Eine bedrohte Spezies
In den 1960er und 1970er Jahren kämpften engagierte Bürger, Studenten, Denkmalpfleger und auch Architekten mit viel Engagement für den Erhalt von Gebäuden, die während des Baubooms im zweiten Kaiserreich entstanden waren und die für Neubauprojekte Platz machen sollten. Diese historistischen Altbauten waren in den Augen ihrer Kritiker ineffizient, hässlich und Ausdruck einer generell falschen Gesinnung ihrer Architekten. In vielen Fällen wurden sie durch moderne Betongebäude ersetzt, die in den Augen ihrer Schöpfer all die Fehler ihrer Vorgänger vermieden.
Die Geschichte wiederholt sich: Heute sind es die Bauten des sogenannten "Brutalismus", die oftmals skulpturalen Betonbauten der 1960er und 1970er Jahre, die in vielen Fällen vom Abriss bedroht sind. Nicht selten vernachlässigt und weder dem heutigen Massengeschmack noch den aktuellen Nutzungsanforderungen entsprechend, werden sie – teils unter Applaus – von der Abrissbirne gefällt. Das Technische Rathaus und das Historische Museum in Frankfurt am Main sind vieldiskutierte Beispiele, in denen brutalistische Architektur durch scheinbar "passendere" Bauwerke ersetzt wurde.
Inzwischen hat sich Gegenwehr formiert: So hat die Internetplattform "#SOS Brutalism" eine Datenbank für brutalistische Architektur geschaffen, in der bereits mehr als 1000 Bauwerke weltweit verzeichnet sind. Ihnen kommt dabei zuhilfe, dass viele brutalistische Bauten höchst fotogen sind, ein Umstand, der sie für das Social Media-Zeitalter geradezu prädestiniert. Nicht ganz zufällig knüpfen aktuelle Architekturen wieder an die Formensprache der 1960er und 1970er an – man denke etwa an Christ & Gantenbeins Anbau an das Schweizer Landesmuseum Zürich oder die Erweiterung des Sprengelmuseums in Hannover durch Meili & Peter. Auch die wissenschaftliche und publizistische Beschäftigung mit diesem Zeitstil hat Fahrt aufgenommen. So sind erst jüngst mit "Finding Brutalism" und "Space Packed – The Architecture of Alfred Neumann" zwei Bücher erschienen, die mit eindrucksvollen Fotografien den Brutalismus in Großbritannien und Israel beleuchten (siehe unsere Bildergalerie).
Nun wird im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main die Ausstellung "SOS Brutalismus" eröffnet, mit der die Macher der Internetplattform ihre Bemühungen vom virtuellen in den realen Raum ausdehnen. Die Kuratoren um Oliver Elser geben einen Überblick über die Stilentwicklung des Brutalismus rund um die Welt. Dazu haben sie eigens ungewöhnlich große Modelle und auch – Tribut an das Baumaterial – Betongüsse anfertigen lassen, um die Eigenheiten und Qualitäten dieser Gruppe von Bauten aufzuzeigen. Es bleibt den Organisatoren zu wünschen, dass sie mit ihrer Schau auch ein Publikum jenseits von Architekten und ausgesprochenen Architekturliebhabern erreichen können, fremdeln breite Bevölkerungskreise doch nach wie vor mit den "Betonmonstern". Mut machen sollte ihnen aber der erfolgreiche Kampf ihrer Vorgänger.
Ausstellung:
SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!
Deutsches Architekturmuseum (DAM), Frankfurt am Main
9. November 2017 bis 2. April 2018
Eröffnung: 8. November 2017, 19 Uhr
Katalog:
SOS Brutalism – Eine internationale Bestandsaufnahme
hrsg. v. Oliver Elser, Philip Kurz und Peter Cachola Schmal
2. Bde., ca. 668 S., ca. 1200 Abb.
Ausgaben deutsch und englisch
Park Books, Zürich, 2017
ISBN 978-3-03860-074-9
im Museum 59,00, im Buchhandel 69,00 Euro
Weiterführende Literatur:
Simon Phipps - Finding Brutalism. Eine fotografische Bestandsaufnahme britischer Nachkriegsarchitektur.
hrsg. v. Hilar Stadler und Andreas Hertach
deutsch, geb., 258 S., 10 farbige, 192 Duplex- und 28 sw Abbildungen
Park Books, Zürich, 2017
ISBN 978-3-03860-064-0
38,00 Euro
Rafi Segal:
Space Packed - The Architecture of Alfred Neumann
englisch, geb., 376 S., 49 farbige und 373 sw Abbildungen
Park Books, Zürich, 2017
ISBN 978-3-03860-055-8
48,00 Euro