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Florian Idenburg und Jing Liu

Solide Ziele

SO-IL, eines der derzeit interessantesten Architekturbüros aus den USA, hat sich vorgenommen, den Geschosswohnungsbau in New York City zu revolutionieren. Das Büro zeichnet sich durch einen hohen Anspruch an Programmatik wie Material aus und formuliert eine komplexe Haltung zu dem, was Architektur leisten soll.
von Lorenz Brugger | 01.01.2025

Bauen beginnt oftmals im Kleinen. Viele ArchitektInnen weltweit starten ihre Karriere mit temporären, einfachen Strukturen, die dann in der Folge zu weiteren Aufträgen führen und aus einem Ein- bis Zwei-Personen Büro ein Unternehmen werden lassen. SO-IL, 2008 von Florian Idenburg und Jing Liu in New York gegründet, sind genau diesen Weg gegangen und gelten heute als ein einflussreiches Architekturbüro in den USA und darüber hinaus. Vor allem durch ihre Haltung zu einer Architektur, die als mehrschichtig verstanden wird und Tiefe beinhaltet, heben sich die beiden ArchitektInnen von anderen Büros ab und haben einige der interessantesten Bauten der letzten Jahre realisieren können.

Florian Idenburg schloss seine Ausbildung in seiner niederländischen Heimat an der TU Delft 2000 ab und arbeitete danach sieben Jahre für SANAA (Sejima And Nishizawa And Associates) in Tokyo. Während dieser Zeit konnte er unter anderen die Entstehung des Glass Pavillon für das Toledo Museum of Art in Ohio und das New Museum of Contemporary Art in New York federführend begleiten. Diese Erfahrungen beeinflussten seine Haltung zu Architektur erheblich und man spürt diese Prägung auch in den Projekten, die er später zusammen mit Jing Liu bearbeitet hat. Das Interesse für das richtige Raumprogramm, die Bedeutung von Offenheit, Fluidität, Klarheit und Komplexität in der Architektur sind in jedem ihrer Projekte spürbar. Jing Liu ihrerseits hat Wurzeln in China, das sie 1999 Richtung New Orleans verließ und an der dortigen Tulane University Architektur studierte. Sie arbeitete unter anderen bei dem renommierten Architekturbüro Kohn Pederson Fox und war auch für eine gewisse Zeit in Tokyo, wo sie Idenburg kennenlernte. 2008 konnten Liu und Idenburg ihr eigenes Büro gründen, das sie in der Wahlheimat Jing Lius verortet haben. Bereits 2004 zog sie nach New York, und ist heute parallel auch im akademischen Betrieb sehr engagiert: Sie ist Fakultätsmitglied an der Graduate School of Architecture, Planning and Preservation der Columbia University, lehrte an der Syracuse University, School of Architecture und ist aktives Vorstandsmitglied des Van Alen Institute.

Kukje Gallery—K3, Seoul, South Korea, 2012

SO-IL startete in einer der größten wirtschaftlichen Krisen der USA und sahen diese unsicheren Zeiten als Chance: "Die Arbeit in der Zeit nach der Finanzkrise 2008 hat die ersten Jahre unseres Büros beeinflusst. Sie hat uns gelehrt, Architektur mit Einfallsreichtum und Bescheidenheit anzugehen und Zwänge nicht als Einschränkungen, sondern als Chancen für Kreativität zu sehen. Wenn die Budgets knapp sind, muss man ein Projekt auf seine Essenz reduzieren. Es wäre zwar einfacher, in einem nachsichtigeren wirtschaftlichen Klima zu arbeiten, aber die Disziplin, die wir entwickelt haben, hat unserer Arbeit eine Klarheit und einen Fokus verliehen, der sonst vielleicht nicht entstanden wäre. Aber nach fast zwei Jahrzehnten in der Praxis wissen wir, dass wir bei jedem Projekt zu jedem Zeitpunkt den Wert maximieren und gleichzeitig die Mittel optimieren müssen. Die Diskussion sollte sich eigentlich darum drehen, was diese Werte sind. Was streben wir gemeinsam an? Es geht nicht um die Wirtschaft, sondern darum, wie wir uns entscheiden zu leben."

Der Fokus liegt somit auf einer Form der kulturellen Gestaltung auch und vor allem mit schwierigen Rahmenbedingungen. Das drückt der Büro Name aus, dessen Bedeutung dabei aber genauso schwer eingrenzbar ist wie der Begriff Kultur selbst. SO steht für "Solid Objectives" und beschreibt im Grunde die Ziele von Idenburg und Liu, die ihrerseits aber nicht nur gedacht und diskutiert, sondern ganz konkret umgesetzt werden sollen. "Solid" ist also nicht als Fest oder Solide zu übersetzen. Das Büro versteht darunter eher die Konkretisierung und Verfestigung ihrer eigenen Ideen und Konzepte.

Flockr, Get It Louder, Beijing, China, 2010

Schon die ersten Realisierungen spiegeln diese Dichotomie aus Bescheidenheit und dem Anspruch einer gesellschaftlichen Wirkung ihrer Gebäude wider. Der experimentelle Pavillon "Flockr" in Peking ist eine temporäre Struktur, die bereits untersucht, wie soziale Interaktionen und räumliche Dynamik zusammenspielen können. Sie legte den Grundstein für ihre experimentelle und materialinnovative Herangehensweise. Leicht, beweglich und auf Interaktion ausgelegt, zeigte sich auch die temporäre Installation "Pole Dance" für das MOMA PS1: Ein zusammenhängendes System aus beweglichen Stangen, die mit Netzen verbunden wurden und durch menschliche Aktivität wie durch das Wetter verändert werden kann.

Mit dem Bau der "Kukje Gallery – K3" 2012 in Seoul, Südkorea gelang Idenburg und Liu ein erster Durchbruch. Ein klassischer Kubus als Galerie wäre für den historischen Kontext wohl zu banal gewesen und so wurde die gesamte Erschließung nach außen transferiert und mit einem kunstvoll hergestellten Metallnetz eingehüllt. Es entstand eine mit der Umgebung interagierende Architektur, die es ermöglicht im Inneren den vollen Fokus auf die Kunst zu setzen. Diese Art der Hülle mit kleinteiligen Elementen findet sich in den aktuelleren Projekten von SO-IL immer wieder. Fassaden werden nie als großflächige, monotone Strukturen gedacht, sondern als eine Zusammensetzung kleiner Elemente, die dann aus der Ferne einheitlich wirken, aber immer differenzierter und detaillierter werden, je näher man dem Gebäude kommt. Es folgten weitere Projekte im Museumsbereich wie das Jan Shrem and Maria Manetti Shrem Museum of Art in den USA oder der Kunstcampus Amant in New York. Stets geht es um die Beziehung vom Menschen zum (öffentlichem) Raum.

450 Warren, Brooklyn, New York, USA, 2022

Wie ernst sie es meinen, zeigt auch ihre Haltung zum sogenannten "double loaded corridor", also ein Flur, der an seinen beiden langen Seiten jeweils räumliche Einheiten erschließt und somit selten bis nie mit Tageslicht versorgt wird. Diese hoch effiziente Art der Gebäudeorganisation ist ein gängiges Mittel im Hochbau. Doch SO-IL kritisiert ihn scharf und sagen: "Das Problem der meisten 'double loaded corridors' ist, dass sie auf ihre effizienteste und banalste Form reduziert sind – dunkel, eng und leblos. Es ist möglich, sie durch gutes Design zu sinnvollen Räumen umzugestalten. Warum aber nicht völlig neue Typologien erforschen, die mehr Durchlässigkeit und Verbindung bieten, sowohl innerhalb des Gebäudes als auch mit der Stadt insgesamt? Bei "450 Warren" (ein von SO-IL realisiertes Wohngebäude in Brooklyn, New York, Anm. d. Red.) zum Beispiel haben wir die Annahme eines zentralen Korridors völlig in Frage gestellt und ein Verkehrssystem geschaffen, das Luft und Grün zulässt und den Weg von der Straße zur Wohnung in eine lebendige Erfahrung der Freude und Verbindung verwandelt."

In der Tat ist das Projekt "450 Warren" ein Beispiel dafür, wie Wohnungen durch eine geschickte Anordnung von Baumassen und ausgeklügelte Erschließungsanlagen mit Balkonen, Wegen und Terrassen auf drei Seiten natürlich belichtet werden können. Die räumlichen Qualitäten der einzelnen Wohneinheiten sind dadurch erheblich gesteigert und es entstehen gleichzeitig zusätzliche Aufenthalts- und Kommunikationszonen, die als Raum für Aneignung durch die BewohnerInnen interpretiert werden können. Der Erschließungsflur wird zu einer multifunktionalen räumlichen Struktur, die das Gebäude einerseits gestalterisch prägt und andererseits einen positiven Effekt auf das Gemeinschaftsleben innerhalb des Hauses ausüben soll. Der Verkehrsraum wird zum öffentlichen Raum.

450 Warren, Brooklyn, New York, USA, 2022

Hier setzt auch der Titel des neuen Buches an, den Idenburg selbst so beschreibt: "'In Depth' spiegelt eine doppelte Ambition wider. Einerseits fasst er unser Interesse an räumlicher Tiefe zusammen – nicht nur als physische Dimension, sondern als Möglichkeit, vielschichtige und facettenreiche Erfahrungen zu schaffen. Andererseits verweist er auf die intellektuelle Tiefe, die wir in unserer Arbeit anstreben, indem wir die Architektur als eine Möglichkeit betrachten, größere gesellschaftliche Fragen über unser Zusammenleben zu untersuchen. Das Buch befasst sich mit Wohnen, Dichte und den Überschneidungen von öffentlichem und privatem Raum sowie konzentriert sich auf die Schaffung von Räumen, die Engagement und Komplexität statt Einfachheit und Uniformität fördern. Der Titel deutet auch auf einen gewissen Widerstand gegen die Verflachungstendenzen der zeitgenössischen Designkultur hin – ein Beharren darauf, dass Architektur Mehrdeutigkeit, Nuancen und Reichtum kultivieren sollte."

In der Tat verbinden die neuen Geschosswohnungsbauten in New York all das, was SO-IL in den Jahren zuvor an verschiedenen Projekten für Wohnungen, Museen oder Installationen ausgetestet haben. In Verbindung mit ihrer komplexen Haltung zu Architektur entwickeln Idenburg und Liu Gebäude, die in ihrer Gestaltung aus der Ferne im Stadtgefüge recht angepasst wirken, mit jedem Schritt näher jedoch umso interessanter und andersartiger werden, so wie "450 Warren": Nach außen gibt sich dieses Ensemble aus drei Gebäuden ruhig und klar strukturiert, mit großen Öffnungen in der Fassade für Fenster und Loggien. Das Spannende liegt neben der kleinteiligen Fassade aus verdrehtem, grauem Mauerwerk innerhalb der Struktur. Drei separate Gebäude bilden zusammen zwei Innenhöfe und wurden mit mäandrierenden Laubengängen aus Sichtbeton erschlossen und verbunden. Geschosshohe Seilnetze dienen als Absturzsicherung und schaffen eine eigene Welt innerhalb des Ensembles.

An einer anderen Stelle in New York wird gerade das Wohngebäude "Vanderbilt" fertiggestellt. Der Entwurf bietet eine Vielzahl von gemeinschaftlichen Außenbereichen, die auf unterschiedlichen Größen und Formen gemeinsame Aktivitäten fördern. Ein grüner Hinterhof erweitert das lokale Straßenbild, während ein zentraler Innenhof durch die Bewegung in der Umgebung belebt wird. Ein erhöhter öffentlicher Platz bietet ebenfalls einen sichtbaren Gemeinschaftsbereich, der Innen- und Außenbereiche miteinander verbindet. Die Wohneinheiten sind so konzipiert, dass die BewohnerInnen gleichzeitig an mehreren Umgebungen teilhaben können. Jede Wohnung hat sowohl Zugang zur belebten Straßenfront als auch zum ruhigeren Innenbereich des Geländes aber auch zu gemeinsamen Außenbereichen innerhalb des Gebäudes. Nicht nur die Wohnungen an sich sind durch Verschränkungen ineinander und über verschiedene Ebenen organisiert, auch die Innenhöfe, Balkone und Terrassen durchdringen das Gebäude regelrecht und werden Teil einer gemeinschaftlich nutzbaren Struktur.

450 Warren, Brooklyn, New York, USA, 2022

Tatsächlich wirken die Wohnhäuser wie kleine, in sich geschlossene Städte. Dies ist nach Idenburg auch einer der Unterschiede zum europäischen Wohnungbau: "In den USA ist das Wohnen eher mit dem Leben in einem Hotel vergleichbar, mit allen Annehmlichkeiten und einem Portier. Dies schafft eine 'Kultur' pro Gebäude – eine Marke, einen Stil, eine gemeinsame Unterhaltung. Oft ist der Hausmeister oder Pförtner des Gebäudes das Herzstück der Wohngemeinschaft. Außerdem ist, zumindest in New York, das Genossenschaftsmodell immer noch stark vertreten. Dadurch gleicht ein US-Gebäude eher einem Kreuzfahrtschiff, während in Europa das Wohngebäude eher Teil des gesamten Stadtgefüges ist. Vielleicht gibt es also typologisch gesehen mehr Vielfalt in Europa, aber organisatorisch gesehen gibt es in den USA mehr lebendige Mikrogemeinschaftsmodelle."

Falls SO-IL mit ihren Modellen zum Wohnungsbau erfolgreich sein sollten, wird das einen nachhaltigen Effekt auf die Art des Bauens und dementsprechend auch auf die Art des Wohnens in den USA haben. Idenburg ist fest davon überzeugt, dass sich in unserer Haltung zum Bauen Grundsätzliches verändern muss, damit die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden: "Wir müssen das Gespräch von der Effizienz auf die Lebensqualität verlagern. Der Wohnungsbau muss der Vielfalt des menschlichen Lebens Rechnung tragen – sowohl in Bezug darauf, wer diese Räume bewohnt, als auch in Bezug darauf, wie sie bewohnt werden. Das bedeutet, dass wir anpassungsfähige Rahmenbedingungen schaffen müssen, die sich weiterentwickeln und soziale und ökologische Überlegungen von Anfang an einbeziehen. Wir müssen Wohnungen auch als Infrastruktur für das bürgerliche Leben betrachten, mit Schwellen, Höfen und gemeinsamen Räumen, die zum Austausch einladen. Am wichtigsten ist vielleicht, dass sich ArchitektInnen für ein Design einsetzen, das der langfristigen Gesundheit von Gemeinschaften Vorrang vor kurzfristigen Gewinnen einräumt. Das bedeutet, dass wir die 30-jährigen Entwicklungszyklen durchbrechen müssen, die die ständige Stadterneuerung vorantreiben, bis die Ressourcen des Planeten vollständig erschöpft sind. Wenn wir das dem Markt überlassen, wird sich wenig ändern. Die Wahl der Verbraucher wird daran nichts ändern, weil die Dominanz dieses einen, marktgesteuerten Typs das kollektive Wissen über architektonische Alternativen auslöscht."

In Depth
Urban Domesticities Today

Herausgegeben von Florian Idenburg, Jing Liu
Mit Fotografien von Iwan Baan, Naho Kubota
Mit Beiträgen von Ted Baab, Florian Idenburg, Karilyn Johanesen, Nicolas Kemper, Jing Liu
Design: Geoff Han
Verlag: Lars Müller Publishers
2025
17,0 x 2,5 x 24,0 cm
Sprache: Englisch
ISBN: 978-3-03778-757-1
45 Euro

450 Warren, Brooklyn, New York, USA, 2022