Thomas Wagner: Herr Cohn, wenn Sie sich umschauen, können Sie sicher zufrieden feststellen, wie erfolgreich sich das Alcove-Sofa der Gebrüder Bouroullec in der High-Back-Ausführung im Büro etabliert hat. Es hat ja fast eine neue Typologie begründet. Wann müssen wir mit einer Gegenbewegung, einer Art „Gegenreformation“ rechnen? Wann kommt der neue Barock?
Hanns-Peter Cohn: Das Alcove-Sofa erfüllt ja eine Funktion – und diese Funktion war in der Breite ihrer Anwendung so nicht absehbar. Die Story ist freilich etwas länger, weil die Veränderung der Bürowelt – weg von den Zellen, weg von den Einzelbüros, und hin zu einer offenen Bürolandschaft – natürlich neue Bedürfnisse mit sich gebracht hat, die auch wir nicht geplant hatten. Wir haben sie aber wahrgenommen, und so stand Alcove als mobiles Möbel zur Verfügung, das es ermöglicht, informelle Gespräche zu führen, aber auch einen Rückzugsraum zu bieten. Im Lauf der Zeit haben wir dann, weil wir das ja an uns selbst testen, die Erfahrung gemacht, dass es für ein Arbeiten in offenen Zonen psychologisch ungeheuer wichtig ist, Alternativen zu haben. Alcove bietet eine solche Alternative. Man kann den Arbeitsplatz verlassen und etwas anderes machen. Darin liegt der Erfolg des Produkts.
Schießt die Branche gerade über das Ziel hinaus und schließt die Mitarbeiter wieder in kleine Zellen ein? Sind Offenheit und Transparenz schon wieder auf dem Rückzug?
Cohn: Nein, das würde ich nicht so sehen. Bei den Zellen oder Gruppenbüros gab es die Tendenz zur Abriegelung. In der offenen Bürolandschaft gab es zu wenige Rückzugsorte. In beides kommt jetzt eine Balance, indem Rückzugszonen unterschiedlicher Größe geschaffen werden und der gesamte Raum neu gegliedert wird.
Die Sorge, dass es in Großraumbüros schon bald zu viele kleine Zellen geben wird, ist also unbegründet?
Cohn: Ich glaube das nicht nur, ich weiß es. Das ist natürlich abhängig von den Planern, die ein Büro oder eine Fläche, auf der sich Menschen bewegen, richtig einzuschätzen wissen. Aber nein, Befürchtungen hab ich diesbezüglich keine.
Vitra hat, was das Nachdenken über das Büro angeht, seit jeher auf aktuelle Veränderungen reagiert. Das 1991 begonnene Projekt „Citizen Office“ hat im Rückblick – vielleicht nicht in allen Details, aber doch vom Grundansatz her – vieles von dem vorweggenommen, was heute angeboten wird. Wie sehen Sie das Projekt heute?
Cohn: In einem wichtigen Punkt muss ich Ihnen widersprechen. Wir sind keine Vordenker, wir sind nur Handwerker im Hintergrund, die den Kreativen die Möglichkeit geben, ihre Gedanken auszuformulieren, und so war das damals auch – mit Ettore Sottsass, Andrea Branzi, Michele De Lucchi und James Irvine. Sie haben dieses Konzept erstellt, nicht wir. Sie waren es, die gesagt haben, das moderne Büro sei so etwas wie eine Stadtlandschaft. Wir sind nicht gut genug, um so etwas zu machen.
Ihre Bescheidenheit ehrt Sie. Es war aber Vitra und kein anderer Hersteller, der das Projekt angeregt und realisiert hat.
Cohn: Ganz klar, natürlich…
Kontinuierlich mit fähigen Designern zusammenzuarbeiten war Ihnen doch immer wichtig?
Cohn: Ja. Wir lassen den Designern freie Hand. Die Welt ist leider voller Technokraten – und Technokraten ersticken die Kreativität. Das sind wir nicht. Wir wollen Anregungen geben, die Kreativität fördern.
Ist es das, was ein Produkt sympathisch macht?
Cohn: Es ist auch innovativ. Wer schafft Innovationen? Innovation machen Wissenschaftler, Innovation machen Kreative und keine Technokraten und keine Manager und auch keine Politiker. Insofern muss man denen, die das können, einen Freiraum geben. Auch Journalisten schaffen Innovation, öffnen neue Gedanken, neue Sichtweisen – und davor haben wir Respekt.
Bleiben wir noch einen Moment bei „Citizen Office“. Ist der Ansatz des Büros als Stadtlandschaft an ein Ende gekommen oder wird dieser erst jetzt in allen möglichen Varianten ausdifferenziert?
Cohn: Er wird erst jetzt richtig erlebt, zugleich aber schon wieder durch Technokraten falsch interpretiert, die den Raum aufteilen zwischen billigen, nicht nachhaltigen Arbeitsplätzen und öffentlichen Zonen, in die sie das Geld investieren, das sie dadurch eingespart haben, dass das Chef-Büro nicht mehr dieselbe Wertigkeit wie früher besitzt. Die Menschen haben ein Gefühl für Respekt. Das Missverständnis besteht also auch darin, dass es zwar unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Qualität von Formen gibt, die Menschen aber merken, ob etwas billig und schlecht oder gut gemacht ist.
Der Bürobürger – ich glaube, Sie nennen ihn neudeutsch Office Citizen – weiß also, was er will?
Cohn: Ja, es gibt das Citizen Office für den Office Citizen…
Wie werden sich dessen Bedürfnisse auf seine Tätigkeiten im Büro auswirken? Wird sich das Profil des Arbeitens weiter verändern? In vielen Branchen basiert es heute ja auf einem Wechsel zwischen Kommunikation und Rückzug, Gespräch und Konzentration. Wird sich daran in den kommenden Jahren etwas ändern? Wird es technische Innovationen geben, die dazu führen, dass die gegenwärtige Typologie überdacht werden muss?
Cohn: Also getragen wird das Ganze ja durch die Business Technology, durch IT. In diesem Bereich wird es sicherlich noch einige radikale Veränderungen geben. Schon jetzt beobachten wir Verschiebungen, die vor wenigen Jahren noch undenkbar waren. Etwa: „Bring your own device“. Das heißt, wir haben sogenannte „digital natives“, die im privaten Umfeld mit IT-Technik virtuos umgehen und sich ganz selbstverständlich in „social networks“ bewegen. Das entmachtet in gewisser Weise die IT-Mafia, weil die Leute mit eigenen Ideen in die Firmen hineinkommen, weil sie auf einem ganz anderen Stand sind und sich nicht länger durch umständliche Prozesse domestizieren lassen wollen.
Ich denke, wir wissen alle recht gut, was es bedeutet, sich nach den Vorgaben von IT-Beratern richten zu müssen, die von den eigenen Arbeitsabläufen keine Ahnung haben und rücksichtslos alle über einen elektronischen Kamm scheren.
Cohn: Das ist die eigene, individuelle Betrachtungsweise. Die zweite Betrachtungsweise ist: Es wird immer mehr Firmen bewusst, dass Personalkosten hohe Fixkosten sind. Das wird dazu führen, dass Prozesse automatisiert werden. Das heißt, die Administration wird weiter zurückgehen oder verlagert werden. Im Gegenzug wird die Wissensarbeit gefördert. Wobei ich bei der Förderung der Wissensarbeit natürlich auch sagen kann: Ich lagere das eine oder andere aus und hole mir partiell Know-how in die Firma. Das bedeutet: In den kommenden Jahren werden wahrscheinlich eine Menge Büros abgebaut werden. Durch die aktuelle Business Technology kann einerseits von zuhause aus gearbeitet werden, andererseits siedeln sich immer mehr Firmen in der Nähe von Wohngebieten an und entlasten damit die Infrastruktur. Es wird also weitere Veränderungen geben. Das Büro wird noch stärker zu einem Ort der Kommunikation werden, an dem man sich trifft, um einfach den persönlichen Austausch zu haben. Die Büroeinrichtung wird dem in noch stärkerem Maße Rechnung tragen müssen, als das heute schon der Fall ist.
Kann es Ihnen als Büromöbelanbieter recht sein, wenn es weniger Büros geben wird?
Cohn: Unser Marktanteil ist gering. Auch wenn der Markt gewaltig schrumpfen sollte, so ist noch genug Platz da für Unternehmen, die auf Nachhaltigkeit, auf Biomechanik, auf wirkliche Inspiration Wert legen. Wobei wir natürlich auch im sogenannten „residential market“ Gas geben. Es ist unser Traum, dass wir die Menschen mit unseren Produkten, bis auf Bett und Küche, von morgens bis abends – und sogar auf Reisen – begleiten.
Die Nomadisierung schreitet also fort. Müssen wir mit einem Büro-Bürger rechnen, der noch beweglicher ist und sein muss als bisher? Wie könnte dessen Arbeitswelt in zehn oder zwanzig Jahren aussehen?
Cohn: Das ist ein Evolutionsprozess. Mit „Citizen Office“ hatten wir ein Forschungsprojekt, das wir wiederentdeckt haben. Offen gesagt: Auch wir hatten es ein paar Jahre lang vergessen. Dann aber haben wir festgestellt: Das entwickelt sich ja in die Richtung, die wir damals erkundet haben. Zudem waren wir überzeugt, das Büro würde sich immer mehr in Richtung Kommunikation und Austausch entwickeln. Warum haben wir diese Mission? Weil wir spüren, dass durch den Einfluss der digitalen Medien die Kommunikationskunst unter Menschen leitet. Ehen werden heute schon im Netz geschlossen…
... und über Twitter beendet....
Cohn: … ja, so ist das heute. Ich denke nicht, dass es da eine Rückbesinnung geben wird. Doch aus jeder Bewegung resultiert eine Gegenbewegung. Man wird eine neue Ordnung finden, die Begegnungen ermöglicht, ob das inspirierende Orte im Freien sind oder ob man sich im Restaurant oder Bistro begegnet.
Wird der Wunsch nach direkter Kommunikation tatsächlich gestärkt, weil wir bei der rein elektronisch-virtuellen Kommunikation einen Mangel empfinden? Die elektronische Kommunikation hat doch auch ihre Vorteile. Sich mit anderen in fernen Weltgegenden auszutauschen, ist einfacher geworden. Ist es nicht so, dass wir sowohl etwas verlieren als auch etwas gewinnen?
Cohn: Wir kooperieren mit CISCO-Systems und haben in verschiedenen Zonen Tele-Video-Conferecing-Devices installiert. Ob man solche Möglichkeiten nutzt oder nicht, hängt am Ende davon ab, wie leicht das geht. Wir sind alle gezwungen, bedingt durch die Situation der Umwelt, unsere Reisen zu reduzieren und schneller über Kontinente hinweg miteinander zu kommunizieren. Entscheidend dabei ist, ob und wie einen intelligente und praktische Mischung von digitaler und physischer Kommunikation gelingt.
Brauchen wir tatsächlich mehr Technologie, um das Arbeiten einfacher machen zu können? Als Video-Konferenzen als ultimative Lösung gepriesen wurden, war die Technik noch so schlecht, dass es nicht funktionieren konnte. Heute funktioniert die Technik, aber wir bleiben skeptisch. Versprechen sie sich von neuen Technologien wie Cloud-Computing, dass das Büro von Ballast befreit wird? Es ist doch so: Erst gab es Großrechner, dann Kisten auf oder unter dem Schreibtisch; erst galt es, riesige Röhrenbildschirme unterzubringen, dann schufen Flachbildschirme wieder mehr Platz. Jetzt haben wir nur noch einen Laptop oder ein iPad bei uns. Was bedeutet es, wenn das Büro von sichtbarer Technik entlastet wird?
Cohn: Das lernen wir ja von Steve Jobs, Tim Cook und Jonathan Ive. Apple hat mit seinen Produkten die Welt revolutioniert, mit Produkten, die sich angenehm anfassen, die klein sind, die man überall hinstellen kann und die keine hässlichen Kisten sind, die man eigentlich nicht mag. Mit einem iPhone hat man geradezu eine „love affair“. Natürlich prägen solche Dinge auch das Büro.
Arbeitsplätze können also kleiner werden?
Cohn: Absolut. Die bisherigen Normen werden außer Kraft gesetzt. Es ist heute ja schon so, dass non-territoriale Arbeitsplätze nicht unter die Norm fallen, weil der Mitarbeiter nur zwei, drei Stunden an seinem Arbeitsplatz sitzt. Außerdem müssen wir alle, schon aus Gründen der Nachhaltigkeit, mit „Raum“ sorgfältig umgehen. Wir müssen auch mit Energie sorgfältig umgehen, weil Kraftwerke abgeschaltet werden. Also werden auch die Zonen kleiner werden, in denen sich Leute beim Arbeiten abwechseln.
Das ist wie im Restaurant. Auch dort kaufe ich ja nicht den Tisch. Ich sitze dort ein, zwei Stunden und esse, trinke, unterhalte mich – und dann gehe ich wieder und ein anderer übernimmt den Tisch. Durch den Sharing-Gedanken entsteht eine völlig andere Kultur. Ich beobachte dies sehr stark in Städten wie Berlin, in denen Werte, mit denen wir groß geworden sind, auf einmal in Frage gestellt werden. Man bewegt sich in der Gesellschaft und teilt. Das ist eine neue Philosophie. Die Welt verändert sich radikal und das ist phantastisch! Je besser wir solche Veränderungen beobachten, desto besser können wir auf sie reagieren. Tatsache aber ist: Wir ziehen nur nach. Wir, als Vitra, verändern die Welt nicht.
Ist der Entwurf „Cork Desk“ der Gebrüder Bouroullec für kleine Arbeitsplätze eine solche Reaktion? Zumal dieser formal wieder in eine etwas andere Richtung weist?
Cohn: Es gibt eine große Begeisterung der Kreativen für den Entwurf. Und natürlich kämpfen wir immer gegen die Gleichmacher, die sofort sagen: Kann das nicht höhenverstellbar sein? Kann man das nicht rot einfärben? Und so weiter. Wir müssen mit solchen Versuchen in den Markt hineingehen und ein Gefühl dafür entwickeln, ob so etwas Zukunft hat. In diesem Fall kooperieren wir mit Amorim, einem großen Korkhersteller – und wir experimentieren. Es muss ja nicht aus jedem Produkt jetzt gleich ein Mengenprodukt entstehen.
„Cork Desk“ ist also ein Test-Ballon?
Cohn: Wir sind sehr experimentierfreudig. Wir verdienen ja auch Geld, um Innovation bezahlen zu können, was bei vielen Wettbewerbern leider nicht in gleichem Maß der Fall ist, weil sie – nach zwei Krisen – dominiert werden durch das gleichmacherische Denken der Technokraten, die diese Welt langweilig machen. Das ist furchtbar. Selbst wenn sie heute Vorstände inspirieren können, so wird das Erreichte oftmals auf die zweite, dritte Stufe im Unternehmen delegiert – und schon wird’s da wieder kaputt gemacht. Trotz alledem, wir werden weiter experimentieren, wir werden weiter Erfahrungen sammeln, weil wir eine Mission haben und diese Mission heißt: Ästhetisierung des Alltags. Da werden wir weitermachen.
Über Ästhetik wird heute leider kaum mehr geredet. Obwohl jede Ästhetik ja auch eine Ethik enthält, ästhetische Entscheidungen unser Verhalten und unser Verhältnis zur Welt mit bestimmen. Das sollten wir ein anderes Mal diskutieren. Meine letzte Frage ist sicher einfacher zu beantworten: Haben Sie unter all Ihren Neuheiten ein Lieblingsprodukt?
Cohn: Ich muss sagen, ich bin ganz verliebt in die „Workbays“, in die Zonen, in denen man alleine, zu zweit, zu dritt oder zu viert arbeiten kann. Ich bin auch ganz begeistert von deren Material, Polyester, das den Filz ablöst. Filz hat die gleichen akustischen Dämmeigenschaften, ist aber teuer. Und nun haben wir ein Material, mit dem wir mobile Zonen bauen können, die man je nach Bedarf auseinandernehmen und wieder neu aufbauen kann. Damit kann man Raum strukturieren, damit kann man Zonen schaffen, in denen man sich wohlfühlt. Das ist momentan mein Favorit.
Joseph Beuys hätte es nicht gefallen, dass Sie Polyester statt Filz verwenden.
Cohn: Wir haben ja durchaus mit Filz experimentiert, mit „Workshelter“ sogar ein Produkt entwickelt. Aber mit der Zeit kommt man eben auf einfachere Methoden – und das haben wir jetzt geschafft. Außerdem finde ich es gut, dass es die Gebrüder Bouroullec sind, die Alcove, und nun auch die Workbays entwickelt haben. Beides ergänzt sich – und das gefällt mir sehr gut.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.