„Das ist das Ende des Deutschen Werkbundes!“, entfuhr es einem Landesvorsitzenden, als Mitte der 1990er Jahre Regine Halter, damals Leiterin des Dachverbandes, einen Schreibtisch Stefan Wewerkas als Zentrum ihres Arbeitsraumes wählte. Und tatsächlich ließ der Tisch es an so manchem fehlen, dass als Kennzeichen der „Guten Form“ galt. Er war asymmetrisch wie der Nierentisch, Inbegriff modernistischen Kitsches, er war Solitär und nicht in Systeme eingebunden, zudem war nicht sofort zu erkennen, wie der Stauraumbereich des Tischs zu öffnen ist. Vor allem aber stammte er von einem Gestalter, der zwar Architektur studiert hatte, der sich aber auch als Maler, Grafiker und Bildhauer betätigte, der gleichermaßen zweckvolle wie modische Kleidung und Möbel entwarf, und der in der Lehre an der damaligen Werkkunstschule Köln die Studenten auf die Bedeutung des Kochens für den Umgang mit Zeit, Material, Werkzeug und Verfahren hinwies. Der Tisch stammte von Stefan Wewerka, der am 27. Oktober 1928 in Magdeburg geboren wurde und nun am 14. September 2013 in Berlin gestorben ist.
Wer sich auf so vielen Feldern betätigte, musste in den Augen der schabloniert Denkenden ein Amateur sein, und das war Stefan Wewerka tatsächlich im Wortsinn: ein Liebhaber des Geformten in allen seinen Ausprägungen. Deshalb gelangen ihm auch Gegenstände, die wohl DIN-kompatibel gestaltet waren, aber nicht tradierten Geschmacksnormen entsprachen, die begeisterten, also inspirierten, wie eben dieser Tisch, der keine hierarchisch hervorgehobenen Schmalseiten am Rechteck aufwies und auch keine vorgebliche, in Wirklichkeit lediglich formale Gleichheit der Beteiligten am Kreisrund postulierte, sondern auf spannungsvolle Kommunikation setzte, unterschiedliche Positionen und Bedeutungen berücksichtigte, aber nicht festschrieb.
Solche Offenheit am Objekt war kennzeichnend für Wewerka. Aufgewachsen in einem Künstlerhaushalt wurde er früh von der organischen Architektur etwa Hans Scharouns geprägt und fand ab 1946 Aufmerksamkeit mit dem zusammen mit Studienkollegen errichteten Studentendorf Eichkamp in Berlin. Hier, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, setzte Wewerka auf einfache Materialien, die unkonventionell verarbeitet wurden, das Improvisierende und die Bricolage nahmen Einfluss auf das Werk. Diese Arbeit führte zur CIAM, der legendären, von Le Corbusier und Sigfried Giedion begründeten Vereinigung moderner Architekten, wo Wewerka zu den Initiatoren einer Gruppe jüngerer Architekten gehörte, die der Erstarrung moderner Architektur entgegenwirkten, dem „Team Ten“ mit Aldo van Eyck, Alison und Peter Smithson und anderen. Als Gastprofessor in St. Louis erlebte er das Scheitern einer menschliche Bedürfnisse ignorierenden formalen Moderne als Augenzeuge: den Abriss der preisgekrönten „Pruitt Igoe“-Siedlung, deren Untergang auch den Aufstieg der Postmoderne in den USA beförderte.
Doch postmodern im Sinne der Dekoration, der Behübschung war Wewerka nicht. Er provozierte mit asymmetrisch verzerrten Architekturdenkmalwiedergaben und wies so auf ein Kulturverständnis hin, das Inhalte ignorierte und hohle Erhabenheit predigte. Über die Provokation kam er so auch zum Möbel. Ein gewöhnlicher Holzstuhl wurde in Schaumstoff nachgebaut, verlor so an Stabilität, gewann umgekehrt aber an Individualität. Resultat dieses und anderer Kunst-Übungen war in den 1980er Jahren die Arbeit für den Lauenförder Möbelhersteller Tecta. Der hatte sich, als Wewerka mit der Zusammenarbeit begann, unter Leitung von Axel Bruchhäuser jr. mit detailversessenen Interpretationen von Bauhaus-Klassikern einen Namen gemacht. Mit Wewerka begann nun die Ära der Asymmetrien: Ein kombiniertes Schrank-Regalmöbel, das auch als (Ablage-)Treppe genutzt werden konnte, angewinkelte Sofas, ein Stuhl, der den Bewegungsdrang des Sitzenden aufnahm und verschiedene Sitzpositionen ermöglichte, nicht zu vergessen der Documenta-geadelte Wewerka-Pavillon. Heinrich Klotz, Gründungsdirektor des Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt am Main, bemerkte seinerzeit über diese Zusammenarbeit, zu der auch Wendejacken, weitere Stühle, und der legendäre Küchenbaum, eine Leitungen und Nutzungen zusammenfassende Funktionseinheit im Sinne Buckminster Fullers gehörten, euphorisch, eine Firma wie Tecta sei das, was das Bauhaus benötig hätte. Abschluss der Arbeit Wewerkas für Tecta war der Einschwinger, ein Stahlrohrstuhl aus einem einzigen geboren Rohr, ergänzt mit Sitzfläche und Armauflage. Doch hörte Wewerka nicht einfach auf, nein, er stellte die Beziehung zwischen Tecta und den Architekten Alison und Peter Smithson her, und ohne Tecta wäre das Spätwerk der Smithsons vom Umbau des Hexenhauses in Bad Karlshafen mitsamt Katzenausguck bis hin zum Kragstuhlmuseum in Beverungen – einem Pilgerort für alle an der Geschichte des modernen Möbels Interessierten – nicht zu denken.
In den letzten Jahren erfuhr Stefan Wewerka große Anerkennung. Museen in Frankfurt am Main und Hamburg stellten sein Gesamtwerk aus, im Verlag seines Sohnes Alexander erschien eine Monografie samt DVD. Präsentiert wurden Architektur, freie Kunst, Gestaltungen für den Körper, der Raum und die Fläche. Einige solcher Universalisten kennt die Designgeschichte: Le Corbusier, Richard Buckminster Fuller, Max Bill oder Charles Eames. Vielleicht ist Stefan Wewerka der letzte in dieser Reihe.
Jörg Stürzebecher
24.09.2013