Was kann es banaleres geben, als eine Ausstellung von Stühlen? Denkt man - und besucht dann doch das Hamburger Museum für Gestaltung, MKG. Um es vorweg zu nehmen: Langweilig sind die Stühle nicht, die hier präsentiert werden. Schon mit dem Titel „Ideen sitzen." unterstreicht das Team der Macherinnen und Macher um Rüdiger Joppien, dem langjährigen Leiter der Sammlungen Jugendstil und Moderne, dass es um mehr als eine reine Produktschau geht, dass Hintergründe, die sich schwer ausstellen, aber mitunter leicht nachvollziehen lassen, hier gerne mitbedacht werden dürfen. Die ausgestellten Sitzmöbel - Sessel, Zweisitzer und sogar Sofas finden sich darunter - kann man als Basismaterial begreifen für eine große Erkundungsreise in die Geschichte der Einrichtungsgegenstände, die auch eine Ideen- und Kulturgeschichte der vergangenen fünfzig Jahre ist.
Am Stuhl, dem banalen und vermeintlich bis in die letzte Verschraubung oder Verzapfung untersuchten Gegenstand, kann diese Reise ihren Ausgangspunkt nehmen. Wer allerdings lediglich ins Museum kommt nur um ein paar Stühle anzusehen, wird zwar glücklich, aber ahnungslos wieder gehen. Dabei sollte man sich für die Ausstellung durchaus Zeit nehmen. Schon im Museumsfoyer gilt es einige Sitzmöbel aktueller Produktion auszuprobieren und zu bewerten. Dabei liefern sich der eher konventionelle Plastikstuhl „Louis Ghost" von Philippe Starck und „Mezzardo", der schwingende Hocker mit rotem Traktorensitz von Achille und Piero Castiglioni, in der Publikumsgunst ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Noch bevor die Ausstellung beginnt, gibt es vom flachen Kunststoffhocker „Elephant" von Sori Yanagi oder vom bequemen „Alcove Sofa" von Ronan & Erwan Bouroullec aus einen äußerst anregenden Film zu sehen, der spielerisch, informativ und unterhaltsam erste Verbindungsstränge zieht und dabei an Beweggründe, Intentionen und Experimente von Designern und Architekten erinnert, die die ausgestellten Stühle entworfen haben.
Rund hundert Exponate sind es, etwa ein Drittel der etwas mehr als dreihundert Stücke umfassenden Stuhlsammlung des MKG, die hier erstmals seit langem im Zusammenhang erlebt, betrachtet und - von den Ausnahmen im Foyer abgesehen - leider nicht ausprobiert werden können. In jüngster Vergangenheit - auch das ein Anlass für die Hamburger Schau - konnte die Sammlung um zwanzig hochkarätige Stücke ergänzt werden. In Zeiten, in denen ein paar Kilometer entfernt das traditionsreiche und gelegentlich auch dem Design zugeneigte Altonaer Museum in einem kaltschnäuzigen Willkürakt des schwarz-grünen Hamburger Senats kurzerhand abgewickelt werden soll, ein kaum glaublicher Vorgang. Doch die Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen ermöglichte, was schon seit Jahren nicht mehr möglich war: den Ankauf einer Reihe bedeutender Designobjekte der Gegenwart. Weil die Hamburger Museen bereits seit einigen Jahren wirtschaften müssen, als seien sie Unternehmen und nicht mehr Teil der öffentlichen Verwaltung oder gar - was sie in Wirklichkeit sind - eine Bildungsinstitution, muss sich die Ausstellung zwangsläufig zu einer gewissen Lückenhaftigkeit bekennen.
Dabei hatte alles verheißungsvoll angefangen. Zu Beginn der achtziger Jahre war das Museum nicht nur Ort der Sammlung und Präsentation, sondern gleichsam Protagonist einer neuen Strömung, des Neuen Deutschen Designs, dem es 1982 mit der Ausstellung „Möbel perdu" half, neue Wege zu ebnen. „Das Konzept wurde von jungen Designern aus Hamburg entwickelt und spontan vom Museum aufgegriffen", schrieb die Designerin und Galeristin Claudia Schneider-Esleben damals im Katalog. Der Reichtum des damaligen kulturellen Aufbruchs in Hamburg gründete sich auf rebellischen Handwerkern, neugierigen Designern und begeisterungsfähigen Museumsleuten und einem Publikum, das Gestaltung im öffentlichen und privaten Kontext neu thematisierte. Kurz: Es gab Macher, Vermittler und Käufer, die sich für Ideen vom Sitzen begeisterten, die zunächst riskant und ungewöhnlich erschienen. Schon seit Anbeginn sammelte das Museum zeitgenössische Entwürfe. So geht etwa das „Pariser Zimmer" der Jugendstilsammlung auf die Weltausstellung von 1900 zurück, die Museumsgründer Justus Brinkmann zum Aufbau seiner Sammlung nutzte.
Die gegenwärtige Ausstellung ist eine Art Probelauf. Nachdem die Bestände der umfangreichen Designsammlung des Hauses in den letzten Jahren nur noch sporadisch zu sehen waren, ist für März 2011 eine neue Präsentation geplant. Die aktuelle Schau ist begrenzt auf eine Auswahl bedeutender Sitzobjekte seit 1960 und versucht zumindest schemenhaft „Ideen vom Sitzen" aufscheinen zu lassen. Die historische Verortung wird zum Teil durch Exponate aus der Mode- und Plakatsammlung vorgenommen. Ein Schwerpunkt der ausgestellten Stücke liegt auf den achtziger Jahren, die Stühle dieser Zeit sind im größten Raum der Schau nach ihren Materialien geordnet.
Ein kleiner Taschenbuchkatalog dokumentiert die ausgestellten Objekte mit Angaben zu Material, Herkunft und Informationen zu den Umständen der Erwerbung, sowie spezifischen Internetlesetipps. Rüdiger Joppien leitet das Büchlein mit einem Text ein, der sie kulturhistorisch einordnet.
Was die Ausstellung selbst leider nicht zeigt, sind vertiefende Hintergründe. Zum Beispiel ließe sich an Hand des Panton Chair, von dem das Museum dank einer Schenkung ein frühes Exemplar aus Polyurethan-Hartschaum besitzt, zeigen wie veränderte Materialien den Stuhl stabiler und preiswerter werden ließen, ihm zugleich aber eine andere, weniger glänzende Oberfläche bescherten. Design ist eben nicht nur eine Angelegenheit der äußeren Form, sondern auch anderer variabler Größen wie etwa der Frage von Unikat und Serienfertigung. Schön ist, dass sich eine Sitzbank aus dem Hamburger Hochbahnwagen DT 2 in der Sammlung des Museums findet, schade aber, dass dieser Entwurf - der gesamte Zug wurde an der HfG Ulm von einem Team entworfen - lediglich Hans Gugelot zugeordnet ist. Die Designer Herbert Lindinger und Helmut Müller-Kühn sowie die für die Farbgebung zuständigen Gestalter Otl Aicher und Peter Croy werden nicht genannt. Bedauerlich vielleicht auch, dass die Ausstellung Konstantin Grcic, Stefan Diez und Werner Aisslinger als jüngste deutsche Vertreter zeigt, aber jüngere - wie etwa Eva Marguerre oder André Klauser - ausblendet.
Höhepunkte sind sicher die skulpturalen Neuerwerbungen „Petit Garden" von Tord Boontje und „Veryround" von Louise Campbell, Stühle der Campana-Brüder, sowie der „Bone Chair" von Joris Laarman, bei dessen Entstehung der Designer nicht nur mit Droog Design, sondern auch mit der New Yorker Galerie Friedmanbenda und mit Opel zusammenarbeitete. Dabei nutzte er eine Software des Physikers und Biomechanikers Claus Mattheck, der das Wachstum von Bäumen untersuchte und daraus Folgerungen für die Konstruktion zum Beispiel von Automobilbauteilen zog.
Als Joppien 1987 aus Köln ans Museum für Kunst und Gewerbe nach Hamburg kam, hatte dort sein Kollege Nils Jockel mit „Design dasein" eine umfassende Bestandsaufnahme für verschiedene Aspekte des Designs veranstaltet.
„Hamburg war ein bisschen besser aufgestellt, was den Erwerbungsetat anging", erinnert sich Joppien. „Damals kaufte ich für das Museum den „Rood blauwe stoel" von Gerrit Rietveld sowie den Zickzack-Stuhl", es folgten Sitzmöbel von Le Corbusier und Henry van der Velde. „Joppien, der sammelt nur Stühle, hieß es bald im Museum. Damit hatte ich einen gewissen Ruf weg."
Längst hat sich Joppien einen Ruf vor allem als Verfechter des Kunsthandwerks erarbeitet. Dass das Museum noch immer die jährliche Kunsthandwerkermesse im Dezember veranstaltet, ist vor allem sein Verdienst. Im kommenden Jahr wird Joppien in Ruhestand gehen. Zwar soll es einen Nachfolger geben, doch ob das Kunsthandwerk in Zukunft im MKG noch eine gewichtige Rolle spielen darf, ist eher fraglich. Dabei zeigt auch und gerade die Ausstellung „Ideen sitzen", dass sich Design und seine zeitgenössische Weiterentwicklung aus vielen Quellen speist. Mal rücken künstlerische Ansätze in den Vordergrund, mal eher handwerkliche. Dann wieder spielen technologisch-materialästhetische Überlegungen eine zentrale Rolle. Aus Gründen einer vermeintlichen Effizienz und einer vordergründigen Sparsamkeit eine Wurzel des Designs auszureißen, davor kann in Hamburg nur gewarnt werden.
Ideen sitzen - 50 Jahre Stuhldesign - 1960-2010
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Vom 29. September bis zum 13. März 2011
www.mkg-hamburg.de
Katalog zur Ausstellung mit Beiträgen von Sabine Schulze und Rüdiger Joppien, 240 Seiten, 5 Euro
www.mkg-hamburg.de