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System als Prinzip
von Daniel von Bernstorff | 08.10.2008

Eine Szene für die Götter: Mitten im Kalten Krieg, im Sommer 1959, streiten sich zwei Männer, der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow und der amerikanische Vizepräsident Richard Nixon, nicht ohne Humor darüber, wessen Land den besseren Lebensstandard aufzuweisen hat. Die Debatte, die als „kitchen debate" in die Geschichte eingegangen ist - sie spielte sich an einer Schauküche ab - ereignete sich am Eröffnungstag der „American National Exhibition" in Moskau, der größten Ausstellung, die die USA je in der Sowjetunion zeigte. Chefdesigner dieser gigantischen Selbstdarstellung der Vereinigten Staaten war George Nelson, einer der prägenden Figuren des amerikanischen Designs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit Charles Eames hatte Nelson das Ausstellungsdesign der Schau entworfen, das man in der Rückschau getrost als revolutionär bezeichnen kann. Nelson baute in den zentralen Pavillon eine riesige dreidimensionale Ausstellungsplattform, auf der mehrere Hundert amerikanische Industrieprodukte ausgestellt wurden. Im angrenzenden Buckminster Fuller Dome liefen auf überdimensionalen Leinwänden die von Eames inszenierten „Glimpses of America", Filme, in denen die in der Ausstellung gezeigten Produkte im amerikanischen Alltag gezeigt wurden, quasi als Beweis, dass es sie für den Durchschnittsamerikaner auch wirklich gab.

Die American National Exhibition, ein faszinierendes Beispiel der Inszenierungskunst von George Nelson, ist ein zentraler Bestandteil der großen Nelson-Retrospektive, die noch bis zum 1. März 2009 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen ist. Sie zeigt den Amerikaner nicht nur in seiner Eigenschaft als Gestalter von Klassikern des amerikanischen Nachkriegsdesigns wie dem Coconut Chair, Marshmallow Sofa oder der Ball Clock, für die er zu recht berühmt geworden ist. Die von Jochen Eisenbrand kuratierte Schau, die auf den gewaltigen Nelson-Nachlass zurückgreifen kann, den Nelsons Witwe Jaqueline dem Vitra Design Museum zur Verfügung gestellt hat, präsentiert ihn vielmehr als Universalisten, der als ausgebildeter Architekt und Designer auch ein hervorragender Kritiker, Autor, Publizist, Dozent und Ausstellungsmacher war. Diese Bereiche werden in der Ausstellung gleichberechtigt nebeneinander gestellt - so entsteht ein vielschichtiges und detailreiches Portrait, das dem Besucher Mensch und Werk nahe bringt.

Nelson hat selbst über sich gesagt, dass er mehr an Systemen und an deren Nutzen für die Menschen interessiert ist, als an den Dingen selbst. Dieses Credo durchzieht alle fünf Ausstellungsbereiche, die ihn als Architekt und Designer, Corporate Designer, als Pionier der modernen Bürolandschaft, als Ausstellungsmacher und Autor sowie Publizisten zeigen.

Nelson entwarf mehrere Privathäuser und beschäftigte sich als überzeugter Verfechter einer Industrialisierung des Bauens intensiv mit dem Thema Fertigbau. Ausgehend von der Idee, dass sich ein jeder Bewohner sein Eigenheim nach seinen individuellen Bedürfnissen zusammenstellen sollte, entwickelte er das modular angelegte „Experimental House", ein utopistisches Wohnkonzept, das leider nie zur Realisierung kam. Weitere Themen in diesem Ausstellungsbereich sind Aufbewahrung - hier besonders eindrucksvoll die Storage Wall von 1944 - und Sitzmöbel, wie der bereits genannte Coconut Chair und das Marshmallow Sofa.

Eine Vielzahl von Broschüren, Plakaten, Anzeigen und historischen Tonaufnahmen dokumentieren die Entwicklung des Corporate Designs von dem amerikanischen Möbelhersteller Herman Miller, dessen Designdirektor Nelson von 1946 an war. George Nelson interpretierte die Arbeit des Designdirektors völlig neu, zog Charles Eames als gleichberechtigten Partner hinzu und entwarf auch für andere Firmen wie etwa den Pharmazeutika-Hersteller Abbott Coprorate Design Programme, die in der Ausstellung präsentiert werden.

Als Designdirektor von Herman Miller entwickelte George Nelson eine völlig neue und moderne Bürolandschaft. So entwarf er den ersten L-förmigen Schreibtisch als individuelle „Workstation" und konzipierte in den 1970er Jahren sein eigenes Bürosystem, die „Nelson Workspaces". Hier spielte, wie auch bei seiner experimentellen Architektur, dem Ausstellungsdesign und auch den Wohnmöbeln, immer die Idee des Systems, das auf frei kombinierbaren Modulen basiert, eine entscheidende Rolle.

Stellvertretend für Nelsons Tätigkeit als Ausstellungsdesigner steht in der Schau die American National Exhibition, für die ein kleiner Teil der Ausstellungsplattform nachgebaut wurde. Zahlreiche Fotos und Filmaufnahmen dokumentieren diese gewaltige Aufgabe, die nur ein Universalist wie Nelson bewältigen konnte.

Einer der interessantesten Ausstellungsbereiche zeigt Nelson als scharfsinnigen und humorvollen Autor, Publizisten und Lehrer. In Filmen und Diavorträgen setzt sich Nelson mit der Gestaltung unserer Städte, der Alltagsästhetik - so in seinem Buch „How to see"-, und dem Konsumverhalten auseinander. 1961, zur Hochzeit des Kalten Krieges trat Nelson mit seinem Vortrag „How to kill People. A Problem of Design" im Fernsehen auf und erregte großes Aufsehen.

Die Ausstellung öffnet einen spannenden Blick auf Design und Architektur in Amerika nach dem 2. Weltkrieg und ehrt George Nelson als prägende Figur und einen der letzten großen Universalisten des vergangenen Jahrhunderts.

George Nelson - Architekt, Autor, Designer, Lehrer
Bis zum 1. März 2009
Vitra Design Museum, Weil am Rhein
www.design-museum.de

Model of Experimental House, 1957, © Vitra Design Museum Archiv
Sideboard, 1946, © Vitra Design Museum Archiv
Marshmallow Sofa, 1956, © Vitra and Herman Miller, Inc
George Nelson, © Herman Miller, Inc.
Ausstellung mit einem Kommentar von Kurator Jochen Eisenbrand, Vernissage.tv
Swag desk chair für Herman Miller, Inc
Rosewood Miniature Cases, 1952, © Vitra Design Museum Archiv
Storage Wall, published in Life Magazine, 1945, © Vitra Design Museum Archiv
Pretzel Armchair, © Vitra Design Museum Archiv
Coconut chair, © Herman Miller, Inc.