Macht überall eine gute Figur
Ein Hocker – sonst nichts? Der „Add Stool“, den Steffen Kehrle für Stattmann Neue Moebel entwickelt hat, ist erst seit kurzem auf dem Markt. Nun steht er mitten im Münchner Büro des Designers, wo wir ihn und Nicola Stattmann treffen. Die beiden kennen sich seit vielen Jahren. Kehrle hat für das noch immer junge Label unter anderem eine Serie kleiner „Wall Shelfs“ und das Regal „Plug Shelf“ entworfen, eine kluge, handwerklich perfekt umgesetzte Konstruktion nur aus Regalböden und Holmen, in denen ein diagonaler Holzdübel steckt, wodurch sich das Regal ohne Werkzeug, Schrauben oder Leim auf- und abbauen lässt.
Stattmann Neue Moebel wurde 2011 von den Geschwistern Nicola und Oliver Stattmann gegründet. Die Schreinerei im Münsterland als Basis des Unternehmens besteht bereits in der vierten Generation. Das Programm ist klar formuliert, die Kollektion konsequent auf kluges zeitgenössisches Design, innovative Konstruktionen, hochwertiges Handwerk, neue Materialien und Technologien, höchste ökologische Ansprüche und regionale Fertigung, Ehrlichkeit und Langlebigkeit der Produkte aufgebaut. Durch die Möblierung der Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron – Studio Besau-Marguerre und WRS Architekten haben den „Profile Chair“ und den „Profile Table“ aus massiver Esche von Sylvain Willenz ausgewählt – ist das Label jüngst über die Designszene hinaus bekannt geworden. Passend zum Farbkonzept in verschiedenen Weiß-Lasurgraden speziell für die Elbphilharmonie hergestellt, stehen die Stühle und Tische im Orchester-Café, den Garderoben für die Solisten und Dirigenten, in Besprechungsräumen und Büros sowie in den Probenräumen des Orchesters.
Steffen Kehrle erzählt, er habe schon während seines Studiums an der Universität für angewandte Kunst in Wien hauptsächlich Möbel gemacht, aber schon immer das Bedürfnis gehabt, möglichst abwechslungsreiche, interdisziplinäre Projekte zu übernehmen. Kehrle langweilt sich nicht gern, sucht stets neue Herausforderungen, was es nicht einfach macht, die richtigen Partner zu finden und manchmal dazu führt, dass Projekte über einen längeren Zeitraum laufen. Auch der Add Stool, sein jüngstes Projekt für Stattmann Neue Moebel, hat seine Zeit gebraucht: Am Ende waren es mehr als zwei Jahre. „Das liegt schlicht daran“, erklärt er, „dass der Anspruch sehr hoch ist, den wir an uns und unsere Arbeit stellen“. Das ist bei Nicola Stattmann nicht anders. Auch sie legt Wert auf bis ins letzte Detail durchdachte Möbel.
Es sollte ein Allrounder werden
Im Fall des Hockers nahm der Entwurfsprozess freilich einen eher unüblichen Verlauf: „Nicola“, berichtet Steffen Kehrle, „hatte zu mir gesagt, es solle ein Hocker werden, der auch gleichzeitig ein Beistelltisch sein und in der Wohnung herumwandern kann. Zuhause hatte sie einen Schemel, eine Art Bauernmöbel, das sie schon lange begleitet. Also hat sie gesagt: Lass dir in die Richtung mal was einfallen, aus Massivholz, klar, aber lass dich nicht zu sehr einschränken“. Nicola Stattmann fügt hinzu: „Ja, ich hatte zuhause diesen kleinen roten Hocker, den ich schon ewig habe und der neben dem Sessel steht, wenn ich eine Tasse Tee abstellen möchte, und neben dem Bett, wenn Medikamente Platz brauchen. Also habe ich gesagt: Genau so ein Ding möchte ich für Stattmann Neue Moebel, einen Allrounder!“
Und genau auf dieses spezielle Möbel als Vorbild hat sich Steffen Kehrle zunächst konzentriert. Herausgekommen ist offenbar ein sehr skulpturaler Entwurf, ein kleines Kunstwerk in zwei Varianten. Als die beiden dann die ersten Modelle begutachtet haben, stellten sie fest, dass die Richtung nicht stimmt: „Ja“, sagt Nicola Stattmann, „wir haben gleichzeitig „fail“ gesagt. Mir wurde klar: Das ist es nicht. Und das ging Steffen gleichzeitig genauso“. Was Kehrle bestätigt: „Das kann passieren, auch mitten in einem Projekt: Okay, wir haben uns missverstanden, also beginnen wir komplett neu. Ein gutes Projekt durchzuführen, eines, das in meinen Augen und in denen der Firma funktioniert, ist immer komplex, da darf auch mal was daneben gehen.“
Ein Hocker muss stapelbar sein
An einem hat Nicola Stattmann nie einen Zweifel gelassen: „Es musste ein Stapelhocker sein. Ob in Restaurants, in Cafés, in der Küche – Hocker müssen aus meiner Sicht stapelbar sein. Wir arbeiten nicht für das Super-Luxus-Segment, das gilt auch für den Preis. Wir brauchen also auch Stückzahlen – und da spielt die Stapelbarkeit eine wichtige Rolle. Zudem müssen Möbel für uns rationell zu fertigen sein, möglichst wenige Bauteile haben.“
Der Umweg hat sich gelohnt. Ohne mit dem ersten Entwurf in die Irre zu gehen, wäre der Add Stool nicht als der entstanden, der er nun geworden ist. Darin, wie die beiden mit dem Missverständnis umgegangen sind, steckt viel von ihrem Design-Verständnis: Nur wer in der Lage ist, aus einem Irrtum die richtigen Schlüsse zu ziehen, wird am Ende eine überzeugende Lösung finden. Nicola Stattmann, die ja selbst Produktdesignerin ist, macht deutlich, wie der Prozess aus ihrer Sicht abläuft: „Ich weiß, wie ein Möbel nicht aussehen soll, aber ich weiß nicht, wie es aussehen soll. Ich weiß, was ein Produkt können muss, ob ein Entwurf zu unserer Art der Produktion passt. Mein Schwerpunkt war nie der Entwurf, sondern Strategie, Produktion, Material, Technologie.“ Da wir, fährt sie fort, „gemerkt haben, was wir nicht brauchen, konnten wir sagen: Wir brauchen einen richtigen Hocker, ein Universalmöbel, das mehr als nur eine Funktion hat, nicht nur darauf sitzen. Wir haben bei Stattmann Neue Moebel von Anfang an gesagt, unsere Möbel müssen so sein, dass sie überall funktionieren: Die Bänke können im Flur, im Kinderzimmer, im Restaurant und im Bad stehen, und in der Küche sowieso. Auch die Stühle müssen überall funktionieren, und das gilt auch für die Regale. Wir brauchen Möbel, die alltagstauglich sind“. Steffen Kehrle fügt hinzu: „Das ist ja das Spannende an unserm Job, zu beobachten und zu überlegen, wie sich die Arbeitswelt verändert, wie sich das Wohnen oder die Küchenwelt verändert. Alles ist im Fluss und deshalb muss man als Entwerfer immer wieder fragen: Was könnte es für Produkte geben, die bei all dem Wandel eine echte Rolle spielen könnten. Modisch an Produkte heranzugehen, was durchaus legitim ist, würde zu Stattmann nicht passen.“ Nicola Stattmann formuliert das so: „Ich habe den Anspruch, dass die Möbel, die wir machen, bleiben. Ich möchte nur Dinge in der Kollektion, von denen ich mir vorstellen kann, dass sie auch noch in zehn Jahren okay sind. Dabei spielt die Mobilität der Möbel eine wichtige Rolle.“
Das klingt so überzeugend, dass man sich fragt, weshalb nur wenige Möbel so dicht, universell und zweckmäßig sind. Liegt es an der Industrie, am Design? „Natürlich“, sagt Steffen Kehrle, „gibt es Produkte, die diesen Ansprüchen genügen“ – und kommt auf die Arbeit am Add Stool zu sprechen: „Wenn ich mir anschaue, welche Hocker es auf dem Markt gibt, dann finde ich durchaus gelungene Beispiele – nicht nur den berühmten ,Stool 60’ von Alvar Aalto. Gute Hocker gibt es auch von Max Bill, von den Eames, von Jasper Morrison oder von Ilmari Tapiovaara, nicht zu vergessen den Traktorsitz der Gebrüder Castiglioni.“ Lachend fügt er hinzu: „Es ist ja nicht so, dass wir überhaupt den ersten tollen Hocker gemacht hätten, das zu glauben, wäre vermessen.“
Originell und eigenständig
Sein Add Stool schafft es trotzdem, aus der Ahnenreihe auszuscheren. Originell und eigenständig ist er nicht etwa nur deshalb, weil das Eschenholz aus kontrolliert nachhaltiger Forstwirtschaft stammt und jedes Stück Holz unterschiedliche Maserungen und leichte Farbunterschiede aufweist, was jeden Hocker allein schon zu einem Unikat macht. Auch dass die Oberfläche mit wasserlöslichen Pigmenten gebeizt und mit Hartwachs versiegelt wird, was ihr eine seidige Haptik verleiht, gehört bei Stattmann einfach dazu. Das Besondere am Add Stool verbirgt sich in seiner Konstruktion. Drei identische Formholzteile bilden den Rahmen, an den drei identische Beine mit gleichbleibendem Querschnitt angesetzt werden. „Wenn der Hocker stapelbar sein soll, müssen die Füße ausgestellt werden“, erklärt Nicola Stattmann, „also mussten wir eine Konstruktion entwickeln, mit der wir diese geometrische Herausforderung auf einfache Weise lösen. Üblich ist es die Beine zu biegen, formzuverleimen oder aufwendig 3D zu fräsen – das alles wollten wir nicht, weil Verschnitt, Werkzeugkosten, Produktionszeit zu hoch gewesen wären. Die Lösung ist: aus dem Rahmen die notwendigen Auskragungen herauszuarbeiten, an denen die geraden Beine ansetzen. In der Fertigung bedeutet das: Die Biegeholzsegmente sind zunächst dicker; die Auslagerung wird dann aus dem Vollholz herausgefräst. Alle Teile sind skaliert, wodurch wir den Hocker auch in größeren Stückzahlen und auf Anfrage auch mit einer gepolsterten Sitzfläche herstellen können.“
Die runde Rahmenkonstruktion besteht aber nicht nur aus drei Biegeholzsegmenten, sie wirkt optisch auch erstaunlich leicht und besticht durch prägnante Details. So läuft etwa die Linie, die den kreisrunden Sitz umschreibt, an den trapezförmigen Beinen nach unten und wieder nach oben, umschließt also gleichsam den gesamten Hocker, wodurch die ausgestellten Beine organisch in die Gesamtform einbezogen werden. „Das meine ich mit Schönheit“, erklärt Steffen Kehrle, „der Hocker zeugt nicht nur von einer hohen handwerklich-technischen Kompetenz in der Verarbeitung von Massivholz, er offenbart auch eine formale Kompetenz. Schön ist ein Wort, hinter dem wir uns gern verstecken. Wichtiger ist: Das Projekt muss funktional sein, neu, top, eine gute Technologie haben – und was es sonst noch für Parameter gibt. Trotzdem ist es für ein Produkt super wichtig, dass es die Kunden schön finden. Ausgewogene Proportionen, schöne Details, alle anderen Kriterien fließen hier ein, auch wenn am Ende keiner genau weiß, was das ist: Schönheit. Nun wird man sehen, ob der Hocker es schafft, zu einem ,universal piece’ zu werden und sich im Gedächtnis, auch von Architekten und Innenarchitekten, festzusetzen.“
Eines lässt sich schon jetzt sagen: Der Add Stool wirkt durchdacht und originell, fügt sich aber trotzdem in ganz verschiedene Interieurs ein. Er tritt eigenständig auf und bleibt doch zurückhaltend genug, um – unterstützt von der angebotenen Farbpalette – nicht nur funktional universell eingesetzt werden zu können. All das spricht dafür, dass dieser Hocker tatsächlich der erste zeitgenössische Entwurf ist, der es mit dem Klassiker von Aalto von 1933 aufnehmen kann. Ein Hocker – sonst nichts? Auf jeden Fall ein treuer Begleiter. „Man kauft sich den Hocker“, sagt Nicola Stattmann, „und dann begleitet er einen ein Leben lang. Das entspricht unserem Verständnis von Handwerk und Design“.