Melancholische Euphorie
Die Bilder der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August 2020 und die Verwüstung, die sie in den angrenzenden Stadtvierteln anrichtete, haben wir noch vor Augen. Ein Gebäude überstand die Wucht der Detonation mit weitgehend glimpflichen Schäden, obwohl sich sein Standort in der Nähe der Katastrophe befindet – "Stone Garden". 13 Etagen ragt der Bau wie ein verwitterter gelblich-beiger Fels aus dem Häusermeer und wirkt als hätte er schon immer dort gestanden, obwohl die Fertigstellung erst 2019 erfolgte. Mit seiner Massivität, seiner Farbe und den tiefen Fensterlöchern erinnert er an das "gelbe Haus" im Stadtzentrum, ein Wohnhaus, das im Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 von Scharfschützen besetzt an der Frontlinie stand und nun der Stadt als Kulturzentrum Beit Beirut dient. Auch der "Stone Garden" ist ein in Stein gegossenes Stück pures Beirut, und das hat vor allem mit seiner Architektin zu tun. Lina Ghotmeh wurde 1980 hier geboren, nach dem Studium verließ sie 2003 den Libanon, arbeitete bei Norman Foster und Jean Nouvel. 2006 gewann sie den Wettbewerb für den Bau des estnischen Nationalmuseums und gründete mit zwei Partnern das Büro DGT Architects. Seit 2016 führt sie ihr Büro Lina Ghotmeh Architecture in Paris – schon immer einer der wichtigsten Orte für die global verteilte libanesische Gemeinschaft.
Die Wahrnehmung der Stadt ist seit ihren Kindertagen vom Bürgerkrieg geprägt. Ließ man den Blick über die Hausfassaden schweifen, sagt sie, verschwamm die Grenze zwischen einem Fenster und einem Loch, das eine Explosion in die Fassade gerissen hat. Die Schichten waren freigelegt, jeder Neubau fußte auf früheren Ruinen. Für den Bau von "Stone Garden" wählte sie so nicht Stahl und Glas, sondern entwarf ein Gebäude, das in seiner Form diese Tiefenschichten nach oben trägt. Mit von Hand gemeißelten horizontalen Rillen und Ritzen wirkt es wie eine geologische Probe aus dem Anthropozän. "Archäologie der Zukunft" nennt Ghotmeh ihre Herangehensweise ans Bauen. "Für mich ist Architektur ein Graben in der Vergangenheit, das in die Zukunft projiziert wird. Eine forschungsbasierte Methode, die mit dem Bild Beiruts in den frühen 90er Jahren zu tun hat. Eine Archäologie, die ihre Gedärme offenlegt, ihre ganze verschüttete Geschichte freilegt, von den Phöniziern über die Römer bis zur Explosion von 2020. In dieser Stadt muss man tief graben, bevor man in die Höhe baut. Stone Garden ist verwurzelt in dieser Erde, im Dialog mit Umgebung und Einwohnern. Im Herzen trägt das Gebäude die besondere melancholische Euphorie dieser Stadt", sagt sie. Das Bauen als reiner Selbstzweck ohne Bezug zum Ort interessiert Lina Ghotmeh nicht. Für sie ist Architektur eine Synthese von Bildhauerei und Archäologie, und das nicht nur in Beirut. "Jedes unserer Projekte beginnt mit einer Erforschung der Vergangenheit und des Orts. So wird Architektur zu etwas, das nicht einfach gebaut wird, sondern das entsteht", sagt sie. Kein Déjà-vu, sondern ein Déjà-là, das für den Betrachter gleichzeitig neu und faszinierend vertraut wirkt. Oder, um es in Lina Ghotmehs Worten zu sagen: "Eine stille Zeitlosigkeit".
Das Yang zu diesem steinernen Yin ist der Garten. Die Libanesen sind zu Recht stolz auf ihre Landschaft, die Hänge der Mittelmeerküste. Die Zeder prangt mitten auf der Flagge des Landes. Gleichzeitig expandiert die Stadt aggressiv in diese Natur hinein, Villen werden in geschützte Meeresbuchten gebaut. Lina Ghotmeh geht den entgegengesetzten Weg: Für sie ist die Natur, die sich in den 80er Jahren in den Ruinen breit gemacht hat, ein wesentlicher Teil der Stadt. Während ihres Studiums an der Beirut University war sie fasziniert vom üppigen Baumbestand in den Innenhöfen des Hochschulcampus. Beim "Stone Garden" setzte sie diese Inspiration um, indem sie Pflanzbeete in den Öffnungen und Vorsprüngen anlegte, wie zufällige Vegetation an einer Felsküste.
Im Inneren des Monolithen verbirgt sich eine Art dreidimensionales Puzzle, bedingt durch den schmalen, irregulären Grundriss des Grundstücks, der nach oben extrudiert wird. Über einem relativ kleinen Foyer im Erdgeschoss liegt im Mezzanin die Galerie des Besitzers mit Café. Die Apartments darüber sind um die tief eingeschnittenen Fenster und Loggien arrangiert, die für Licht, Schatten und Kühlung sorgen und an der Front Richtung Meer mit Pflanztrögen begrünt sind. Ein System aus kleinen, regelmäßigen Fensterformaten bildet das Grundmuster, in das wenige große Panoramaverglasungen und dramatisch-skulpturale Rücksprünge eingefügt werden. Durch dieses Spiel mit Regel und Ausnahme gleicht keine Wohnung der anderen – manche erstrecken sich ganz luxuriös über ein komplettes Geschoss. In den oberen Stockwerken kippt die Fassade teilweise schräg zurück, die eingeschnittenen Loggien werden zu Terrassen, bis sich der Grundriss auf zwei felsige Türme reduziert. Hier sind die Wohnungen als Maisonetten mit großen Lufträumen ausgebildet.
Sommer 2021, ein Jahr nach der Explosion. Die politischen und juristischen Folgen der Katastrophe sind noch lange nicht aufgearbeitet. Doch Beirut baut sich langsam wieder auf, so wie es das schon zahllose Male in seiner Geschichte getan hat. Ist auch der "Stone Garden" eine Art von Heilung? "Der ganze Prozess war schon eine Art Heilung," sagt Lina Ghotmeh, insbesondere durch die enge Zusammenarbeit aller Beteiligten. "Die Handwerker, die die Haut des Gebäudes von Hand meißelten, entwickelten einen eigenen Kamm als Werkzeug. Die Passanten berührten den Stein. Wir alle spürten eine starke emotionale Bindung zu diesem Gebäude. Es ist wie eine Erweiterung unserer Körper. Ich glaube, der Raum an sich ist nicht nur einfach Raum, er ist ein Teil von uns. Durch die Explosion 2020 nahm dies eine dramatische Dimension an. Was passiert mit uns, wenn der Raum, in dem wir uns befinden, zusammenbricht? Auch wenn wir körperlich unversehrt sind, spüren wir diese Verletzung intensiv und sind von ihr gezeichnet", sagt sie.