NACHHALTIGKEIT
Lernen von der Natur
Alexander Russ: Ich würde unser Gespräch gerne mit dem Bosco Verticale in Mailand beginnen, der bereits vor einigen Jahren finalisiert wurde und eine Art Prototyp des vertikalen Waldes darstellt. Wie bewerten Sie das Ergebnis rückblickend? Ist der Bau gelungen?
Stefano Boeri: Der Bosco Verticale in Mailand wurde im Oktober 2014 fertiggestellt. Die Pflanzen, die wir aus einer Baumschule bei Mailand bezogen haben, sind aber schon 2012 auf der Baustelle eingesetzt worden. Seitdem beobachten wir nicht nur, wie sich die verschiedenen Pflanzen in ihrer neuen Umgebung verhalten, sondern in der Folge auch, wie die BewohnerInnen mit ihnen interagieren. Das Gebäude ist ja, wie Sie schon sagten, ein Prototyp für ein Zusammenleben zwischen Mensch und Natur. Deshalb wird er nicht nur von uns, sondern auch von anderen ArchitektInnen und StadtplanerInnen sowie von PolitikerInnen beobachtet und bewertet. Und wie bei jedem Experiment gilt, das etwas schief gehen kann. Gleichzeitig bietet sich die Chance, aus diesen Fehlern zu lernen. Insgesamt würde ich sagen, dass es ein sehr gelungenes Projekt ist.
Was genau hat nicht funktioniert?
Stefano Boeri: Im Vorfeld hatten wir vor allem die Sorge, ob die Bepflanzung des Gebäudes gelingt und ob die verwendeten Bäume in einer Höhe von 100 Metern überleben können. Dafür haben wir zum Beispiel untersucht, wie sie sich bei einer starken Windbelastung verhalten und das Ganze in einem Windlabor in Miami getestet. Einige der Bäume, die dann für die Fassade schließlich zum Einsatz kamen, mussten wir später austauschen – aber das waren circa zehn von etwa 800. Seitdem funktioniert die Bepflanzung ausgezeichnet. Auch die BewohnerInnen wissen das Zusammenleben mit der Natur sehr zu schätzen. Das sieht man unter anderem daran, dass sich der Immobilienwert des Gebäudes seit seiner Fertigstellung verdoppelt hat. Aber natürlich mussten wir sehr viel Zeit und Energie in die Vorbereitung und Planung des Projekts investieren. So etwas wie der Bosco Verticale war ja noch nie umgesetzt worden, weshalb wir die Realisierbarkeit zusammen mit den IngenieurInnen von Arup genau überprüfen mussten.
Wie funktioniert die Pflege der Pflanzen?
Stefano Boeri: Auf dem Dach des Gebäudes gibt es zwei Krananlagen und ursprünglich war geplant, die GärtnerInnen mit Hilfe der Kräne entlang der Fassade zu befördern, damit sie zum Beispiel die Bäume beschneiden können. Allerdings hat sich das als sehr aufwendig und kostspielig herausgestellt. Deshalb wird diese Arbeit mittlerweile von ProfikletterInnen erledigt, die ebenfalls GärtnerInnen sind. Das kostet nur die Hälfte und ist wesentlich flexibler. Die Pflege funktioniert auch besser, weil diese näher an die Pflanzen herankommen. Bei unseren anderen Projekten wird das mittlerweile auch so gemacht.
Wie haben sich die Erfahrungen aus dem Bosco Verticale auf Ihre weiteren Projekte ausgewirkt?
Stefano Boeri: Das kann man sehr gut in unserem Buch "Green Obsession: Trees Towards Cities, Humans Towards Forests" nachlesen, wo wir unter anderem unsere Strategien für die Projekte aufzeigen. Dabei fangen wir grundsätzlich immer mit einer Untersuchung der klimatischen Bedingungen an und überprüfen, welchen Rahmen uns der Kontext setzt. Das sind zum Beispiel der Sonnenverlauf, die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit, die Bewässerung, die Windbelastung oder die Resilienz der Pflanzen gegenüber Feinstaub und Smog. Zudem analysieren wir, wie sich diese Rahmenbedingungen mit zunehmender Höhe verändern. Und dann schauen wir, wie die Pflanzen darauf reagieren und treffen für die Fassade eine entsprechende Auswahl. Dabei ist es wirklich sehr wichtig, eine individuelle Auswahl für jeden Teil der Fassade zu treffen. Beim Bosco Verticale haben wir in den unteren Geschossen zum Beispiel Bäume verwendet, die im Winter ihre Blätter verlieren, weil der Sonnenstand dann sehr niedrig ist. Dadurch konnten wir verhindern, dass die Wohnungen zu sehr verschattet werden. Mittlerweile haben wir also einige Erfahrung gesammelt und wissen ziemlich genau, wie sich die Pflanzen in einem spezifischen Kontext verhalten.
Wie genau beeinflusst dieses Wissen den architektonischen Entwurf?
Stefano Boeri: Es gibt die Formfindung des Gebäudes vor. Manche Pflanzen wachsen horizontal, während andere in die Höhe wachsen. Und wenn eine bestimmte Pflanze eine Höhe von zehn Metern benötigt, dann ordnen wir die Balkone in der Fassade dementsprechend an. Die Natur gibt also vor, welche Architektur wir entwerfen. Deshalb ist auch jedes Projekt anders, weil auch jeder Ort anders ist und andere Vorgaben für die Bepflanzung macht. Und das ist die Wichtigste bei jedem Projekt: dass die Pflanzen ein optimales Umfeld haben.
Was waren die Vorgaben für den Easyhome Huanggang Vertical Forest, der dieses Jahr in der chinesischen Stadt Huanggang von Ihrem Büro fertiggestellt wurde?
Stefano Boeri: Die Bauherren wollten einen Gebäudekomplex errichten, der aus Bürogebäuden und zwei Wohntürmen besteht, die wir geplant haben. Das Ganze ist eine räumliche Struktur, die sich aus Balkonen und Loggias zusammensetzt. Beim Bosco Verticale gibt es dagegen nur Balkone, weil auch der klimatische Kontext ein anderer ist. Momentan arbeiten wir an einem Projekt in Lausanne, wo bestimmte Loggien geplant sind, die auf ihrer Oberseite als Balkone genutzt werden können – und dieses Prinzip findet sich auch beim Easyhome Huanggang Vertical Forest. Das Konzept ist also einem ständigen Anpassungsprozess unterworfen. Das Gebäude in China unterscheidet sich aber nicht nur durch seinen Kontext, sondern auch dadurch, dass es kostengünstiger als der Bosco Verticale war.
Gilt das auch für ein weiteres Projekt Ihres Büros, den Trudo Vertical Forest in Eindhoven, der eine Mischung aus Sozialwohnungen und Eigentumswohnungen vorsieht?
Stefano Boeri: Ja, und wir sind mittlerweile aufgrund unserer Erfahrungen in der Lage, die Baukosten stark zu senken – zum Beispiel indem wir zunehmend mit Vorfertigung planen. Das haben wir zwar schon in China gemacht, aber in Eindhoven haben wir das Ganze nochmal verbessert. Für ein Projekt in Utrecht arbeiten wir gerade mit dem Tunnel-System, das in Frankreich in den 1980er-Jahren entwickelt wurde und dann in Vergessenheit geriet. Wir haben es für Utrecht wiederentdeckt, weil man damit die Baukosten stark senken kann. Beim Konzept für den vertikalen Wald arbeiten wir also auch sehr stark an der Kostenoptimierung. Aber natürlich unterscheiden sich die Projekte und deren Vorgaben auch voneinander. Ein Beispiel wäre die Größe der Wohnungen: Beim Trudo Vertical Forest in Eindhoven sind diese nur 50 Quadratmeter groß, wobei etwa 30 Stück als Sozialwohnungen genutzt werden. Zudem gibt es die Möglichkeit, zwei Wohnungen zu einer Maisonette-Wohnung zusammenzuschalten. Beim Bosco Verticale in Mailand handelte es sich dagegen um Eigentumswohnungen in unterschiedlichen Größen. Am Ende müssen alle Elemente und Parameter in Einklang gebracht werden, um so das optimale Ergebnis zu erzielen – und dieser Optimierungsprozess wird mit jedem neuen Projekt aus Neue fortgesetzt.
BUCHTIPP:
Green Obsession: Trees Towards Cities, Humans Towards Forests
Stefano Boeri Architetti
Softcover, ca. 284 Seiten, Sprache: Englisch
Actar, 2021
ISBN: Englisch 9781948765589
50,00 Euro
AUSSTELLUNGSTIPP:
Stefano Boeri hat mit dem "Hanji House" einen temporären Pavillon für die Kunstbiennale 2022 in Venedig entworfen. Das Bauwerk ist Teil der Ausstellung "Times Reimagined" des koreanischen Künstlers Chun Kwang Yeung im Palazzo Contarini Polignac. Im Innern des "Hanji House" setzt sich eine Installation des Mediakünstlers Calvin J. Lee mit Chuns Werk auseinander. "Times Reimagined" kann bis zum 27. November 2022 besichtigt werden.
Palazzo Contarini Polignac
Dorsoduro 874
Venedig
www.timesreimagined.com