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"Seacrete"

JUNGE TALENTE
Aus der Taufe gehoben

"Ich war schon immer sehr fasziniert von natürlichen Materialien und wie sie in einem Ökosystem zusammenwirken", reflektiert Lotte Wigman, die mit Ludo Poot das Studio Lotek führt. Mit beiden haben wir über Algen, Muscheln und andere ökologische Baustoffe gesprochen.
von Elisabeth Bohnet | 10.07.2024

Lotte Wigman arbeitet seit längerem unter dem programmatischen Namen. Er setzt sich aus "Lo" für Lotte, und "tek" für traditional ecological oder environmental knowledge zusammen. "Das Wissen, wie man die Natur nutzen kann, ist ebenso gemeint wie das Wissen, das der Natur innewohnt", präzisiert Ludo Poot, der vor kurzem ins Studio miteingestiegen ist. "TEK" ist ein Konzept, das von Harold Colyer Conklin beschrieben wurde. Der amerikanischen Anthropologen ist für seine Studien über indigene Formen des Naturverständnisses bekannt. Lotte lernte Conklins Studien im Jahr 2019 kennen, als sie über indigenes Wissen recherchierte. Sie berichtet: "Zuvor hatte ich bereits Glen Albrecht durch Bücher und Dokumentarfilme kennengelernt und war fasziniert vom 'Symbiozän', einer Ära, in der Mensch, Natur und Technologie ein neues Gleichgewicht schaffen, was für mich eine tiefe Verbindung zu "TEK" aufwies. Inspiriert von diesen Ideen begann ich, für das Symbiozän zu entwerfen." Mit dem vorhandenen Wissen der natürlichen Umwelt befasst sich die junge Niederländerin seit ihrem Designstudium in Eindhoven. "Durch mein Designstudium und meinen Austauschsemester in Island, habe ich erkannt, meine Leidenschaften ernst zu nehmen, und dass ich mich mit der Geschichte und der Natur beschäftigen möchte", resümiert Lotte. Die Offenheit der ProfessorInnen in Eindhoven habe sie hierin unterstützt, indem Fragen gestellt wurden, wie: Wie siehst du die Welt? Was willst du tun? "Ich fand es sehr interessant, dass die Antworten darauf alle mit meiner Kindheit zu tun hatten und mit Dingen, die ich früher sehr interessant fand. Als Kind habe ich Steine, Muscheln und alle möglichen Naturmaterialien gesammelt. Meistens war ich im Wald, an der Küste oder im Garten zu finden und habe Hütten gebaut. Und meine Eltern haben mich in die historische Architektur eingeführt, etwa mit Reisen nach Pompeii", erinnert sie sich.

Erforschung von Ökosystemen in der Gezeitenzone
Seetang, welches Lotte zu Kleber verarbeitet
Lotte Wigman bei der Materliallese für "Seacrete"

Ihre Beobachtung, dass die neue lokale Architektur Islands auf Beton zurückgreift, der aufwändig über den Seeweg geliefert werden muss, sollte wegweisend für sie werden: "Ehrlich gestanden war ich ziemlich überrascht, dass sie dort keine natürlich vorhandenen Materialien verwenden, wo es doch riesige Mengen an Felsen oder vulkanischem Gestein gibt, mit dem sie im Römischen Reich auch zu bauen wussten." Lotte begann mit vorhandenen Materialien zu experimentieren, wie Muschelreste und Seetang, die in großen Mengen an Land gespült werden. Und sie recherchierte, wie Muscheln in der volkstümlichen Architektur genutzt wurden. Mit diesem ersten Ansatz im Gepäck ging sie zurück nach Eindhoven und entwickelte ihn im Kontext der niederländischen Fischindustrie als Abschlussarbeit weiter. Resultat ist "Seacrete", eine neuartige Bausubstanz aus Muscheln und Algen, aus der sie in Island bereits einen Hocker geschaffen hatte, der vor Ort am Strand gegossen werden konnte.

Muscheln und Kalkstein sind im Lauf der Geschichte immer wieder zum Bauen verwendet worden, allerdings werden die Materialien üblicherweise durch Mahlen und anschließendes Brennen in chemischen Prozessen verarbeitet. Wie bei der Betonherstellung, löst das Calciumoxid (Branntkalk) die chemische Reaktion aus. Lotte erklärt: "Ich wollte es anders machen und habe Materialien aus dem gleichen Ökosystem gesucht. Seetang wird in verschiedenen Kulturen und Ländern auch als Klebstoff verwendet. Ich stieß auf ein Rezept aus Japan, das Algen als Leim fürs Buchbinden nutzbar macht. Mit dieser Rezeptur habe ich aus Seetang einen Klebstoff hergestellt. Anschließend habe ich beides mit Wasser vermengt und an der Luft trocknen lassen." Das Gemisch verbindet sich mit dem Klebstoff und härtet an der Luft dank des vorhandenen Calciumcarbonats, Alginats und verschiedener Proteine von selbst aus. Energie wird lediglich benötigt, um es zu verdichten. Wie beim Stampflehm muss ein Dach stärkere Niederschläge abhalten, und größere Muschelstücke dienen als eine Art Trennschicht um die Erosion aufzuhalten.

Nach diesem wegweisenden Projekt war es für Lotte ein logischer Schritt, sich weiter mit ökologischem Bauen auseinanderzusetzen. Deswegen hat sie sich im Anschluss für einen Master in "Ecological Architecture" entschieden und ist dafür 2023 nach Barcelona gegangen.

Ludo Poot and Lotte Wigman
"Seacrete"-Hocker
Lotte Wigman

Auch Ludo hat diesen Studiengang absolviert. Zuvor studierte er Multimedia Design in Rotterdam und im Anschluss Interactive Media Design in Breda. Nach zehn Jahren wechselte er vom digitalen Raum in den analogen: "Ich kann mir vorstellen, dass das wie ein großer Schritt wirkt. Für mich war es eher eine logische Entwicklung: vom interaktiven digitalen Design hin zu interaktiven physischen Objekten. Ich war immer davon getrieben, Dinge für die menschlichen Sinne zu entwerfen, die eine Wirkung haben und menschliche Erfahrungen schaffen, eine Geschichte erzählen oder die wir nicht nur sehen und hören, sondern auch riechen und berühren können", erklärt Ludo seine Entscheidung. Die Arbeit mit natürlichen Materialien und natürlichen Prozessen habe etwas sehr Logisches und Schönes. Materialien aus der Region eigenständig zu verarbeiten, könne in der Praxis sehr inspirierend für das Entwerfen und den Prozess an sich sein.

Mit ihrem Hintergrund im Design war das Studium gemeinsam mit vielen ArchitektInnen für beide Seiten sehr erkenntnisreich und inspirierend. Ihr interdisziplinärer Ansatz und die Offenheit für neue Praktiken brachten eine breitere Perspektive. Lotte beschreibt: "Unsere Denkweise bot einen anderen Designansatz, wir stellten beispielsweise die Materialien viel mehr in den Vordergrund. Deswegen ist auch die Art und Weise anders, wie man an die Gestaltung eines Raums oder Objekts herangeht." Und Ludo fügt hinzu: "Den ArchitektInnen wurde beigebracht, sich an Vorgaben und Richtlinien zu halten. Aber wie würde es aussehen, wenn man diese Regeln erstmal außer Acht lässt?" Der praktische Ansatz des Studiengangs kam den beiden entgegen. Sie lernten den Prozess der Holzverarbeitung, von der Waldbewirtschaftung über das Sammeln, Schneiden und Verarbeiten bis hin zu einem real nutzbaren Produkt oder Baustoff. Zudem vertieften sie ihr Wissen über die Konzeption und Konstruktion unserer gebauten Umwelt unter Berücksichtigung von Themen wie ökologische Resilienz, sich ändernde Klimabedingungen, Ressourcensicherheit oder biologische Vielfalt.

Zurück in den Niederlanden sind die Aufgaben im jungen Studio nicht streng aufgeteilt. Beide schätzen die Reflexion, die der gemeinsamen Arbeit an Projekten innewohnt. "Mit einem Gegenüber muss man seine Ideen und Entscheidungen anders hinterfragen und argumentativ begründen. Das macht den Prozess deutlich reflektierter – und das Ergebnis kann davon nur profitieren," ist Ludo überzeugt. Generell steigt Lotte tief in die Materie ein und kundschaftet sie in alle Richtungen aus. Ludo ist der eher technisch veranlagte Teil und stellt mehr Fragen nach dem Wie und Warum. Er bringt die Fäden zusammen und zieht Schlüsse, was aus Lottes Erkundung fruchtbar gemacht werden kann. Diese vielversprechende Zusammenarbeit steht noch ganz am Anfang. Ein gemeinsames Projekt ist "Negotiating Boundaries", für das sie bereits viel Aufmerksamkeit erhalten haben und unter anderem für den Kazerne Design Award 2024 geshortlistet waren.

Broschüre zu "Seacrete"

Dabei handelt es sich um einen Vorschlag, wie "Seacrete" genutzt werden könnte. Aus dem Muschelbeton haben sie einen "tidal pool", ein Gezeitenbecken, entworfen, das – in der Gezeitenzone platziert – zwischen Meer und Land vermittelt. Inhaltlich geht es um die Interaktion zwischen der Natur und dem Menschen. Die Idee für das Gezeitenbecken stammt auch von den natürlichen Tümpeln, die an der Küste entstehen und ist zudem inspiriert von Muschelkalk (fossiler Kalkstein), der allmählich durch Wind und Meer erodiert wird. Lotte erklärt: "Meine Vorstellung war, dass wir als Menschen diese Strukturen bauen und dass sie dann im Laufe der Zeit von Nicht-Menschen genutzt und übernommen werden können. Wir entwerfen mehr als nur den ersten Schritt. Wir haben etwas entworfen, das sich in etwas anderes verwandeln kann." Bei "Negotiating Boundaries" schützen Lotte und Ludo "Seacrete" nicht vor Nässe, um es zu konservieren, sondern platzieren es an einem Ort, wo es stark beansprucht wird. "Wir spielen mit dem Zerfall und forcieren den natürlichen Erosionsprozess. Wir versuchen nicht, Strukturen aufrechtzuerhalten, die Menschen nutzen können, sondern fragen: Wie kann man etwas für Menschen, und im Anschluss für Nicht-Menschen nutzbar machen, auch im Hinblick auf den steigenden Meeresspiegel?" erläutert Ludo. Und Lotte ergänzt: "Es ist auch die, in unserer Heimat, den Niederlanden, begründete Idee, auf einem Stück Land zu bauen, das in einigen Jahren eventuell überflutet sein könnte, und woraus sich dann ein Biotop oder ein Lebensraum für andere Lebewesen entwickeln würde, ohne der Umwelt zu schaden." In einer Testphase möchte Lotek "Seacreate" weiterentwickeln und an der Küste in salzhaltigerem Gewässer prüfen, wo auch andere Universitäten ihre Tests durchführen. "Leider gibt es viele Beschränkungen in den Niederlanden dazu, aber wir würden das Gezeitenbecken natürlich gerne am Stand aufstellen und über längere Zeit beobachten was passiert."

Mit ihrem nachdenklichen wie fundierten Ansatz wollen sie in naher Zukunft Architektur entwerfen und bauen. Lotte erläutert ihr Vorhaben: "Mit dem Hintergrund im Holzbau können wir unsere Materialforschung auf einen größeren Maßstab anwenden." Sie wollen sich Zeit nehmen und herausfinden, welche Ökosysteme es in der jeweiligen Umgebung des Projektes gibt und welche menschlichen und nicht-menschlichen Bedürfnisse dort vorhanden sind. Auf Basis der lokalen Materialien werden sie prüfen, wie diese verarbeitet werden können.

Visualisierung von "Negotiating Boundaries"
Materialforschungsproben "Seacrete"
Teilstück eines "Tidal Pools"