Abstossender Reliquienzauber, typisch deutsches Geraune, so lautete die Hauptkritik. Anders die Schlingensief-Fans: Warum sollte eine so originäre Künstlerfigur nicht auch postum geehrt werden. Eine bemerkenswerte Pointe war, dass Anhänger des anarchisch anmutenden Schweizer Pavillons von Thomas Hirschhorn meist Schlingensiefs pathetische „Egomania" nicht so toll fanden – und umgekehrt. Jedenfalls liess kaum einer der Kommentatoren die beiden Pavillons aus. Das ist verständlich. Denn bei der Biennale des Jahres 2011 gibt es kaum Pavillons, die wenigstens ein Minimum an Drama und diskursivem Potential ausstrahlen. Jene von Hirschhorn und Schlingensief gehören dazu.
Schlingensief wie Hirschhorn repräsentieren beide auf ihre Weise einen besonders charismatischen Künstlertypus. Bei allen Unterschieden in der Umsetzung verbindet sie aber noch etwas: Beide stürzen sich mit Inbrunst auf die politische und ideologische Schadstoffproduktion der Gegenwart. Und beide verfolgen in ihrem Werk immer wieder utopische Ansätze – Schlingensief ein Operndorf samt Schule in Burkina Faso, Hirschhorn Mitmachprojekte wie ein Kunstmuseum auf Zeit in einer „schwierigen" Pariser Banlieue.
Nun gibt es allerdings einen gravierenden Unterschied zwischen beiden: Christoph Schlingensief ist 2010 verstorben. Das ist von Belang, weil beide Künstler mit ihrem Schaffen und ihrer Person eine Projektionsfläche bieten für das spiessige Sehnsuchtsbild vom genialisch-manischen Künstler als dem großen Anderen. Dieser Künstlertypus muss Züge eines Enfant terrible haben, damit es so richtig schön knistert. Und deswegen ist seine physische Präsenz als Künstlerdarsteller wichtig. Zum Vergleich: Beuys ohne Beuys ist etwas anderes als Beuys mit Beuys, das sieht man fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod recht klar.
Sicher, Hirschhorn hat viele Werke realisiert, in denen er nicht physisch präsent sein muss. Sein Schweizer Pavillon „Crystal of Resistance" gehört dazu. Doch seine sozial-utopischen Projekte waren jeweils stark von seiner Präsenz vor Ort getragen. Und was Schlingensief ohne Schlingensief ist, das können wir nun in seinem posthumen Biennale-Pavillon mit dem Titel „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" sehen. Er verrät mindestens soviel über den heutigen Kunstbetrieb wie über Christoph Schlingensief.
Beginnen wir mit dem Anfang der Geschichte, an deren Ende der Goldene Löwe für den deutschen Schlingensief-Pavillon steht. Als Christoph Schlingensief im Mai 2010 zum deutschen Pavillon-Künstler für die Biennale berufen wurde, traten Kritiker auf den Plan, darunter Stars des Betriebs wie der Maler Gerhard Richter. Ihre Kritik hatte durchaus Berechtigung: Der Film-, Theater- und Opernregisseur Schlingensief war ein Quereinsteiger im Kunstbetrieb; in einem Kunstbetrieb, der mit den performativen, flüchtigen Genres noch immer Mühe hat, obwohl sie fest zur Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts gehören.
Erstmals richtig beachtet wurde Schlingensief von der Kunstwelt ausgerechnet mit seinem markanten Auftritt an der Biennale von Venedig 2003, wo er seine „Church of Fear" beim Biennaleeingang als Reaktion auf den Irakkrieg ausrief. Eingeladen hatte ihn der Kurator Hans Ulrich Obrist ihm Rahmen seines Projekts „Utopia Station". Zur selben Zeit nahm ihn die einflussreiche Galerie Hauser und Wirth (Zürich/London) in ihr Programm auf. Iwan Wirth und Hans Ulrich Obrist sind seit langem befreundet. Es folgten Museumsausstellungen, etwa im Zürcher Migros Museum oder im Haus der Kunst München.
Das Interesse des Kunstbetriebs, der immer auf der Suche nach frischem Blut und potentiellen Sensationen ist, war verständlich. Denn Schlingensiefs Schaffen war von seltener Radikalität. Seine Aktionen waren so polemisch wie politisch (man denke an den Big-Brother-Container in Wien oder die Integration von Neonazis in ein Zürcher Hamlet-Theaterprojekt). Sie liessen die geläufige Kunst im öffentlichen Raum auf einen Schlag alt aussehen. Seine experimentellen Filme gingen frontal auf deutsche Mythen und Gespenster los („100 Jahre Adolf Hitler – Die letzten Stunden im Führerbunker") und verschafften ihm gehörige Resonanz.
Die Pavillon-Probleme begannen mit Schlingensiefs Krebstod im vergangenen August. Die Vorbereitung der Schau war schon weit gediehen. Den Entscheid der Kuratorin Susanne Gaensheimer, zusammen mit Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz und weiteren seiner Vertrauten das Projekt zu einer Art Gedenkausstellung unter Einbezug der schon fertigen Konzepte Schlingensiefs weiter zu entwickeln, war daher legitim. Denn Gaensheimer machte klar, dass sie und ihre Mitstreiter sich nicht einfach in kleine Schlingensief-Imitatoren verwandeln und à la Salieri Mozarts Requiem zu Ende komponieren wollten (Schlingensief zelebriert in dem Pavillon unter anderem sein Sterben).
Bei aller Klugheit richtet dieser Entscheid das Augenmerk aber auch auf einen heiklen Punkt: Schlingensief hätte dem Pavillon ein viel schrilleres Finish gegeben. So hegte er, wie Susanne Gaensheimer erzählt, Pläne, die Fassade zu einer riesigen afrikanischen Maske zu machen, die zugleich eine Art Wirtshausschild gewesen wäre. Besonders vielversprechend war die geplante afrikanische Wellnesszone, wo man unter anderem ein schwarzes Tauchbad hätte nehmen können. Stattdessen gibt es nun eine museale Dokumentation des Operndorf-Projekts.
Das Resultat weckt gemischte Gefühle. Die Kuratorin Susanne Gaensheimer hat vor allem jene Elemente nach Venedig gebracht, die schon Schlingensief selber vorgesehen hatte. Zentral ist dabei das Mittelstück des wie ein Triptychon aufgebauten Pavillons: Es handelt sich um ein Eins-zu-eins-Modell der Kirche in Oberhausen, in der Schlingensief jahrelang Ministrant war und das er für eine Theateraufführung von „Kirche der Angst" in Recklinghausen als Bühnenbild verwendet hatte.
Wer katholische Nachkriegskirchen kennt, entwickelt im zentralen Teil des Pavillons sofort Heimatgefühle, wenn auch eher unangenehme. Der unfrohe Mief modernistischer Sakralarchitektur schlägt sensible Besucher rasch in die Flucht. Dabei wollte Schlingensief die katholische Vorstellung vom Altarraum als Ort eines erlösenden Opfergeschehens persiflieren. Neben dem Altar steht das Krankenbett. Hat nichts genützt, wäre eine Interpretation. Während auf Leinwänden Super-8-Filme aus Schlingensiefs behüteter Kindheit laufen, begreift man, wie widerlich ihm die nebulösen katholischen Erlösungsphantasien geworden waren. Nachlesen kann man das in seinem Krebs-Tagebuch von 2009.
Doch wenn man auch nur eine der vollsaftigen Theateraufführungen von Schlingensief gesehen hat, merkt man sofort, dass diesem Pavillon der entscheidende Dreh fehlt, ja fehlen muss. Schlingensiefs Kunst lebte vom Performativen, von der Übertreibung, vom Ätzenden und Krawalligen. Sie lebte auch von seiner Präsenz, von seinem ungeheuren Mut, sich zu exponieren. Derlei kann man nicht erben.
Das heisst nicht, dass „Schlingensief ohne Schlingensief" nichts taugte. Es lohnt sich, seine restaurierten Filme im „Kino" des Pavillons anzuschauen. Sie tragen die Handschrift einer präzisen Arbeit mit Schauspielern, mit Räumen, mit Licht, mit Schnitt. Sie machen klar, dass Christoph Schlingensief eine genaue Vorstellung hatte vom Kunstraum als einem Raum, in dem das „deutsche Kettensägenmassaker" (so der Titel seines wohl berühmtesten Films, der das deutsche Wiedervereinigungspathos durch den Kakao zieht) auch im übertragenen Sinne stattfinden musste – als Angriff auf hohle Überlieferungen.
Schlingensief gehörte zu jenen Künstlern, die bei allen Zweifeln an die utopische Energie der Kunst glaubten, an Kunst als Mission und an den Künstler als Prediger. Die durchaus ironisch gebrochene Hybris des egomanischen Künstlers steigerte Christoph Schlingensiefs Attraktivität. Dies gerade auch für den Kunstbetrieb, der nichts so sehr vergöttert wie ein überspanntes Ego. Schlingensief, der Behinderte oder Afrikaner in seine Projekte einbezog, blieb bis zuletzt der Regisseur, der die Fäden in der Hand behält. Regisseure produzieren aber nicht in erster Linie Objekte; sie sind vor allem Choreographen der verfliessenden Zeit. Wenn ihre Arbeit gelungen ist, soll man, muss man an sie erinnern. Ihre Kulissen taugen dazu am allerwenigsten.
Den Goldenen Löwen für den deutschen Pavillon kann man positiv interpretieren als Signal an heutige Künstler: Mehr Mut zum Risiko! Mehr Energie! Weniger Kalkül! Der Löwe spricht von der herrschenden Sehnsucht nach authentischen, unzähmbaren, schrägen Künstlerfiguren, die es in einem durchkommerzialisierten Betrieb immer seltener gibt, weil dieser sie sofort vampirisiert. Daher auch die Liebe des Kunstbetriebs zu den Quereinsteigern. Doch auch das Unbehagen am deutschen Pavillon bleibt. Denn einen vom Markt dominierten Kunstbetrieb interessiert an Schlingensief natürlich gerade nicht der schöpferische Prozess, sondern die verkäufliche Reliquie, wie sie der deutsche Pavillon nun unweigerlich zelebriert.
In unserer Reihe zur 54. Kunstbiennale von Venedig sind bisher erschienen:
> „Jenseits von Angst und Afrika" von Thomas Wagner
> „Taubenverteilen im Park" von Thomas Wagner
> „Wir verlassen den amerikanischen Sektor..." von Joerg Bader und Thomas Wagner
> „Mitgefangen, mitgehangen" von Annette Tietenberg
> „Amerikanische Turnstunde" von Thomas Wagner
> „Widerstand - erstarrt oder verflüssigt?" von Barbara Basting