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Da muss auch ein Cowboy drauf sitzen können, ohne blöd auszusehen

Es könnte die Sensation der Orgatec werden: Der Designer Stefan Diez hat für Wilkhahn einen stapelbaren Stuhl entwickelt, der sich einer Technologie aus der Autoindustrie bedient und nicht nur im Büro eine gute Figur macht.
von Thomas Wagner | 20.10.2008

Cowboys sitzen fest im Sattel. Und das solide Leder, auf dem sie durch die Prärie reiten, hat seine eigene Patina. Doch die Zeiten haben sich auch für Cowboys geändert. Der Sattel, auf dem sie heute die Weiten der globalisierten Welt durcheilen, muss sich beim Business-Rodeo oder beim Meeting mit den Häuptlingen der Konkurrenz bewähren. Wie aber sieht er aus, der neue Sitz für all jene, für die Arbeiten und Leben eng zusammengerückt sind? Welche Ausstrahlung, mithin welche technische Raffinesse und welche sinnlichen Qualitäten muss ein Stuhl besitzen, der nicht nur ein funktionaler Gegenstand sein soll, sondern Teil des täglichen Lebens und Arbeitens?

Irgendwo zwischen Fahrradsattel und Autoblech hat Stefan Diez eine Antwort gefunden. Drei Jahre hat die Entwicklung des neuen Stuhls „Chassis" für Wilkhahn gedauert, nun soll er in dieser Woche auf der Orgatec vorgestellt werden - und so mancher wird sich ob der selbstverständlichen Eleganz, mit der er auftritt, bewundernd die Augen reiben. „Anfänglich hatten wir", heißt es in einem Buch, das den Entwicklungsprozess beschreibt und zur Orgatec erscheinen wird, „das Bild eines dreidimensional geformten Fahrradsattels aus Kernleder vor Augen. Ein zeitgemäßer Stuhl könnte in unseren Augen wie ein solcher Fahrradsitz aufgebaut sein: bestehend aus einer funktionalen, superleichten Tragstruktur und aus einer Sitzschale, die wie ein Sattel ergonomische Vorteile mit lebensnaher Gebrauchsästhetik verbindet."

Konstruktion

Also wird das Gestell aus Stahl gefertigt, einem Material, das eine hohe Stabilität aufweist und in großen Mengen verfügbar ist. Möglich geworden sei die Entwicklung eines Stuhls wie „Chassis", so Stefan Diez, freilich erst durch Entwicklungen, die sich aus der Globalisierung ergeben haben. Konkret: Da die Autoindustrie die elastische Verformung von Stahlblech nicht als exklusives Geheimwissen behandelt, sondern an Unternehmen wie Polynorm delegiert hat, stehen überhaupt flexible, auch kleinere Stückzahlen berücksichtigende Firmen und deren technisches Know How zur Verfügung, um neue Designlösungen zu erarbeiten. In einem langwierigen Prozess entstand somit in buchstäblichen Sinn ein ebenso leichtes wie hochfestes Chassis, bei dem es sich im Grunde - und das erklärt den Namen - um eine Art selbstragende Karosserie in Form eines Stuhls handelt, der ohne Auflage gerade einmal 2,6 Kilogramm auf die Waage bringt, also viel leichter ist als ein vergleichbares Gestell aus Aluminiumdruckguss oder Kunststoff.

Betrachtet man die Profile des Rahmens und der Beine, die separat hergestellt und mit dem Rahmen verschweißt werden, so lässt sich der weite Weg nachvollziehen, der seit der Erfindung von Stahlrohrstühlen zurückgelegt wurde. „Chassis" besteht eben nicht mehr aus gebogenen und verformten Rohren, sondern entsteht - aus zwei Stücken Stahlblech von gerade einmal einem Millimeter Materialstärke - in einem industriellen Tiefziehverfahren ohne nennenswerten Abfall, bei dem das Blech elastisch verformt wird. Nur so lassen sich enge Radien und hochbelastbare, elastische Strukturen realisieren.

Form

Ein solches Verfahren wäre nicht handhabbar, gäbe es nicht entsprechende Computerprogramme, die es ermöglichen, den Prozess der Herstellung zu simulieren. Die Form des Sitz- und Rückenrahmens, auf den die Sitzschale aus Kernleder - andere Auflagen, etwa aus dünnem Sperrholz, sollen folgen - aufgeklebt wird, ebenso die der Beine samt ihrer Verbindungen mit dem Rahmen, lassen sich ohne eine solche Simulation schlicht nicht entwickeln. Nur durch sie kann der Designer die Grenzen der Formbarkeit und Belastbarkeit seines Entwurfs ausloten, ohne mit enormen Kosten konfrontiert zu sein.

Betrachtet man den Stuhl näher, so wird klar: Die Struktur erscheint konstruktiv, offenbart aber nicht die Art ihres Entstehens. Durch die Torsion, durch das dreidimensionale Verformen des Blechs, wird ein Hohlkörper voll optischer Lebendigkeit erzeugt, der ähnlich verspannte, durch den Einfall des Lichts belebte Flächen aufweist wie man sie von den Entwürfen des BMW-Designer Chris Bangle kennt. Sogar die Sitzfläche aus Leder ist nicht einfach ein planes Stück natürliches Material, sondern durch Spannung belebt. Nicht nur das Material, gleichsam die gesamte Struktur erscheint auf subtile Weise verdreht. Dabei bleibt der Stuhl in seinem Auftreten überraschend leise und erscheint ungemein elegant. Er fasziniert nicht dadurch, dass er seine Technizität ausstellt oder ein formales Feuerwerk abbrennt, sondern durch eine homogene Gestalt aus einer Vielzahl reizvoller Details, die sowohl technisch als auch haptisch einen Hauch von Luxus verströmen.

Handschrift

Auffällig ist, dass „Chassis" scheinbar nicht die Merkmale einer Handschrift trägt. Und doch ist der Stuhl ein typisches Produkt von Stefan Diez. Nur liegt das Typische eben nicht im Bereich der Form, ist eher unsichtbar. Das Besondere wird nicht als ikonisches Signal herausposaunt. Diez ist ein überaus subtiler Gestalter, der Traditionen transformiert, und das in mehr als einer Hinsicht. Das bewährt sich geradezu exemplarisch bei der Aufgabe, einen Stuhl zu gestalten, sind auf diesem Feld doch nahezu alle formalen Lösungen durchgespielt und Innovation fast nur noch als Extravaganz oder als ironischer Kommentar zu Vorhandenem denkbar.

Bereits sein Stuhl „404" für Thonet zeichnet sich dadurch aus, dass er kein Kuckucksei im Programm des Herstellers ist. Präzise fügt er sich in die Formensprache von Thonet ein, ohne sich an deren traditionelle Gestalt anzubiedern. Ganz im Gegenteil. Er schafft es, das, was die Marke in ihrem Kern ausmacht, in einer originellen, neuartigen und zeitgemäßen Art und Weise zu artikulieren.

Tradition

Ähnliches gilt für „Chassis". Auch in diesem Fall denkt und entwickelt Diez seinen Stuhl gleichsam aus der Geschichte der Marke. Er entwickelt eine Form nicht als Selbstzweck, formt also nicht nur auf neuartige Weise ein besonderes Material, sondern berücksichtigt und transformiert zugleich die Bedeutung des Stuhls im Kontext der Kernkompetenz von Wilkhahn. Diese lag bislang vor allem in den Bereichen Ergonomie, Nachgiebigkeit und Flexibilität und verdankt sich einer eher von der Findigkeit von Ingenieuren getragenen Vorstellung von einer zukunftsorientierten Arbeitsökonomie. Hier setzte Wilkhahn mit dem legendären Bürostuhl „FS" mit Synchronautomatik, bei dem sich Sitz- und Rückenneigung jeder Sitzhaltung selbsttätig anpassen, schon vor vielen Jahren Maßstäbe.

Diez begreift, wie schon bei der Form, aber auch die technologische Seite der Sache nicht als Selbstzweck. Vielmehr entwickelt er eine Synthese, in der sich avancierte Technologie und subtile Handwerklichkeit verbinden. Was Diez zu erzeugen weiß, ist Tradition mit Zukunft. Oder, anders gesagt: er treibt der Technik die Flausen aus, verleiht ihr Bodenhaftung und verwandelt sie in ein ebenso selbstbewusstes wie selbstverständliches Stück Sitz-Kultur, so wie er umgekehrt, Handwerklichkeit entstaubt und sie zu technoider Eleganz steigert. Man könnte auch sagen, er macht das Neue angemessen und integriert es ins Bestehende.

Synthese

In dieser Synthese mag einer der Gründe dafür liegen, dass „Chassis" gleichsam ohne Allüren auftritt. Es handelt sich im positiven Sinn um einen Stuhl ohne ideologischen Überbau, um ein Ding, das seinen Sitz in einer Welt zum Ausdruck bringt, die lokale Verwurzelung ebenso braucht wie globale Ausstrahlung, und die High-Tech und Natur nicht länger gegeneinander ausspielt. Weil es Diez gelingt, Gegensätze zu überbrücken, wirkt sein Stuhl unverkrampft, ohne banal zu sein, raffiniert und schlicht zugleich - wie ein elegantes Cabrio mit Ledersitzen. Unwillkürlich denkt man an Raymond Loewys MAYA-Strategie des „most advanced, yet acceptable". Auch „Chassis" ist fortschrittlich, aber annehmbar, neu in der Technik und doch selbstverständlich im Auftreten, gerade so, wie es einem großen Wurf angemessen ist.