top

Lob des Schattens

Auf einem schmalrechteckigen Grundstück im japanischen Shizuoka haben Seiichi Yamada Architect & Associates ein Wohnhaus realisiert. Gelesen werden kann es gleichermaßen als prototypische Einheit von Material, Konstruktion und Raum wie als feine, zeitgenössische Interpretation lokaler Bautraditionen.
von David Kasparek | 31.08.2022

Mit dem bundesdeutsch sozialisierten Blick eines Westeuropäers erstaunt die japanische Stadt der Gegenwart immer wieder aufs Neue. Das kleinteilige Gefüge aus Gassen, Straßen und Häusern ist vielfach merklich enger bebaut als hiesige Städte, dabei aber deutlich weniger dicht bewohnt. So auch weite Teile der knapp 700.000 EinwohnerInnen zählende Großstadt Shizuoka in der gleichnamigen Präfektur. Erst 2003 durch den Zusammenschluss zweier Gemeinden entstanden, liegt Shizuoka heute malerisch an der Südostküste Honshūs, der Hauptinsel Japans. Nordöstlich der historischen Burganlage der Stadt befindet sich das Viertel Nishichiyoda-cho, wo der Architekt Yamada Seiichi auf einem bis dato als Parkplatz genutzten Eckgrundstück ein kleines Wohnhaus realisiert hat. Eng an eng stehen die Häuser hier, oft ist es kein Meter, der sie voneinander trennt, die Gassen sind so schmal, dass gerade einmal ein Auto hindurch passt. Dennoch wohnen in Shizuoka nur 432 EinwohnerInnen je Quadratkilometer. Zum Vergleich: Im mit knapp 630.000 EinwohnerInnen nur unwesentlich kleineren Stuttgart sind es 3.021 pro Quadratkilometer. Der silbern glänzende Satteldachbau orientiert sich in seinen Proportionen am direkten Nachbarn und ist mit dieser vermeintlichen Dreigeschossigkeit eines der höheren Häuser des Viertels, das immer noch durch viele ein- und zweistöckige Gebäude geprägt ist.

Quadratraster durch und durch

Rund 1,70 Meter springt der auf flachem Betonsockel aufgehende Baukörper mit seiner Langseite von der Straße zurück, hinter kleinen Büschen führt ein schmaler Weg parallel am Haus entlang. Vor dem Metall der Fassade und einer einen Stellplatz verdeckenden Betonmauer markiert die Grundstücksecke eine Art Minigarten mit Baum, kaum weiterer Bepflanzung und einem Wasserbecken – deutlich gestaltete und inszenierte Kultur im Stile klassischer japanischer Gärten. Zu den Nachbargrundstücken schließlich hält der Bau einen Abstand von gut einem Meter. Sind die zahlreichen Öffnungsflügel geschlossen, verrät der metallisch schimmernde Baukörper nur an den Erdgeschossecken, die wie ein augenzwinkerndes Zitat an Mies van der Rohe wirken, und den Giebelflächen seinen hölzernen Kern. Die Konstruktion nämlich ist rein aus Hinoki-Hölzern gefügt, einer in Japan forstwirtschaftlich geläufigen Scheinzypresse, die hierzulande fast nur in botanischen Gärten anzutreffen ist. Alle verwendeten Balken sind auf denselben Querschnitt von 90 Millimetern im Quadrat geschnitten. Der Grundriss schreibt dieses Ordnungsprinzip mit Quadraten von 90 Zentimetern Kantenlänge fort. So entsteht ein 5,40 und 10,80 Meter messender Wohnraum, der mittig von einer auf vier der Quadratfeldern gewendelten Treppe in zwei Kompartimente geteilt wird. Rechts der Mittelachse betritt man das Haus von seiner Langseite, die räumliche Wirksamkeit des eingestellten Treppenaufgangs wird ebenso unmittelbar deutlich, wie das ihm vorgestellte Garderobenmöbel bereits das gesamte Konstruktionsprinzip zeigt. Traditionell handwerklich gefügt bilden die Holzbalken ein orthogonales Tragwerk, in das hier Schuhregal und Garderobe eingeräumt sind. Rechter Hand befindet sich ein niedriges Studiolo, sowie das Bad, dessen freistehende Toilette und Badewanne durch einen Vorhang als weitere räumliche Schichtung vor Blicken geschützt werden können.

Raumwunder zwischen Grenzen und Schwellen

Jenseits der Treppe befindet sich der zweigeschossige Wohnraum, dessen Decke spektakulär vom wiederkehrenden Motiv des hölzernen Raumtragwerkwerks gebildet wird. Um die Spannweite des Raums überbrücken zu können, sind die relative schlanken Holzbalken als konstruktiv wirksames Element räumlich gestapelt. Durch diese Fügung wird die reine konstruktive Notwendigkeit gleichzeitig zu einem Motiv, das unmittelbar an traditionelle lokale Baukunst anschließt. Die Dunkelheit der Räume lässt zudem einmal mehr an Tanizaki Jun’ichirō’s langen Essay "Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik" denken. Von spektakulärer Einfachheit ist der Raum mit seinem Betonboden, Licht fällt nur spärlich durch die breiten Fugen der Holzdecke. Stück für Stück lässt sich die Fläche jedoch mit der Außenwelt verbinden. Drei nach außen aufschlagende Öffnungsflügel auf der Schmalseite und neun weitere auf der der Straße zugewandten Langseite fungieren einer Membran gleich als Verbindung zwischen Innen und Außen. Dazu kommen weitere, jeweils achsensymmetrisch angeordnete Öffnungen auf der Grundstücksinnenseite und auf Höhe des zweiten Stockwerks. Sind sie einmal geöffnet, fällt das Licht ins Haus, verbinden sich Innen und Außen je nach Wunsch der BewohnerInnen. So wirft die Sonne durch das vorgelagerte Wasserbecken feine Reflexionen an die Holzdecke, wenn etwa die drei Öffnungen an der Gartenseite offenstehen. Eine Holzleiter, gefügt aus den gleichen 90x90-Millimeter-Hölzern, steht zum öffnen und putzen der oberen Fenster bereit.

Über die Treppe erreicht man das Galeriegeschoss mit Küche und Essplatz. Hier entfaltet die Holzkonstruktion ihre ganze Pracht, umfängt sie doch als Decke, die sich mal als Küchenzeile, mal als Regal oder Tisch nach unten auswächst, raumwirksam den gesamten Bereich. Die Küchenzeile nimmt erneut das Fassadenmaterial auf und lässt so eine subtile Verbindung zwischen Innen und Außen aufscheinen. Auch hier gibt es an der Schmalseite des Hauses zwei Fensteröffnungen, auch hier schimmert das Licht bei geschlossenen Luken von oben sanft durch die Fugen der Holzdecke. Unter dem Dach findet sich schließlich ein lichtdurchfluteter Raum, dessen Fenster an den Schmalseiten den Blick nach draußen ziehen. Ähnlich einer geteilten Ebene verspringt der Boden entlang der quer durch das Haus verlaufenden Mittelachse, sodass die eine Hälfte als vollwertiger Raum genutzt werden kann, die andere als Schlafbereich oder für Kinder in der Größe noch vollkommen ausreichend ist. Durch die Höhe des Hauses ergibt sich – noch –ein schöner Blick über die Dächer des Viertels zu den angrenzenden Bergketten.

Auch hier überrascht den europäischen Blick einmal mehr die in Japan gängige Offenheit der innenräumlichen Konfiguration. Wo das Haus selbst durch die Vielzahl metallbeplankter Türen vor den Fenstern nahezu komplett geschlossen werden kann, findet sich im Innern keine einzige schließbare Raumgrenze. Stattdessen gibt es Schwellen als optische Signale der fein austarierten räumlichen Unterscheidung. Das Zurschaustellen der Konstruktion ist überdies bei weitem mehr als bloße Zierde. Das Haus macht deutlich, wie Raum, Material und Konstruktion sich zu einer tatsächlich architektonischen Einheit verbinden können, wenn das Eine gleichermaßen erst durch das Andere entsteht und wie sich die einzelnen Teile sinnfällig wechselseitig ergänzen. So gelingt es Seiichi Yamada Architect & Associates hier ortstypische Traditionen in zeitgemäßer Adaption fortzuschrieben.

西千代田町の家(House in Nishichiyoda-cho)|山田誠一建築設計事務所 【新建築住宅特集】