Haus der Zukunft
Wer eine grundständige Architekturausbildung suchte, war an der TU Carolo-Wilhelmina in Braunschweig immer gut aufgehoben, nicht nur zu Zeiten, als Meinhard von Gerkan dort drei jahrzehntelang lehrte. Wer sich als BaukünstlerIn und Entwurfsstar sah, wechselte nach Stuttgart, Aachen oder ins Ausland. Wenn also an der TU Braunschweig ein außergewöhnliches Gebäude entsteht, das weithin Beachtung erfährt, so wird das wohl kein spektakuläres, genialisch gestaltetes signature building sein, sondern ein zwar innovatives, dennoch grundsolides und beispielhaftes Werk, das Zeichen setzt. Die Rede ist vom neuen "Studierendenhaus" gleich neben dem historistischen TU-Hauptgebäude, das auf gleich mehrere Fragen Antworten geben will. Zum Beispiel: Wie werden wir morgen lernen und studieren? Für die Braunschweiger ArchitekturstudentInnen waren und sind die legendären Zeichensäle mit ihrer immer ganz eigenen Dynamik des kollektiven Lernens, in denen gemeinsam gearbeitet, diskutiert und gefeiert wird, die Fixpunkte des Studiums. Doch diese Arbeitsweise greift in jüngerer Zeit auch auf viele andere Fachbereiche über und ersetzt mehr und mehr den konventionellen frontalen Vorlesungsbetrieb.
Da die Studienweise in selbstorganisierten Gruppen per se eine informelle Angelegenheit ist, hat sie sich immer auch räumlich-organisatorisch flexibel eingerichtet, meist in angemieteten Altbauten. Doch nun ist an der TU Braunschweig erstmals ein Neubau als ein solcher Lernort entstanden, eben jenes Studierendenhaus. Die Pläne sind aus einem Wettbewerb unter MitarbeiterInnen des Mittelbaus im Architekturfachbereich hervorgegangen. Unter zwei GewinnerInnen konnten sich die beiden jungen Berliner Architekten Gustav Düsing und Max Hacke durchsetzen. Vielleicht hat das Vorbild Fellows Pavilion der American Academie am Wannsee eine Rolle gespielt, an dem Düsing als Mitarbeiter im Büro Barkow Leibinger mitgewirkt hatte, vielleicht der gläserne Ausstellungspavillon, den von Gerkan in den Hof des Braunschweiger TU-Gebäudes gestellt hatte, vielleicht dachten die Architekten an Mies van der Rohe und Philip Johnson mit ihren berühmten Nurglashäusern.
Jedenfalls tritt das Studierendenhaus als zweigeschossiger, gläserner Pavillon vor Augen, eine leichte Stahlkonstruktion, umspielt von Terrassen und außenliegenden Treppenläufen, gänzlich ohne geschlossene Außenwände. 200 Arbeitsplätze stehen auf zwei Ebenen zu Verfügung. Die Tische und Sitzgelegenheiten können nach Bedarf arrangiert werden. Die Studierenden suchen sich einen freien Platz, klappen ihren Laptop auf und los geht´s. Für Architekturstudierende gibt es auch Schließfächer um Modellbaumaterial zu verstauen. Gerade für sie ist das Haus ein Lehr- und Anschauungsobjekt erster Ordnung, demonstrativ nachhaltig, ressourcen- wie energiesparend und mit einem delikaten Konstruktionssystem, das die jungen Architekten gemeinsam mit den Tragwerksplanern des renommierten Ingenieurbüros Knippers Helbig entwickelten. Wie bei einem Baukasten mit identischen 10 x 10 Zentimeter-Quadrathohlprofilen sind die 121 Stützen und die Träger auf einem 3 x 3 Meter-Raster aufgebaut. Nur im Zentrum des Erdgeschosses gibt es einige von Wänden umschlossene Funktionsräume und Toiletten. Die Geschossdeckenfelder – Holzpaneele mit Brandschutzplatten und Schalldämmung – sind in das extrem feingliedrige Tragwerk nur eingehängt und mit wenigen Schraubverbindungen fixiert. Auch Diagonalverstrebungen gibt es nicht. Stattdessen leiten die ohnehin vorhandenen neun Treppenläufe die Windkräfte in den Boden.
Das filigrane Stahltragwerk ist rechnerisch zu 95 Prozent ausgelastet. Mehr Material sparen geht nicht. Das Haus ist nicht nur wegen seiner ressourcensparenden und kostengünstigen Montagebauweise vorbildlich. Gustav Düsing: "Mit dem Studierendenhaus wollen wir mit konstruktiven Mitteln einen Beitrag zum Diskurs des zirkulären Bauens liefern." Und so repräsentiert das Gebäude das zukunftsträchtige Cradle to Cradle-Prinzip, denn es ist vollkommen demontierbar und kann fast abfallfrei getrennt und recycelt werden. Max Hacke: "Wir haben uns die Frage gestellt: Kann man anstelle von Materialien ganze Bauteile wiederverwenden oder ein Gebäude. eines Tages an anderer Stelle in anderer Form wiederaufbauen? Daher haben wir ein modulares System entwickelt, das eine Vielzahl von Nachnutzungen ermöglicht."
Dass der Bau unter Bäumen am Okerufer ein ausnehmend schönes Haus geworden ist, wird niemand in Abrede stellen. Dabei ist die Schönheit nicht als solche geplant und baukünstlerisch gestaltet worden, sondern aus der Funktionserfüllung und dem optimalen ingenieurtechnischen Umgang mit dem Material erwachsen – ganz wie es die PionierInnen der Moderne, die Mies van der Rohe, Le Corbusier, Buckminster Fuller unter Anderen postuliert hatten. Und wie bei Mies gibt es nur wenige, auf das Einfachste reduzierte Details. Rahmen oder ein Sekundärgerüst für Fassaden und Scheiben konnten vermieden werden, denn das Stahltragwerk ist präzise genug, um die montierten (nicht geklebten) Scheiben aufzunehmen. Es gibt keine Rollos, keine Sonnenschutzinstallationen. Nur einige wenige gelbe Vorhänge sind bewusst gesetzte farbliche Akzente im "telegrau" gestrichenen Stahlkonstrukt. "Wir haben das Gebäude weitestgehend monochrom in einem leichten Grau gestaltet. Die Architektur soll sich zurücknehmen, sich als Infrastruktur verstehen", erläutert Gustav Düsing und Max Hacke ergänzt: "Die Vorhänge in einem satten Gelb sollen Farbakzente setzen und sich gleichzeitig als interaktives Element klar vom Rest der Struktur abheben." Stellwände und Teppichböden sind ebenfalls in Hellgrau gehalten, Tische sind weiß, die Sitzmöbel schwarz, die hölzernen Deckenuntersichten im Erdgeschoss in Buche natur – eine neutrale, fast vornehme Farbpalette bildet den Rahmen für das bunte Treiben, das die Studierenden ins Haus bringen.
Bleibt die Frage nach dem Raumempfinden im hellen, entgrenzten "fließenden Raum", der nahtlos ins grüne Umfeld überzugehen scheint. Die Studierenden stellen Arbeitstische zu Kleingruppen zusammen, bilden individuelle Inseln oder auch temporär größere Arbeitsgruppen. Zahlreiche Zugänge von außen, über die Außentreppen und die Galerien sorgen dafür, dass man nicht entlang eines Ganges an vielen anderen Tischen und Gruppen vorbeigehen muss, um zur eigenen Insel zu gelangen. Akustische Probleme macht der Allraum nicht. Teppichböden, dick gepolsterte Stellwände und schallabsorbierende Trapezblechdecken sorgen für einen gedämpften Geräuschpegel, aus dem keine Einzelstimmen hervordringen.
Düsing und Hacke lehren nebenan im Hochhaus der TU, in dem die Architekturlehrstühle untergebracht sind. "Das Studierendenhaus versteht sich als Gegenmodell zum Okerhochhaus. Wir sind der Meinung, dass Campusarchitektur das studentische Miteinander fördern sollte. Eine vertikale Schichtung von Instituten und Seminarräumen wie im Hochhaus begünstigt unserer Meinung nach das Prinzip der einseitigen Wissensvermittlung und hemmt interdisziplinären Wissensaustausch, nicht zuletzt auch, weil es zufällige Begegnungen verhindert“, berichtet Düsing über ihre Erfahrungen mit dem Gebäude. Im Studierendenhaus muss man nicht, aber man kann mit den Anderen Kontakt aufnehmen, sieht sich in der Arbeit vereint. "Es stellt einen Raum zur Verfügung, der auf unterschiedlichste Weise bespielt werden kann, nutzungsoffen ist und eine kommunikative, hierarchiefreie Atmosphäre erzeugt. Hier machen die Studierenden, was sie wollen", ergänzt Max Hacke. Das inzwischen von früh bis spät voll belegte Haus ist in mehrfacher Hinsicht ein Prototyp, der moderne Bauweisen demonstriert, ungewohnt offene Raumkonzepte vorführt und neue Lern- und Studiergewohnheiten evoziert – ein Haus mit Zukunft, ein Haus der Zukunft und ein Leuchtturmprojekt für die TU Braunschweig, das Schule machen wird.
Update 2024: Das Projekt wurde mit dem DAM Preis 2024 sowie dem European Union Prize for Contemporary Architecture – Mies van der Rohe Award ausgezeichnet.