen aus der Psychologie haben wir festgestellt, dass wir zu verschiedenen Tageszeiten unterschiedliche Ansätze benötigen. Während des Tages sollte die Sensorik für die PatientInnen stimulierend sein, gegen Abend und Nacht beruhigend. Vor diesem Hintergrund haben wir auch mit Aromen wie Zitrone und Zitrusfrüchten gearbeitet, oder mit schneller Musik, die ein Tempo von 70 Takten oder mehr hat. Dies führte zu einer Steigerung des Erregungs- und Wachheitsniveaus. Am Abend gingen wir zu weicheren Aromen wie Lavendel und einem langsameren Musiktempo über. Bei den Textilien haben wir weiche Stoffe ausgewählt. Über den Tag haben wir dann beobachtet, wie die Personen auf die Reize reagieren, wie aktiv sie sind. Das Ergebnis: Sie waren ruhiger, ausgeglichener als zuvor, selbst in der kritischen Phase gegen Abend, in der demente Personen meist rastlos werden. Parallel haben wir die Angehörigen gebeten, über die Stimmung und das Verhalten der PatientInnen zu berichten, ohne ihnen vorab mitzuteilen, dass diese eine sensorische Therapie erhalten hatten. Auch über diesen Weg wurden wir bestätigt, denn laut den Familien waren die PatientInnen insgesamt ruhiger. An diesem Punkt habe ich mich entschlossen, in die Forschung zu wechseln, um die Effekte der Sensorik aus anderen Blickwinkeln betrachten zu können.

Könnte man deine Forschung zur Wirkung von Sensorik auch auf die Ausstattung von Arbeitsplätzen übertragen?

Prof. Lesley Collier: Ja, das wäre möglich. Ich habe bereits in diese Richtung erste Ausflüge unternommen, sei es für Arbeitsplätze auf der Erde oder für die sensorische Deprivation von AstronautInnen im Weltraum seitens der Space Development Organisation. Die Forschung der Sensorik betrifft nicht nur die Therapie von Krankheit, sondern auch wie wir unser Leben führen. Im Alltag sind wir ständig von Reizen umgeben und suchen diese auch selbst, wie in Form des Smartphones, das wir regelmäßig checken. Stimulation kann eine Droge sein. Unser Stresslevel bleibt so konstant hoch, das Nervensystem ist dauerhaft in Alarmbereitschaft und das ist ermüdend. Wenn man um den großen Effekt von Sinneseindrücken weiß, lässt sich dieser gezielt erzeugen. Es geht nicht nur um Krankheit, sondern darum, wie wir unser Leben leben. Einige Unternehmen setzen das auch bereits um, schaffen begrünte Arbeitsbereiche, gemütliche Räume mit Sofas für die Kommunikation sowie trennen mit Textilien ruhige und belebte Zonen. Sie haben erkannt, dass Menschen effektiver arbeiten, wenn man die Arbeitsumgebung sensorisch vielfältig ist und es reizarme Flächen gibt. Dazu gehört auch die Beleuchtung, die Qualität der Drehstühle und der Geräuschpegel. Kurzum: Es geht um die Sinne und die Bewegung.

Wie würdest du dir wünschen, dass Textilmessen die Forschung zur Sensorik aufgreifen?

Prof. Lesley Collier: Für mich steht die Erkenntnis im Zentrum, dass Informationen in erster Linie über die Sinne aufgenommen werden. Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen und Bewegen sind für unser Dasein essenziell. Wenn wir die Stimmung und Gesundheit von Menschen beeinflussen wollen, sollte das Design die Erkenntnisse der Sensorik berücksichtigen. Textilien beeinflussen die Akustik und Haptik im Raum. Auf meinem Schreibtisch habe ich beispielsweise eine Ledereinlage, die das Arbeiten an dem Möbel durch die Haptik besonders angenehm werden lässt.

Woran arbeitest du gerade?

Prof. Lesley Collier: Ich führe gerade eine Studie mit der britischen Universität von Exeter durch, wir untersuchen Therapieansätze für Menschen mit Delirium. Diese Menschen haben nicht unbedingt eine Demenzdiagnose, bevor sie ins Krankenhaus kommen, aber vielleicht haben sie eine Infektion gehabt und die beeinträchtigt ihre kognitiven Fähigkeiten. Und das Problem ist, dass es für ein Delirium keine spezielle Behandlung gibt. Daher bieten wir einen Behandlungsansatz an, der sowohl sensorische als auch physische Elemente zur Rehabilitation des Einzelnen umfasst. Wir arbeiten also mit PhysiotherapeutInnen zusammen, um zu versuchen, das Gehirn zu stimulieren, während sich die PatientInnen im Akutbereich des Krankenhauses befinden. Die Auswirkungen eines Deliriums können gemildert werden, aber nicht mit einfachen Medikamenten. Es braucht die richtige Therapie, und die muss nicht teuer sein. Leider werden PatientInnen oft direkt in ein Pflegeheim überwiesen, anstatt dass ihnen eine Therapie angeboten wird.