Den Überblick herzustellen ist auch der Versuch, eine schwierige Zeit des Übergangs abzuschliessen und den Blick in die Zukunft zu öffnen. Diesen Eindruck erhält, wer die aktuelle Ausstellung „Hannes Wettstein, 1958-2008" an der ETH Zürich und das zugehörige Werkverzeichnis studiert – je nach Perspektive entsteht jedoch ein unterschiedliches Bild.
Die Frage nach dem „Wie weiter" konnte das Studio noch zusammen mit Hannes Wettstein angehen, der an Krebs erkrankte. Er machte den Architekten Stephan Hürlemann, der seit 2003 die Geschäfte leitete, 2007 zum Partner und Mitinhaber seiner Firma, die er zu jenem Zeitpunkt in Hannes Wettstein AG umbenannte. Wettstein prägte die Arbeit seines Teams, gab den Weg vor und entschied in letzter Instanz, wie etwas sein musste. Er war präsent, hört man, bis ins kleinste Detail. Dass er nicht immer da sein konnte, das mussten die Mitarbeiter bereits während seiner Erkrankung lernen. Alle hielten zusammen, um die schwierige Zeit vor und nach seinem Tod zu überstehen. Heute teilen sich Stephan Hürlemann, Britta Herold und Simon Husslein die Geschäftsleitung, einige Kollegen haben das Studio verlassen und sich selbstständig gemacht. Achtzehn Personen arbeiten nun im Studio, das allein am diesjährigen Salone del Mobile mit acht Möbelprojekten am Start war.
Die Aufgabe, mit dem Erbe von Hannes Wettstein umzugehen, lastete mehrfach auf dem Team. Nicht im ideellen Sinn – in der täglichen Arbeit und im Namen des Studios führen sie sein Werk weiter. Sondern ganz praktisch gesehen: Was geschieht mit dem Teil der Arbeit, der durch Hannes Wettsteins Tod sein Ende gefunden hat? Wie den Nachlass organisieren, neben dem Tagesgeschäft und ohne Unterstützung durch eine öffentliche Sammlung oder private Stiftung? Wohin mit all den Materialien, die ein derart reiches Lebenswerk hinterlässt? Wie die richtige Mischung zwischen Interesse an Person und Einordnung des Werks treffen? Und über allem steht die dringende Frage: Wie ein Werk sichern, dessen Rezeption nun einsetzt?
Ein gutes Vierteljahrhundert Schaffenszeit blieb Hannes Wettstein vor seinem zu frühen Tod im Sommer 2008. Wettstein, der kein geordnetes Archiv hinterliess, orientierte sich lieber am Neuen als rückblickend seine Arbeiten zu ordnen. 347 recherchierbare Projekte fanden nun Eingang ins Werkverzeichnis – bestimmt waren es mehr. Diese nötige Vorarbeit musste geleistet werden, um der Anfrage zu entsprechen, eine Ausstellung über sein Werk auszurichten. Sie kam von hoher Stelle: vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. Wettstein, der gelernte Hochbauzeichner, der sich als Autodidakt gestalterisch weitergebildet hatte, dozierte zwischen 1991 bis 1996 an der Architekturabteilung der ETH Zürich im Fach „Technischer Innenausbau", was er sogleich und nachhaltig in „Gestaltung und Konstruktion im Innenausbau" umformulierte. Er stiess die Auseinandersetzung mit dem Innenraum an, und in der Erinnerung des damaligen Studenten Stephan Hürlemann galt er als „bunter Hund, chaotisch, genervt, faszinierend. Einer, der Uhren und Stühle macht und auch noch Architekt ist, das hat uns fasziniert."
Damit widmet das Institut zum ersten Mal eine Ausstellung in der Haupthalle der ETH nicht dem Hochbau, sondern dem Design. Wie inszenieren? Simon Husslein setzt auf die grosse Geste. Ein weisser Teppichboden zieht sich durch die Halle und biegt sich am Ende bis zur zweiten Empore hoch. Auf diesem weichen Podest präsentiert er auf verglasten, hell beleuchteten Sockeln und eingestreuten Screens eine Auswahl von 44 Projekten – die Highlights: Von der Leuchte „Snodo" für Belux, mit welcher der 22 Jahre alte Designer gleich einen grossen Erfolg erzielte, über das tausendfach kopierte Beleuchtungssystem „Metro", vom Stuhl „Juliette" über die Fahrräder für Est, die Stifte für Lamy, die Uhren für Ventura und Nomos bis hin zur Arbeit am Grand Hyatt in Berlin. Auf der vertikalen Wand rieseln die Projektionen von Hunderten von vergrösserten Skizzen herunter, in denen der unablässig Zeichnende seine Ideen entwickelt und überprüft hatte. In dieser gleissenden, einem strengen Raster folgenden Inszenierung wird übermässig Strenge vermittelt, und nicht jedes Objekt profitiert von der Konservierung in seinem gläsernen Behälter. Diesem Eindruck tritt das interessanteste Exponat der Ausstellung entgegen: es ist der Arbeitstisch von Hannes Wettstein, auf dem die vielen Geräte, Maschinen, Fundstücke, Kitschobjekte versammelt sind, die den passionierten Sammler zu seinen Entwürfen inspirierten.
Diesen Eindruck, einem inspirierten und inspirierenden Designer über die Schulter zu blicken, gewinnt man auch im Werkverzeichnis. Es erscheint begleitend zur Ausstellung im Verlag Lars Müller. „Seeking Archetypes" versammelt die Resultate, die Hannes Wettstein auf seiner unablässigen Suche nach dem Kern der Dinge angetrieben hat. Der Fülle entspricht das buchgestalterische Konzept, das den Einstieg in das Werk mit Bildmaterial legt, das über 130 Seiten gekonnt verschränkt wird. Es sind Abbildungen, die aus der Zeit der Entwürfe stammen, was eine unangestrengte Kontextualisierung leistet: Produktaufnahmen, die die Bildsprache der späten Achtziger bis in die Nullerjahre sprechen, Skizzen, Konstruktionszeichnungen, Porträts, redaktionelle Seiten. Dazwischen gestreut verlieren die Zitate von Wettstein, die seine Haltung als Designer auf den Punkt bringen, ihre apodiktische Wirkung. Und man erinnert sich an seine leise, warme Stimme, an seine sich in weite Zusammenhänge vortastenden Argumentationen. Viele, zum Teil sehr persönliche Erinnerungen einer Reihe von Menschen, die Hannes Wettstein beruflich und privat, sehr nah oder weiter entfernt gekannt haben, zeichnen das Bild eines zutiefst leidenschaftlichen Menschen. Über allem festigt sich der Eindruck, dass er unablässig über die Dinge nachgedacht hat und dieses Wissen geteilt hat. Wie gross dieses Wissen war, vermittelt sich im Werkverzeichnis, das zu durchstöbern sich lohnt und viele Überraschungen bereit hält.
Die Offenheit, die im Werk angelegt ist, vermittelt sich im Buch besser als in der Ausstellung. Eine Offenheit, weil sie nicht auf einen Stil, sondern auf eine Haltung des Designers zurückführt, die, wie er betonte, an der Essenz der Dinge interessiert war. In welche Richtung sich die Rezeption seines Werks bewegt, wird sich zeigen. Der Anfang ist gemacht. Für die Mitarbeitenden des Studio Hannes Wettstein ist eines gewiss: „Die Suche geht weiter", wie auf der letzten Seite des Buches geschrieben steht. Und dafür sind sie gut gerüstet.
Hannes Wettstein, 1958-2008
Von 7. Oktober bis 3. November 2011
ETH Zürich
www.studiohanneswettstein.com/de/hanneswettsteinlebt/ausstellung
Publikation zur Ausstellung:
Hannes Wettstein Seeking Archetypes
Herausgegeben vom Studio Hannes Wettstein
Hardcover, 292 Seiten, deutsch/englisch/italienisch
Lars Müller, Baden, 2011
58,00 Euro
www.lars-mueller-publishers.com