Blickfang gesucht
Der Soziologe und Kommunikationsforscher Stefan Hirschauer hat 1999 in einem äußerst erhellenden Aufsatz das menschliche Verhalten beim Aufzugfahren analysiert. Dort konstatiert er, dass Aufzugspassagiere, insbesondere in der Gegenwart anderer, versuchen, ihre Anwesenheit auf ein Minimum, das bloße Vorhandensein, zu reduzieren. Es bestehe eine Art gesellschaftlicher Vertrag, sich in der Kabine gegenseitig zu ignorieren.
Die zentrale Frage des Aufzugfahrerenden ist für Hirschauer: Wohin mit dem Blick? "Nichts braucht soviel Platz im Aufzug wie Blicke", stellt er in seinem Aufsatz fest und beschreibt mit welchen Körperhaltungen und Platzierungen wir versuchen, dem Blickkontakt mit den fremden Mitpassagieren so gut wie möglich zu entkommen. "Blickdisziplin" nennt Hirschauer das. Weil der Mensch aber nur sehr bedingt in einen Stand-by-Modus gehen kann und sein Blick auf irgendetwas ruhen muss, wird, wie Hirschauer feststellt, die Stockwerksanzeige zu seinem Ausweg. Sie bildet zumeist das einzige Objekt in der Kabine, dessen anhaltende Betrachtung völlig der Konvention entspricht - auch wenn die Information eigentlich in Sekundenbruchteilen erfasst ist.
Nun hat sich seitdem Stefan Hirschauer seinen Aufsatz verfasst hat, eine kleine Kommunikationsrevolution ereignet: Das Smartphone ist zum allgegenwärtigen Begleiter geworden und löst, wie man meinen könnte, das Problem des Fahrstuhlpassagiers. Nun kann er mit dem Blick auf sein Telefon einen Kokon der Privatheit erzeugen und zugleich ein gesellschaftlich allseits akzeptiertes Verhalten an den Tag legen. Doch so einfach ist die Sache aus mehrerlei Gründen nicht. Der offensichtlichste: Zumeist fehlt im Fahrstuhl der Empfang. Das Überprüfen von E-Mail-Eingängen, Nachrichten, Social-Media-Kanäle ist häufig nicht möglich. Entweder simuliert also der Passagier im Aufzug Kommunikation oder er muss offline arbeiten – etwa eine Nachricht schreiben, um sie dann nach Verlassen des Aufzugs zu versenden. Außerdem dauert eine Fahrstuhlfahrt in der Regel weniger als eine Minute – wenig Zeit also, um das Telefon aus der Tasche zu angeln, einen Vorgang zu beginnen und abzuschließen. Zudem ist die Wegzeit nicht sicher bestimmbar, weil sie von den Mitfahrerenden und damit der Anzahl der Zwischenstopps abhängt.
Auch nach dem Aufkommen des Smartphones besteht also im Fahrstuhl weiterhin Bedarf an einem "Blickfang", der mehr und Interessanteres zu vermelden hat, als der Stockwerksanzeiger. In Anbetracht dieser Tatsache ist es geradezu frappierend, dass der Aufzug nicht seit Jahrzehnten medial bespielt wird. Offenbar hielt man diesen Ort in der allgemeinen Wahrnehmung lange dafür ungeeignet. Tatsächlich haben ja auch die gelegentlich vorhandenen Musikeinspielungen zu dem Schmähwort "Fahrstuhlmusik" geführt. Auch wenn dieses Unterhaltungsangebot keine ungeteilte Zustimmung findet: An kaum einem anderen Ort – das lässt Hirschauers Untersuchung klar ablesen – sehnt sich der Mensch so sehr nach einem Bild oder Bildschirm, auf den er den Blick richten kann. Das gilt übrigens in fast gleicherweise für denjenigen, der vor der Fahrstuhltür wartet.
Inzwischen hat der Schweizer Aufzugshersteller Schindler eine Technologie entwickelt, die es möglich macht, in und vor der Kabine maßgeschneiderte und jederzeit anpassbare Medienprogramme abzuspielen. Die "Ahead DoorShow" etwa erlaubt es, mit Hilfe eines über dem Türsturz angebrachten Beamers die Außentüren des Fahrstuhls in eine Leinwand zu verwandeln. Im Innern der Kabine lassen sich Inhalte über einen großen Wandbildschirm, "Ahead AdScreen" genannt, zeigen. Bei der eleganten Variante "Ahead SmartMirror" verbirgt sich der Monitor in einem Wandspiegel. Das Programm für diese Wiedergabegeräte kann der jeweilige Betreiber mit Hilfe eines modernen Content Management Systems gestalten, dass ihm erlaubt, Texte, Bilder und Videos unkompliziert einzuspielen und zu verändern.
Die Möglichkeiten, die solche Systeme bieten, reichen von der gezielten Informationsvermittlung und Besucherleitung bis hin zur Werbung. Immer gilt: Die Aufmerksamkeit der Fahrstuhlpassagiere ist so gut wie sicher. Wie effizient solche Informationsangebote an der Fahrstuhlaußentür oder im Fahrstuhl sind, weiß Jan Steeger, Leiter Kommunikation bei Schindler, zu berichten. Dass zum Beispiel ein großes Kölner Hotel den Umsatz seines Restaurants von einem Monat auf den anderen um 30 Prozent steigern konnte – nur allein dadurch, dass das gastronomische Angebot mit der "DoorShow" beworben wurde. Doch die neue Technologie reizt auch dazu, sie spielerisch einzusetzen, wie Steeger an einem anderen Beispiel verdeutlicht. Der Getränkehersteller Jägermeister habe während der Spielemesse Gamescom in Köln die Außentüren eines Hotelaufzugs mit Produktwerbung bespielen lassen. "Wenn die Türen dann aufgingen, entdeckten die Wartenden in der Kabine eine Jägermeister-Bar, an der Shots ausgeschenkt wurden." Schindler hat übrigens auch jenseits von Werbung viele Ideen für sein System: So soll ein Bildschirm vor der Aufzugstür als schwarzes Brett dienen und dann nicht nur auf Wartungsintervalle hinweisen, sondern auch auf das Nachbarschaftsfest ankündigen und die Notrufnummer des Klempners vermerken.
Ganz neue Möglichkeiten wird zukünftig die Verknüpfung mit intelligenten Aufzugssteuerungen schaffen, die das Passieraufkommen und auch die bevorzugt nachgefragte Fahrtziele – etwa in einem Hochhaus – zu jedem Zeitpunkt antizipieren können. Dann werden in der Kabine gezielt Informationen angezeigt werden können, die für die Mehrzahl der Passagiere zu diesem Zeitpunkt von Interesse sind. Dass kann der Ablaufplan des gerade stattfinden Kongresses oder das Mittagsangebot im Restaurant um die Ecke sein – und im Notfall der schnellste Weg aus dem Gebäude. Durch die Verknüpfung zweier bereits existierender Technologien wird es zukünftig möglich sein, passende Inhalte für eine sehr genau vorhersagbare Zielgruppe anzubieten.
Wie werden die Aufzugspassagiere diese neuen Angebote aufnehmen? Stefan Hirschauer ist bei seiner Untersuchung zu dem Schluss gelangt, dass positive "Störung" – etwa durch Kinder oder Hunde – geradezu erwünscht ist, weil sie Anlass zur Kommunikation auch unter Fremden bietet. So entsteht die Chance, aus dem auszubrechen, was Hirschauer als "sich gegenseitig als nicht anwesend zu behandeln" bezeichnet. Und auch wer es vorzieht, im Aufzug für sich zu bleiben, wird ein spannenderes Programm als den Stockwerksanzeiger gewiss zu schätzen wissen.