Wissen was fehlt
Stephan Hürlemann ist gerade umgezogen. Statt in klassischen Büroräumen hat sein Studio nun in einem neuen Gewerbehaus seinen Standort, inklusive Panoramablick über Zürich. Das Gebäude mit modularem Raumkonzept im Stadtteil Albisrieden haben SLIK Architekten als Mischnutzung entworfen, eine Form die Hürlemann als sehr zeitgemäß empfindet. Das klassische Großraumbüro ist für ihn ein Auslaufmodell. "Das digitale Zeitalter verlangt nach neuen Konzepten für das Arbeiten", sagt er. Den industriellen Charme der rohen Betonflächen kontrastiert er auf 300 Quadratmetern mit bodenlangen Akustikvorhängen, hellem Holz und flexiblen Trennwänden: Den "Dancing Walls". Mit einem Metallrahmen auf Rädern lassen sich die mobilen Wände als Möbel einfach im Raum bewegen und sind gleichzeitig stabil. Ob als Raumtrenner mit abnehmbaren White- und Pinboards, als Regal, Bildschirmwagen, Garderobe oder Pflanzwagen – bei Bedarf kann jedes Modul in ein anderes umgebaut werden. Durch Rollen, Ziehen, Drehen und Schieben wird das Büroterrain schnell strukturiert: "In Pop-up-Manier lässt sich mit den "Dancing Walls" jeder Raum bauen, der gerade benötigt wird", sagt Hürlemann. Mit wenigen Handgriffen sind neue Arbeitssituationen geschaffen: Ein Meeting Corner wird zur Arbeitskoje, ein Präsentationsforum zum Rückzugsort, eine Lounge zum rundum geschlossenen Brainstorming-Raum. Die agile Arbeitsumgebung entwickelte Hürlemann im Rahmen der Gestaltung des neuen Experience Center von PwC Schweiz, sie ist Teil seines neuen Raumkonzepts "Dancing Office". Vitra nahm sich der Realisierung der Dancing Walls an und entwickelte sie zusammen mit Stephan Hürlemann zu einem serienreifen Produkt. In den nächsten Jahren will Stephan Hürlemann "Dancing Office" weiterentwickeln und intensiv an der Zukunft der Arbeit forschen. Die eigene Nutzung des Konzepts in seinem Studio ist daher für die Optimierung ideal.
Schnittstelle Architektur
Die Denkweise von Stephan Hürlemann ist die eines Architekten: "Alles ist Architektur. Mich interessiert in erster Linie, in welcher Beziehung die einzelnen Bausteine zueinanderstehen. Erst nachdem die Struktur schlüssig ist und jedes Detail aufgeht, widme ich mich der formalen Erscheinung", sagt er. Der studierte ETH-Architekt setzt auf klare Strukturen. Sei es für die Totalsanierung des UBS-Hauptsitzes in Zürich, in Zusammenarbeit mit EM2N Architekten oder beim Sofa DS-21 aus dem Jahr 2016 für De Sede, eine Sitzlandschaft mit Bodenfreiheit. Ein modularer Metallrahmen umfasst die einzelnen Polsterelemente und trägt sie scheinbar mühelos. Mit rustikalen Doppelkappnähten wirken sie der Strenge des Rahmens entgegen. Die Polsterkuben sind austauschbar, sodass sich Form und Aussehen des Möbels flexibel verändern lassen. "Ich habe nach der Poesie der Klarheit gesucht", sagt er. Und fügt hinzu: "Der Entwurf sollte stringent, aber auch beseelt sein". Auf eine solche "Beseelung" setzt Hürlemann auch in seinen Installationen: "Sie ermöglichen eine emotionale Begegnung mit der Marke des Auftraggebers. Ziel ist ein positives Erlebnis, das in Erinnerung bleibt", sagt Hürlemann. Für Horgenglarus entwickelte er die Arbeit "Riesen mit Zwerg". Die bis zu drei Meter hohen Figuren hat er aus Tisch- und Stuhlteilen kreiert, die aus dem über 100 Jahre alten Bauteilarchiv der Glarner Manufaktur stammen – darunter auch Elemente von Klassikern wie dem Stuhl "select" aus dem Jahr 1934 oder dem "ga Stuhl" von 1955. Durch die Befestigung der insgesamt sieben Figuren mit Seilen an der Decke sind diese ständig in leichter Bewegung. Mit Seilzügen konnten die Besucher einzelne Körperteile bewegen und sie so zum Leben erwecken. Erstmals am Designers’ Saturday 2016 präsentiert, wurde die Installation auch im Rahmen der Mailänder Möbelmesse gezeigt und dort mit dem Milano Design Award 2018 in der Kategorie Unicorn ausgezeichnet.
Ebenso aufsehenerregend war 2019 auf dem Salone del Mobile eine weitere Inszenierung Hürlemanns: In den Gewölbebögen der Ventura Centrale unterhalb des Mailänder Hauptbahnhofs zeigte Sky-Frame, Hersteller rahmenloser Schiebefenster, die Arbeit "A Piece of Sky". Hürlemanns Idee war es, "ein Stück Himmel auf die Erde zu bringen und in den Kontext von Mailand zu stellen". "Die Inszenierung soll den Besucher für ein paar Momente den Alltag vergessen lassen", erzählt er. Betrat man so den dunklen, geschlossenen Raum, war entfernt ein rauschender Klang zu hören, der lauter wurde, je mehr man sich einem leuchtenden Hexagon näherte. Das Geräusch war der Klang der Erde – einst aufgenommen durch die NASA, die hierfür die durch die Erdrotation erzeugten, elektromagnetischen Schwingungen in für das menschliche Ohr hörbare Frequenzen übersetzt hat. Den Höhepunkt der Installation bildete ein sechseckiger Spiegeltrichter, der eine gigantische Kugelsphäre kreierte. Diese leuchtete in hellen Himmelsfarben, welche die Besucher durch das Bedienen einer im Boden integrierten Steuerung verändern können. "Die Leute standen Schlange, nur um ein paar Sekunden in der Installation zu stehen", erzählt Hürlemann begeistert.
Flexibel bleiben und über den Tellerrand hinaussehen, das sind zwei Punkte, die die Arbeit von Stephan Hürlemann prägen. Man darf gespannt sein, für welche Fragestellung er als nächstes eine Antwort entwickelt. "Ich bin auf der Suche nach gültigen Werten. In dieser Zeit, in der nichts sicher scheint, sehne ich mich mehr denn je nach Dingen, die bleiben. Diese zu kreieren ist es, was mich antreibt", resümiert er.