Mitternacht. Geisterstunde. Seelen wandern umher, mahnen und erinnern uns. Hier fehlt ein Bein, dort platzt der Lack ab, vorne fehlen Griffe, seitlich klafft im Kunststoff ein Loch. Waren sie nicht früher schön, erfreuten sie uns nicht mit ihrem Glanz und ihrer Präsenz? Dass sie nun nicht mehr strahlen - kosten diese Schönheitsfehler sie die Existenz? Die Rede ist nicht von Zombies aus dem unvergessenen „Thriller"-Musikvideo, sondern von Tischen, Stühlen, Sofas, Bettgestellen, Kommoden, Schränken, Regalen, Leuchtern und anderen Einrichtungsgegenständen. Alle haben sie eines gemeinsam: Sie fristen ihr Dasein auf Dachböden, in Kellern und in den hintersten Ecken, jeden Tag aufs Neue erfüllt von der Angst, das letzte Sperrmüllstündlein könnte ihnen schlagen oder der eBay-Hammer sie erwischen. Was passiert mit all dem Mobiliar, dem Lebenszubehör, das ausgedient hat? Wo spukt es herum?
Die „Stadtmission" in der Altstadt von Stockholm ist gut besucht. Es reihen sich Wäschetruhen, Porzellanpüppchen, Likörgläser, Handtaschen, Uhren, Kameras und vieles mehr aneinander. Doch statt des sonst so üblichen Kleiderkammer-Charmes versprüht die Stadtmission das in-feeling der hippen Szene. Hier gehen Vintage- Stücke für wenige Kronen - und vor allem für einen guten Zweck - über die Ladentheke. Wer Glück hat, erwischt einen Stuhl von Arne Jacobsen oder eine Leuchte von Louis Poulsen und kann sich bei einem Stück Kuchen und einem Milchkaffee im hauseigenen Café über sein Schnäppchen freuen. Gegründet wurde die Stadtmission am 21. Januar 1856; heute wird sie von Kirche, paritätischen Wohlfahrtsvereinen, Kommunen und Land gleichermaßen getragen. Insgesamt acht Secondhand-Shops sind über Stockholm verteilt und bieten existenzielles Gut für Bedürftige ebenso wie Ausgefallenes für Trendscouts. Dabei ist erstaunlich, wie gut beide Ziele sich vereinbaren lassen. Mit „Design Remake" wurde gar ein eigenes Label geschaffen, um Altes wieder neu zu inszenieren und zum Kaufen anzuregen. Basare und Auktionen haben in Schweden eine lange Tradition. Nicht nur in ländlichen Gebieten wird Hab und Gut zusammengetragen und versteigert. Dabei liegt das Entdeckerpotenzial für wahre Schätzchen noch so hoch wie auf deutschen Flohmärkten in den siebziger Jahren, und das bei beinahe identischem Preisniveau. Die Schweden wissen sehr wohl, welche Schätze sie da opfern. Hier gehören Klassiker des - vornehmlich skandinavischen - Designs auf selbstverständliche Art zum Leben - und zum Geben.
Ganz anders sieht es aus, wenn man altgedientes Mobiliar nicht loswerden, sondern behalten möchte. Dann wird aus dem netten Spuk oft ein Albtraum. Tatort Rheinland: Eine Schrankwand, Jahrgang 1973, damals stil- und designbewusst gekauft bei Flötotto. Mit diesem Möbelprogramm galt die Besitzerin damals als Vorreiterin und Teil der Avantgarde. Hätte man heute das Setting noch im kompletten Originalzustand, Filmproduktionsfirmen und Revival-Fans würden jubelnd Schlange stehen. Der Clou der Schrankwand ist das hochklappbare Bett, das aus einem Schlafzimmer mit Nachttischablage im Handumdrehen ein Wohnzimmer macht. Zwanzig Jahre lang ging der Plan auf. Dann blieb das Schlafzimmer auf immer ein Tagzimmer - das Bett ließ sich mit einem Mal nicht mehr einklappen. Schuld ist die Gasfeder auf der rechten Seite des Bettes, die, nach einem Umzug leicht verbogen, sich standhaft weigerte wieder einzufahren und mit einem Krachen zerbarst. Versuche, bei Flötotto Ersatz zu erhalten, schlugen fehl. Diverse Schreinereien, Möbelhäuser und selbst Firmen für Zulieferteile im Automobilbereich konnten nicht weiterhelfen. Fragende Gesichter mit Unverständnis, die „olle" Schrankwand behalten zu wollen, oder amüsiertes Schmunzeln ob des vermeintlich gestrigen Geschmacks gepaart mit einer gewissen Hochachtung vor der Beharrlichkeit - trotz aller Unkenrufe wird das B 2000 nicht dem Möbelfriedhof überstellt, sondern für seine und die Rechte seiner Besitzerin gekämpft. Es lebe der Designanspruch von damals, gerettet ins neue Jahrtausend!
Dass auch Material für die Zukunft eine geringe Halbwertszeit haben kann, beweist der Bubble Club Chair von Philippe Starck. Der knapp siebzehn Kilogramm schwere, aus durchgefärbtem Polyäthylen gefertigte Kunststoffsessel war 2001 mitsamt seinem Designer einer der Stars auf der Kölner Möbelmesse. Es wurde Hof gehalten im Einrichtungshaus Pesch, die anwesenden Journalisten schrieben eifrig mit und hielten bei der Frage, ob es nicht out und anmaßend sei, Menschen in Möbeln wie bei Alice im Wunderland aussehen zu lassen, die Luft an. Was folgte war ein polternder Lachanfall, dann ein verschmitztes Lächeln und eine blaue Kunststoffwolke mit der Signatur „for Alice". Nicht das Kunststoffungetüm, sondern die Geschichte dahinter bewahrte den Bubble Club bisher vor dem Schmelzofen. Er fand nie seinen Weg in den Garten und war nicht gemacht für die vielen, vielen Bücher, die sich im Laufe der Zeit auf ihm stapelten: Ein Riss an der Sitznaht macht ihn seit fünf Jahren faktisch unbrauchbar. Der Gedanke an die Verladerampen der Müllverbrennungsanlage, an das Knirschen der Presse und die zermalmenden Räder sichern ihm mit schlechtem Gewissen, Nervfaktor und Wehmut einen Mausoleumsplatz, bis die Erinnerung an seine Daseinsberechtigung verblasst.
Ob Verkaufen, Tauschen, Spenden, Wegkippen, Abstellen, Ignorieren oder Ansammeln - wollte man die modernste Form als Essenz all dieser Möglichkeiten wählen, müsste auf Facebook eine digitale Möbelfriedhofgruppe einberufen werden, die sich mit den virtuellen Grabsteinen für die Zombies der Neuzeit auseinandersetzt. Frei nach Michael Jackson: „It's close to midnight and furniture are lurking in the dark / Under the moonlight, you see a chair that almost stops your heart / You try to scream but lamps take the light before you make it / You start to freeze as bookshelfs look you right between the eyes / You're paralyzed / 'Cause this is thriller, thriller night..."