Stimmige Gegensätze
Die viktorianischen Häuser, die sich in vielen Gegenden Londons Seite an Seite aufreihen, bieten ideale Voraussetzungen für das kreative Bauen im Bestand: Errichtet zwischen 1837 und 1901 zur Regierungszeit Königin Viktorias von England, vereinen sie unter ihren Schieferdächern eine Vielzahl an Architekturstilen: mal sind sie sachlich, mal prunkvoll, mit aufwändig gestalteten Fassaden aus mehrfarbigen Ziegeln und mit Erkern, Schmuck- wie Reliefplatten oder Rundbögen versehen. Das zweigeschossige "House Recast" von Studio Ben Allen gehört zu den aktuellen Paradebeispielen, wie diese schützenswerten Häuser modern umgebaut werden können, ohne dabei ihren historischen Charme einzubüßen. Ausgezeichnet als Siegerbeitrag des "Don't Move, Improve!" Awards 2021 haben die Architekten Omar Ghazal und Ben Allen für das Gebäude im Stadtteil Harringay in Norden von London den Fokus auf zwei Bereiche gesetzt: Die Rückfassade des Hauses war baufällig und bedurfte einer Sanierung. Zudem planten sie für den Um- und Anbau eine neue, offene Küche samt freistehender Theke und zwei Bäder – davon eines barrierefrei im Erdgeschoss. Aufgrund der begrenzten Fläche ließen die Architekten so viele Bauteile wie möglich vorfertigen. Das Tragwerk des Anbaus konnte dadurch in nur drei Tagen errichtet werden.
Mit dem Umbau durfte auch viel Farbe einziehen: Ein pigmentierter Beton in Grün, Blau, Lachs und Orangerot leitet den Blick nach innen wie außen und schafft stimmige Übergänge zur Backsteinfassade, den Etagen und der Natur im kleinen Garten. Alle Treppen, Böden, Theken und Waschbecken sind wie aus einem Guss aus pigmentiertem Beton gegossen, der sowohl als Struktur und Abschluss dient. Parallel setzten die Architekten unterschiedliche kulturelle Verweise: "Wir haben versucht, sehr sorgfältig zu prüfen, wie die Elemente in diesem relativ kleinen Raum viel leisten können, indem sie einerseits eine Reihe von strukturellen Aufgaben erfüllen, andererseits die Fläche auf zwei Ebenen öffnen und gleichzeitig auf verschiedene Strömungen verweisen – wie auf das jüdische Kulturerbe, die orientalische Bade- und Körperkultur des Hamam oder viktorianische Bezüge", so Omar Ghazal, Projektleiter des Studios Ben Allen. Die Wände gehen in Rundbögen über und das Fenster des Badezimmers im ersten Stock ist mit einem kunstvoll verzierten Sichtschutzelement versehen, das an Ginkgoblätter erinnert. Offene Durchgänge und Aussparungen verwischen die Grenze zwischen Alt- und Neubau und schaffen so ein weites Raumgefühl, zu dem auch ein neues Zwischengeschoss beiträgt, das die Struktur des Hauses auflockert.
Elegante Akzente setzten die Armaturen und Pendelleuchten in den Bädern und die Griffknöpfe aus glänzendem Messing in der Küche. Auf ihrer Oberfläche wird das Sonnenlicht reflektiert, das durch die bodentiefen Fenster und das tonnenförmige Oberlicht fällt. Insgesamt prägt ein diffuses Spiel aus Licht und Schatten die neue Atmosphäre im Haus, weshalb die Räume auch ohne viel Mobiliar lebendig und wohnlich wirken. "Das Gebäude besitzt eine echte Kohärenz, und steht in Beziehung zum Altbau. Es fühlt sich stimmig an. Nicht nur als Erweiterung, sondern als räumlich interessanter Leitfaden", fasst es Tom Foxall, Leiter der staatlichen Denkmalpflegebehörde Englands und Jurymitglied der diesjährigen Ausgabe von "Don't Move, Improve!" zusammen.