Wie sähe Stuttgart aus, wenn Somalia EU-Mitglied wäre? Vermutlich so ähnlich wie Rio de Janeiro heute, allerdings ohne Lagune, Copacabana und Zuckerhut: jedenfalls eine wohlhabende Stadt zwischen Bergen, doch leider mit Flecken von Elendvierteln durchzogen. Viertel, in denen unter anderem jene 6.300 Migrationsopfer leben könnten, die binnen der letzten Dekade im Mittelmeer auf dem Weg nach Europa ertrunken sind, oder jene 30.000 Afrikaner, die allein im Jahr 2006 auf den Kanaren strandeten und zurückgeschickt wurden. Die Tatsache, dass die Binnenemigration dieses einen Riesenlandes Brasiliens auf der Fläche praktisch ganz Europas stattfindet, will nicht so recht in den Kopf hinein: doch sie ist der Grund für das gewaltige und bewegende Phänomen der Favela.
Die Ängste vor extremer Gewalt in Slums, vertreten durch Rios 150.000 Bewohner fassende Favela da Rocinha, in welcher Filmheld Edward Norton als Hulk herumhuschen durfte, jagen uns cineastische Kälteschauer über den Rücken. Dies sind Ängste vor einem Phänomen, das weit weg, ja exotisch erscheint. Die Favela ist jedoch, wie Eckart Ribbeck in seiner für jeden Interessierten unverzichtbaren Studie zum zeitgenössischen Städtebau, „Die informelle Moderne" (2002) am Beispiel des spontanen Bauens in Mexiko City gezeigt hat, das Modell aktueller und umso mehr künftiger Stadtentwicklung - insbesondere wenn man die unabwendbaren Klima-Migrationen der kommenden Jahre einbezieht. Hält man Fernando und Umberto Campana nicht für hoffnungslose Zyniker, dann kann man ihren Favela-Chair (2003), der für schlappe 4.000 Euro bei Edra zu erwerben ist, als Hommage verstehen. Eine Hommage an das Ingenium, an die Baulust wilden, durch kein Regularium außer dem nackten Markt angetrieben Wohnbaus. Die Favelas bestehen allerdings nicht, wie die Campanas suggerieren aus Holzlatten, sondern meist aus einfachen, mit Ziegeln ausgesteiften Eisenbetonkonstruktionen.
Was passiert in diesen Do-it-yourself-Städten? Manche warnen: hier herrsche die rohe Gewalt; andere munkeln: hier bestehe ein eigenartiges soziales Idyll, ähnlich mittelalterlichen Städten. Tatsächlich lässt die über Berge wuchernde Typologie an Städte wie San Gimignano in der Toskana denken. Es passiert, sagt der Grafikdesignprofessor João de Souza Leite bei einer Besprechung im Direktorat der Staatlichen Designhochschule Rio, dort „etwas Bedrohliches". Was sonst? Aber es ist insofern besonders bedrohlich, als es „die gesamte Verkehrsinfrastruktur" der 6,2-Millionenstadt Rio auf dem Kieker hat: Die Favelas ballen sich nach dieser These gezielt an den Ausgängen der für Rio unentbehrlichen Straßentunnels durch riesige Gneis-/Granit-Eier wie den emblematischen Zuckerhut. „Eines Tages", so João de Souza Leite, „werden die Favela-Banden die Tunneleingänge koordiniert blockieren und die Stadt als Geisel nehmen". Dafür, schlug der Oberbürgermeister Sérgio Cabral bereits 2007 vor, müsse man - vorbeugend - Mauern um jede einzelne der gut 600 Favelas der Stadt bauen, ähnlich jenem „Erfolgsmodell" zwischen Jerusalem und Bethlehem. Diese Paranoia sollte man allein aus Gründen der mentalen Gesundheit zunächst höflich belächeln.
Harald Welzer hält jedoch genau dies in seinem sehr lesenswerten Buch „Klimakriege" (2008) für den Normalfall künftiger Ausgrenzungen an den äußeren und inneren Grenzen der Wohlstandinseln Nordamerika und Europa: die Mauer - ob physisch, elektronisch oder infrarot. Nun kann uns das nicht egal sein, weil es zweifelsfrei zu den größten Freuden gehört, ziellos kreuz und quer durch Städte zu streifen, ohne zwanzig Checkpoints überwinden zu müssen. Wenn jedoch der Immigrationskonflikt mit Afrika eskaliert, werden wir es künftig erleben: Eine Mauer am Ende der Königstraße in Stuttgart. Und die Schwabenmetropole wird dennoch eine belebte attraktive Stadt bleiben, so wie Rio de Janeiro heute. Das ist, was es für die Zukunft zu begreifen gilt.
Georg-Christof Bertsch, Unternehmensberater und Honorarprofessor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und der Bezalel Academy of Art & Design in Jerusalem, berichtet aus Rio de Janeiro.